Kurzkommentar --- 22. September 2005

Günter Rohrmoser

Die blockierte Republik

Was vorhersehbar war und was wir auch seit Wochen vorausgesagt haben, ist nunmehr eingetroffen: das bestehende Parteiensystem hat sich in der selbst aufgestellten Falle verfangen. Betrachtet man die den Ausgang dieser Wahl begleitenden Kommentare, die manchmal mehr einem verdummendem Getöse vergleichbar waren als einer Aufklärung der Wähler und Zuschauer, dann stellt sich heraus, dass sich seit rund 10 Jahren im Prinzip an der partei-politischen Grundsituation in der Bundesrepublik Deutschland nichts geändert hat. Es stehen sich, nur um geringe Prozentpunkte schwankend, zwei in sich festgefügte Blöcke gegenüber.

Es handelt sich einmal um die 51 Prozent, die durchaus für eine, wenn auch notwendige, tiefer eingreifende Reform sind. Denen stehen 49 Prozent ebenso konstant gegenüber, die, wenn überhaupt, nur ein bißchen, aber am liebsten gar keine Reformen wollen. Bei dem gegenwärtigen Stand hat in der Bundesrepublik Deutschland der Linksblock eine geringfügige Mehrheit. Angesichts dieses unveränderten Grundtatbestandes zeigt sich ein halt- und ein ratloses Wahlvolk, unfähig eine politische Entscheidung zu treffen. Kanzler Schröder hatte die Neuwahlen durchgesetzt mit der Begründung, er brauche für das, was er seine Reformpolitik nennt eine Legitimation. Hier ist das Urteil eindeutig, das Volk hat ihm diese neue Legitimation verweigert. Es würde eigentlich dem demokratischen Anstand entsprechen, wenn dieser Kanzler aus diesem, ich wiederhole, völlig eindeutigen Votum des Volkes seine Konsequenzen ziehen und zurücktreten würde.

Auf der anderen Seite hat aber auch das gleiche Volk dem Ziel der CDU/CSU-Kanzler-Kandidatin Frau Merkel eine ebenso klare Absage erteilt und der CDU/CSU und der FDP nicht die nötige Mehrheit zur Bildung einer die Reformpolitik ermöglichenden Koalition gegeben. Aus diesem klaren Ergebnis ist eigentlich nur ein Schluss zu ziehen, nach einem erneuten Wahlkampf die Wahl zu wiederholen. Dies wird auch geschehen, nachdem man krampfhaft und die allgemeine Verwirrung vermehrend Wochen, vielleicht Monate mit dem Versuch vertan hat, eine Not- oder Übergangslösung zustandezubringen. Es ist wahrscheinlich und eine absehbare Folge aus diesem Wahlergebnis, dass wir frühestens im nächsten Frühjahr, aber spätestens in 2 Jahren eine neue Wahl erwarten müssen.

Da aber keine der beiden großen Volksparteien, weder die SPD noch die CDU im Stande waren, an den unverrückbaren Gegebenheiten, die es seit 10 Jahren gibt, etwas zu ändern und eine Mehrheit zu erzielen, die eine in sich stimmige kohärente Politik ermöglicht, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht abzusehen, ob auch bei einer Wiederholung der Wahlen ein anderes Ergebnis zustande käme. Die Bürger haben die Unfähigkeit dieser beiden Volksparteien durchaus zur Kenntnis genommen und sind daher, was man als Absage an die großen Volksparteien verstehen kann, ausgewichen auf die kleineren Parteien.

Die CDU hat eines der schlechtesten Ergebnisse ihrer Geschichte erreicht, was genauso für die SPD zutrifft. Als Sieger aus dieser Wahl sind nach den Stimmen gerechnet die FDP und als größter Wahlsieger die neue PDS hervorgegangen. D.h., dass das Zutrauen in die großen Volksparteien schwindet und sich deren Anspruch, Volksparteien zu sein, immer mehr auflöst und damit künftig Wahloptionen immer stärker von momentanen Stimmungen, künstlich erzeugter Wahlpropaganda oder wechselnden Befindlichkeitslagen beeinflusst sind. Das kann man, wenn man optimistisch ist, auch eine Europäisierung nennen. Diese Republik tritt nunmehr auch politisch aus dem heraus, was man rückschauend ihre doch außerordentliche, über Jahrzehnte dauernde Stabilität nennen kann. Wir gehen einem neuen Zeitalter der Instabilität und vor allen Dingen einer progressiv fortschreitenden Veränderung des Parteiensystems entgegen, die in absehbarer Zeit das Parteiensystem zwingt, sich den tiefgreifenden Wandlungsprozessen in der Gesellschaft anzupassen und ihnen zu entsprechen.

Natürlich gibt es aber auch näherliegende Ursachen, die vor allen Dingen für das Abschneiden der CDU/CSU verantwortlich sind. Man muss sich gerade zum gegenwärtigen Zeitpunkt daran erinnern, dass die CDU ihren Anspruch Volkspartei zu sein, damit begründet hat, dass sie sowohl einen christlichen, einen sozialen, einen liberalen als auch konservativen Charakter hat. Durch eine fast bewundernswerte Fähigkeit, irgendwie allen diesen Positionen und Strömungen ein Angebot zu machen, hat sich die CDU beim Aufbau der Bundesrepublik als eine der erfolgreichsten Parteien in der Demokratiegeschichte überhaupt erwiesen. Von diesem breitgefächerten Angebot ist dieser Partei unter der Führung von Frau Merkel, die ihren eigenen Kurs einen Modernisierungs- bzw. Liberalisierungskurs genannt hat, nur ein ausgelaugtes Skelett übrig geblieben. In diesem Wahlkampf stellte sich die CDU als eine reine wirtschafts- und steuerpolitische Partei dar, die nichts anderes anzubieten hatte, als sozialtechnische Maßnahmen (siehe unseren Kurzkommentar „Ist Wachstum alles?“, September 2005).

Gegenüber diesem grundlegenden Schrumpfungsprozess sind die Fehler, die man Frau Merkel gegenwärtig zurecht nachsagt, relativ belanglos. Die CDU hat erneut ihre Kampagnenunfähigkeit bestätigt. Als der Bundeskanzler in einem beispiellosen Wahlkampf begann, zu seiner wahren Natur zurückzufinden und in einer fast bewundernswerten, aber auch widerwärtigen Art mit seiner unvergleichbaren Demagogie und seinem ungehemmten Willen auch solche Schläge auszuteilen, die eines Bundeskanzlers nun wirklich nicht würdig sind, hatte die CDU dem nichts entgegenzusetzen. Der CDU fehlt nach wie vor die Kampagnenfähigkeit.

Und der dritte Grund betrifft eigentlich beide Parteien: Die entscheidenden Überlebensfragen der Nation sind in diesem Wahlkampf überhaupt nicht thematisiert worden. Manchmal am Rande, nennen die Parteien diese Überlebensfragen und beweisen damit, dass sie ihnen wohl bekannt sind. Da ist erstens natürlich die Globalisierung. Der Wahlkampf wäre eine wichtige Gelegenheit gewesen, den Deutschen klar zu machen, dass Globalisierung, was immer es sonst noch bedeuten mag, auch bedeutet, dass letztendlich die Arbeiter in China und in Indien mehr über die Existenz deutscher Arbeitsplätze und ihrer Entlohnung entscheiden, als jede noch so subtil und raffiniert konzipierte Wirtschaftspolitik im eigenen Lande. Die Arbeits- und Wirtschaftspolitik Chinas, das als das letzte große kommunistische Land gilt, folgt nämlich den rigidesten Prinzipien des Kapitalismus. Die Arbeiter arbeiten dort für das, was wir Hungerlöhne nennen und arbeiten viel länger und, was für die Konkurrenz auf dem Weltmarkt von besonderer Bedeutung ist, sie stellen gleich gute und qualitativ gleich wertvolle Produkte und Waren her.

Die zweite große Überlebensfrage, die in diesem Wahlkampf überhaupt keine Rolle gespielt hat, ist das, was man den Prozess der biologischen Selbstdezimierung des deutschen Volkes nennen kann. Der Schwund und der Rückgang der Geburtenrate wird bereits in wenigen Jahrzehnten unser Land vor Herausforderungen stellen, vor denen sich keine der Antworten, die heute noch gegeben werden, behaupten kann. Wir könnten dann mit einem solchen Absinken unseres Lebensstandards konfrontiert werden, von dem wir uns heute noch keine Vorstellung machen können.

Drittens geht es um das katastrophale Ausmaß der Verschuldung dieses Staates. Es war dann und wann einmal die Rede von den berühmten 40 Milliarden Euro, die zur Deckung des Haushaltes der Bundesrepublik fehlen, es war aber nicht die Rede, was uns die Experten immer wieder versichern, dass wenn man alle Optionen und Obligationen einschließlich der Renten für Beamte zusammenrechnet, der Staat von Verpflichtungen in Höhe von 6-7 Billionen ausgehen muss. Dieser Staat ist eigentlich bankrott und er hat auch die Zukunftschancen nicht nur der Kinder, der Enkel sondern auch der Ururenkel dabei mitverspielt, oder ist im Begriffe es zu tun. Von all diesem war so gut wie nicht die Rede, sondern man stritt sich wochenlang darüber, was die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2 Prozent bedeuten könnte. Wie sich überhaupt das zum Teil sehr detailliert vorgelegte Programm der CDU auf Maßnahmen bezog, die sie ergreifen würde, wenn sie an die Regierung käme. Man kann diesen Maßnahmen die ihnen zugesprochene Wirkung glauben, aber man kann es auch lassen.

Die SPD bzw. Herr Schröder hat über das, was er bei einer möglichen Verlängerung seiner Regierungszeit tun würde, überhaupt nichts gesagt, sondern er hat auf den überwältigenden Erfolg seiner Regierungszeit Bezug genommen und im übrigen in seiner berühmten Wahlrede vor seiner eigenen Partei gesagt, dass die CDU-Politik den Sozialstaat zerstört, dass sie den sozialen Frieden gefährdet und damit das Land in ein Land der sozialen Kälte und der skrupellosen unmenschlichen Rücksichtslosigkeit verwandeln würde. Das ist alles starker Tobak gewesen, auf den die Kanzlerkandidatin keine Antwort gegeben hat.

Wenn man aber nach den tieferliegenden Motiven forschen würde, was denn die Bürger bewogen hat, in einem so dramatisch kurzen Zeitraum mehr als 10 % sich der SPD wieder zuzuwenden und sich wahrscheinlich mit 10 bis 15 % von der CDU abzuwenden, dann hat das nichts mit den Fehlern der CDU-Kandidaten zu tun, sondern vielmehr damit, dass Kanzler Schröder in der Lage war, einen emotionalisierenden Wahlkampf zu führen und noch einmal in seiner ganzen Pracht und Blüte den sozialen Mythos zu beschwören, der das ansprach, was die überwältigende Mehrheit der Deutschen auch will, nämlich die innere Zusammengehörigkeit und das Vertrauen auf das Bestehen einer solidarischen Gesellschaft. Dieser emotionalisierenden Kraft, die von der Beschwörung des sozialen Mythos ausging, hatte die CDU überhaupt nichts entgegenzusetzen.

Wenn wir diese Frage in der geschichtlichen Perspektive sehen, dann müssen wir rückschauend feststellen, dass nur zwei große Mythen in der modernen Geschichte, vor allen Dingen in Deutschland, diese Kraft, die Massen zu mobilisieren und zusammenzuführen, entwickeln konnten. Das waren der soziale Mythos und der nationale. Die CDU hat, auch darauf haben wir wiederholt hingewiesen, das Nationale bei sich wie einen bedrohlichen Flächenbrand ausgetreten. Sie hat sich damit jeder Chance beraubt, dem sozialen Mythos etwas Vergleichbares und die Menschen Faszinierendes entgegenzusetzen. Es bleibt ihr dann nur das rationale Kalkül, das auf die Zukunft bezogen vielleicht einen Verheißungsgehalt hat, aber das man auf seine Tragfähigkeit in keiner Weise überprüfen kann, am wenigsten der einzelne Wähler.

Nur weil sie diesen Raum in völliger Verkennung der Situation und der absehbaren inneren Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland freigegeben hat, steht nun neben der SPD eine neue PDS, die ihren Anteil von Abgeordneten in diesen Wahlen von 2 auf über 50 Abgeordnete vermehren konnte und das als eine Partei, die es vor 4 Monaten so noch nicht gegeben hat.

Nun werden viele die Frage stellen, welche Folgen wird das für die Chancen einer möglichen Regierungsbildung haben. Kanzler Schröder, anstatt demütig die Entscheidung des Volkes, ihm die geforderte Legitimation zu verweigern, anzuerkennen, trat nach den Wahlen wie ein Triumphator auf und wurde von seinen Leuten frenetisch wie ein Mann gefeiert, der nicht 35 % sondern 65 % der Wahlstimmen auf sich vereinigen konnte. In der sich anschließenden Diskussion, der sogenannten Berliner Elefantenrunde, erlebten wir wiederum den wahren Schröder, der kategorisch erklärte, er sei Bundeskanzler und er werde es bleiben und meinte damit, dass er im Falle einer Abstimmung im Bundestag eindeutig die Kanzlermehrheit erringen kann. Diese trotzige und arrogant wirkende These ist durchaus berechtigt. Es brauchen bei der Abstimmung, die ja geheim ist, im Grunde genommen nur die entsprechende Zahl von PDS-Abgeordneten für Herrn Schröder zu stimmen, dann hat er die Mehrheit und dann bleibt er auch Bundeskanzler. Auf der anderen Seite scheint sich die CDU/CSU darum zu bemühen, von den Grünen wenigstens eine gewisse Zeit der Duldung zu erbitten, um die Zeit zur Bildung einer Koalition zu überbrücken. Damit zeichnet sich etwas ab, was uns auch schon häufig beschäftigt hat, nämlich, dass nach der ersten oder zweiten Wiederholung der Wahl wir durchaus ein Bündnis in Berlin vorfinden können, in der die GRÜNEN und die CDU/CSU in einer Koalition vereint sein werden. Es war schon überraschend, mit welch einer Schnelligkeit selbst der Bayerische Ministerpräsident sich mit dem ihm unangenehmen, aber doch wohl zwangsläufigen Gedanken vertraut gemacht hatte, dass man mit den GRÜNEN sprechen und gegebenenfalls, wenn man ausreichende Schnittmengen, wie man das so nennt, gefunden hätte, auch mit ihnen eine Koalition schließen würde.

Auf längere Perspektive hin gesehen, könnte also alles dahin führen, dass die Rot-Grüne-Koalition durch eine Schwarz-Grüne-Koalition noch angereichert, vielleicht durch andere Stimmen, die Zukunft der Bundesrepublik sein könnte. Dieses Ergebnis werden viele als absurd und paradox empfinden. Aber so absurd und paradox ist die deutsche Politik, so dass Minister Beckstein, als er aus Berlin nach München zurückkehrte, uns sagte, dass er aus einem Tollhaus käme.

Aber die erstaunliche Schnelligkeit, mit der sich und ausgerechnet die CSU mit dem Gedanken vertraut gemacht hat, zukünftig mit den GRÜNEN zusammen eine Koalition zu bilden, hat einen durchaus tieferen Hintergrund, der nicht mit den aktuellen Nöten zu verwechseln ist. Man liest mit großem Erstaunen in der Süddeutschen Zeitung in einem Artikel „Geliebter Feind“ vom 20. September 2005, Nr. 217, Seite 49, von dem der CSU-Landesgruppe angehörenden CSU-Abgeordneten Josef Göppel, der von dieser Perspektive so angetan war, dass er bereits am Wahlabend vor 20 Uhr ein dreiseitiges Fax an die Presse verschickte mit dem Titel: „Plädoyer für Schwarz-Gelb-Grün“. Darin wird aufgelistet, warum CSU und GRÜNE so gut zusammenpassen könnten: Subsidiarität, nachhaltige Finanzpolitik und gemeinsame konservative Grundwerte werden darin unter anderem aufgeführt. „Schwarz-Grün enthält die unerhörte Idee einer Versöhnung zwischen alten und neuem Konservativismus, die das ödipale Konfliktschema außer Kraft setzen könnte“, so zitiert der CSU-Abgeordnete einen Soziologen und identifiziert sich offenbar mit dessen Ausführungen.

Nun hat der Abgeordnete durchaus Recht, wenn er bei bestimmten Elementen der grünen Programme solche entdecken kann, die man durchaus als konservativ ansprechen kann und die er zu Recht auch so benennt, wenn er von Subsidiarität und nachhaltiger Finanzpolitik spricht. Bedauerlicherweise scheint aber der Abgeordnete den Wahlkampfreden seines Parteivorsitzenden nicht gelauscht zu haben. Man sollte ihn daran erinnern, dass Herr Stoiber vor den Wahlen auf diesen doch eigentlich von einem CSU-Abgeordneten als ungeheuerlich empfunden Vorschlag der GRÜNEN Bezug genommen hat, in dem die GRÜNEN die Forderung nach einer Ersetzung von fünf christlichen Feiertagen durch fünf islamische erhoben haben. Nun geht es nicht nur um die vehemente und tatkräftige Unterstützung der Islamisierung Deutschlands durch die GRÜNEN, die hier so augenfällig wird, sondern es dürfte doch dem Abgeordneten bekannt sein, dass zu den unveränderten Forderungen der GRÜNEN, die Transformation Deutschlands in eine multi-kulturelle Gesellschaft gehört, und dass sie offenbar glauben, die Gesellschaft modernisieren zu können, indem sie kräftig für die Gleichstellung von sog. Homo-Ehen mit denen in unserer Verfassung vorgesehen Ehen ausgesprochen haben. Dies alles kommt nicht nur einer Zerstörung der traditionellen geistig-kulturellen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft gleich, sondern es ist, wenn man in den GRÜNEN die anti-nationale Bewegung Deutschlands schlechthin sehen muss, auch eine Zerstörung der politischen Existenzgrundlagen des gesamten bürgerlichen Lagers. Und wenn dieser Abgeordnete ein solches Phänomen als den neuen Konservativismus anspricht, mit dem es nun gelte, den als alt unterstellten Konservativismus der CSU zu versöhnen, dann möchte man doch dem Minister Beckstein widersprechen und ihn darauf hinweisen, dass wenn er ein Tollhaus erleben wolle, er dann nicht nach Berlin fahren müsse, sondern das hätte er noch besser in seiner eigenen CSU erleben können.

Es gibt aber auch durchaus ernsthafte, aus sachkundigem, bedeutendem Munde stammende Erklärungen zu dem, was heute konservativ ist und warum dies nötig ist. Einer der führenden deutschen Historiker antwortete im SPIEGEL vom 12.9.2005 auf die Frage „Was ist konservativ?“ so:

„Die Fähigkeit, Gegenwart aus der Vergangenheit heraus zu gestalten und zu verändern. Nach 1945 haben bei uns immer nur Sozialdemokraten und allenfalls Liberale ein intellektuelles Milieu gehabt. Es wäre eine gute Sache, wenn Frau Merkel auf die Idee käme, intellektuellen Proviant an Bord zu holen. Denn eins ist klar, unter den Umständen, in denen unsere Wirtschaft zunehmend wegsackt, brauchen wir die Blaupausenleute, die Leute, die sagen, wie Deutschland überhaupt weiter leben soll. Wir brauchen vor allen Dingen Menschen, die zurückblicken und aus dem Rückblick die Zukunft mitbestimmen können. Unsere Produktivkraft ist der Geist, und hier scheint es wenig Interesse zu geben.“

Und er fährt an einer anderen Stelle fort und sagt: „Der entscheidende Punkt ist ja, dass der Nationalstaat als Filter dasteht, der es ermöglicht, im weltweiten Zusammenhang zu operieren, ohne die eigene Identität zu opfern. Ich meine damit, jeder Einzelne, aber auch jede Körperschaft von der Familie bis zum Staat, muss im Stande sein, die eigene Identität zu sichern und nach außen zu repräsentieren und dort auch wahrgenommen zu werden. Diese Identitätssicherung ist letzten Endes eine der wichtigsten Funktionen des Nationalstaates überhaupt. Man könnte wahrscheinlich sogar sagen, dass eine selbstbewusste Nation großzügiger im Umgang mit dem Anderen sein kann, toleranter gegenüber dem Fremden.“

Wenn man die Worte dieses bedeutenden Historikers Ernst nimmt, dann kann einem angesichts der geistigen Totalverwirrung des CSU-Abgeordneten nur Schrecken und Grausen erfassen. Er scheint die Zukunft seines, des bayerischen Konservativismus, der sich als einer der wichtigsten Stabilitäts- und Integrationsfaktoren bisher in unserer Republik erwiesen hat, mit seiner Zerstörung zu verwechseln.

Wir nehmen diese Entwicklungen mit einer gewissen Aufmerksamkeit und ohne Genugtuung zur Kenntnis. Denn das was jetzt in der Bundesrepublik eingetreten ist, mit den keineswegs inspirierenden Aussichten, die mit dieser Situation verbunden sind, ist das Ergebnis eines Prozesses, den wir seit 20 Jahren vorhergesehen und durch unsere kritischen analytischen Kommentare begleitet haben. Wir erwähnen das, um unseren Freunden einen hinreichenden Grund zu liefern, unsere weitere Tätigkeit mit dem Vertrauen zu begleiten, auf das wir angewiesen sind.

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