Kurzkommentar --- 22. Mai 2005

Günter Rohrmoser

Erinnerung statt Identität

„Heilig Gedächtnis auch, wachend zu bleiben bei Nacht.“ Was also kulminiert und die Nacht überdauert mit dem Tag, der ihr vorausging, nennt Hölderlin „heilig Gedächtnis“. Es ist die Zeit der Erinnerung. Wer könnte es vermeiden, sich dabei an den Schlußsatz der Phänomenologie des Geistes von Hegel zu erinnern, wo der Gang des Geistes durch die Weltgeschichte, in dem er zu seinem eigenen Bewußtsein kommt, Gang der Erinnerung genannt wird. Geist ist Vollzug der Erinnerung. Geist ist erinnernder Geist. Wenn wir geschichtlich zurückblicken, ist Erinnerung die Bestimmung des Geistes. Denn diese Bestimmung ist so alt wie die abendländische Geschichte und Kultur selbst. Schon in Hesiods „Werke und Tage“ wendet sich ein Bauer, den sein Bruder um sein Erbteil gebracht hat, an die Götter. Die Musen, die Göttinnen der Erinnerung treten hervor und verkünden die Weltordnung für gültig, obwohl durch das Unrecht ein Bruch eingetreten ist.

Und der entscheidende Höhepunkt der Erinnerungstheorie ist natürlich Platons Anamnesis, aber die großartigste „Gedächtnistheorie“ ist die Memoria von Augustin. „Kehr in dich ein, denn in dir selbst ist die Wahrheit in und über der Seele zugleich.“ Deshalb wäre die gegenwärtige Welle des rekapitulierenden Erinnerns eigentlich zu begrüßen.

Wenn man sich aber die Veranstaltungen aus Anlass des 60. Gedenktages an das Ende des Krieges am 8. Mai 1945 zu Gemüte geführt hat, dann kommt man zu erstaunlichen Feststellungen. Das eine ist, dass offenbar die Erklärung, dass der 8. Mai ein Tag der Befreiung gewesen ist, nun in die offizielle Sprachregelung aufgenommen wurde. Das hat die Folge, dass, wenn noch einer von Zweifeln heimgesucht werden sollte, ob man das so sagen könne und nicht vielleicht doch etwas differenzierter betrachten müsse, er sich sehr bald dem Faschismusverdacht ausgesetzt sehen wird. Das ist so erstaunlich, weil ich gerade die letzten Tage nochmal in die Tagebücher von Konrad Adenauer geschaut habe und Konrad Adenauer hat gesagt, dass der 8. Mai der dunkelste Tag der deutschen Geschichte ist. Wir vergessen, dass wir jahrzehntelang nach dem II. Weltkrieg auch dieser Meinung waren. Das war keine spezielle Meinung von Adenauer, sondern wurde ja, wenn wir uns recht erinnern, weitgehend geteilt. Aber man kann auch ohne Prophet zu sein voraussagen, dass diese Erklärung, dass es ein Tag der Befreiung gewesen sei, zur Folge haben wird, dass wir aus dem II. Weltkrieg als Sieger hervorgegangen sind.

Das hat ja vor einem Jahr der Bundeskanzler in der Normandie bereits erzählt, dass die Alliierten nicht gegen Deutschland, sondern für Deutschland gekämpft haben und die sich daran anschließende naheliegende Folge ist, dass er am Roten Platz, nicht weit entfernt von Putin, an der Siegesfeier teilnimmt, mit der das russische Volk den großen Sieg im vaterländischen Krieg gegen Deutschland feierte.

Das ist eine erstaunliche Veränderung und es lohnt ja auch, ...


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