Kurzkommentar - 29. Februar 2008

Günter Rohrmoser
Eine deutsche Debatte
Der türkische Ministerpräsident besucht seine Landsleute *



Es passiert so Seltsames in Deutschland, dass man es nicht kommentieren, aber doch erwähnen sollte. Als ein 17jähriger deutscher Junge in der Türkei im Gefängnis saß, kam aus Deutschland eine gewisse Kritik an dem türkischen Verfahren. Die Türken haben sich das vehement verbeten und den Prozess dann ein halbes Jahr hinausgezögert, bis wirklich jeder Anschein beseitigt war, dass dieses Urteil aufgrund einer Einflussnahme aus einem anderen Land hervorgegangen sein könnte.

Dass wir aber innerhalb von zwei Tagen türkische Experten nach Deutschland holen, damit sie das deutsche Vorgehen bei der Untersuchung des Brandes von Ludwigshafen aus nächster Nähe beobachten, kontrollieren und sich selbst einen Einblick davon verschaffen können, ob bei uns alles rechtsstaatlich und ordentlich zugeht, das ist doch ein erstaunlicher Vorgang. D.h. sie schicken Experten, weil sie den Verdacht haben, der deutsche Staat könnte nicht rechtsstaatlich korrekt verfahren. Und die deutsche Regierung hält diesen Verdacht für so berechtigt, dass sie die Experten nach Deutschland einlud, um nicht gerade mitzuermitteln, aber doch zu beobachten und zu beurteilen, ob es korrekt zugeht.

Manchmal hat man den Eindruck, unsere lieben türkischen Freunde haben längst die Mehrheit in diesem Lande errungen, die brauchen eigentlich gar nicht mehr abzuwarten. Sie sind ja auf gutem Wege, denn 38 Prozent aller Heranwachsenden haben, wie man das jetzt nennt, einen Immigrantenhintergrund. Also im Jahre 2050 können wir sicher sein, dass sie dann mehr als 50 Prozent haben und dann laufen die Dinge eigentlich von selber.

Aber es sind doch noch einige Zweifel berechtigt, ob das der Fall sein wird, wenn man diesen Vorgang in Köln zur Kenntnis genommen hat. Ein Deutscher hat, indem er sich des Messerangriffs eines Marokkaners erwehrte, selbst zu einem Messer gegriffen und der Marokkaner ist an den Folgen der Notwehr, die dieser deutsche Junge ausgeübt hat, gestorben. Die Staatsanwaltschaft hat keine Ermittlungen eingeleitet, weil er aus Notwehr gehandelt hat, obwohl im Fernsehen die Ausländervertreter zunächst mit Pariser Verhältnissen gedroht haben, wenn es keine Gerechtigkeit gäbe, aber später haben sie wieder zurückgerudert. Das beweist, dass wir eine Situation haben, in der manche deutsche Jugendliche den Eindruck haben, nur noch heil davonzukommen, wenn sie sich selbst mit Messern oder anderen Gegenständen wehren können. Das scheint das letzte Mittel zu sein, um nicht halbtot oder erschlagen auf dem Platz zurückzubleiben. Und das Neueste ist, das hat sogar die FAZ berichtet, dass Deutsche, die sich von Ausländern – ob berechtigt oder nicht – bedroht fühlen, sich nicht mehr an den Staat, sondern an Skinheads wenden, weil sie der Meinung sind, dass der deutsche Staat sie nicht mehr schützt, und die letzte Truppe in diesem Lande, von denen sie noch Schutz erwarten können, seien die Skinheads.

Das sind geringfügige, aufs Ganze gesehen noch relativ bedeutungslose Vorgänge, aber sie könnten den Keim zu dem enthalten, was einmal als eine Art Bürgerkrieg offen ausbrechen kann. Die ersten Symptome sind da und wenn man genauer hinsieht, deutlich erkennbar, aber das wäre natürlich das Schlimmste, was Deutschland überhaupt noch passieren kann.

Aber wenn man aufgrund des Vorgangs in Ludwigshafen, den die türkische Presse zum Anlass genommen hat, eine hetzerische Propaganda gegen die Deutschen zu führen, selbst Herr Schäuble nannte sie hetzerisch, und wenn man dann in der Süddeutschen Zeitung liest, dass ehe wir uns alle gegenseitig liebhaben, müssten wir doch noch ganz andere Vorleistungen erbringen. Beispielsweise begabten Türken zu Studienstipendien verhelfen, damit sie ihr Begabungspotential in Deutschland auch ausschöpfen können. Was geht da manchen Eltern, die gerne ihren Sohn oder ihre Tochter studieren sehen würden und das nicht können, weil sie kein Stipendium bekommen, bei einem solchen Vorschlag wohl durch den Kopf? Darauf muss man aufmerksam machen, weil man schon sehen kann, was sich entwickelt, aber wir sollten nicht zu überrascht sein, wie unsere Politiker überrascht tun werden wenn das eintreten sollte.

Wir hatten ja auch die große Ehre, den türkischen Ministerpräsidenten in Deutschland begrüßen zu dürfen, den vorher der deutsche Innenminister schon in Istanbul aufgesucht hatte, und da hätte dieser den deutschen Innenminister behandelt wie einen Befehlsempfänger und hätte in einem solch schneidenden Ton mit ihm gesprochen, dass die Diplomaten, die Schäuble begleiteten, gar nicht wussten, in welche Ecke des Zimmers sie schauen sollten, als er in harschem Ton forderte, dass er kein zweites Solingen in Deutschland mehr wünsche, siehe SPIEGEL vom Montag, 11.2.08. Das wünschen wir ja alle nicht, also ein Wunsch, den wir mit dem türkischen Ministerpräsidenten teilen, aber die Möglichkeiten des deutschen Innenministers das zu verhindern sind ja begrenzt. So einfach kann er den Befehl aus Istanbul noch nicht exekutieren. In 50 Jahren könnte man sich vorstellen, dass Politiker aus Deutschland zum Befehlsempfang nach Istanbul eilen werden und der Kolonialherr seine türkisch-deutsche Kolonie besichtigt. Das kann man sich ja alles vorstellen, wenn man Phantasie hat. Aber ganz so weit sind wir ja noch nicht. Er hat z.B. gefordert, wir wollen türkische Gymnasien und türkische Universitäten. Dann gibt es da im deutschen Fernsehen eine Talkshow, in der fragt man doch tatsächlich, was hat er wohl damit gemeint? Der Satz ist doch klar. Er will türkische Gymnasien und türkische Universitäten haben. Und dann sitzt dort im TV auch ein eloquenter Türke und erklärt, er hat natürlich nur gemeint, dass die Türken auch die Muttersprache lernen sollen. Aber dafür braucht man keine türkischen Gymnasien und Universitäten, sondern da genügt es, dass an deutschen Gymnasien türkisch als wählbare Fremdsprache angeboten wird, dann kann jeder Türke in Deutschland der türkisch lernen will, das dort lernen.

Dazu schreibt die Süddeutsche Zeitung, das wäre doch eigentlich sehr vernünftig, denn deutsch-französische Gymnasien gäbe es ja in Deutschland schon und darum sollte es das auch für die Türken geben, die es dann leichter haben würden, sich hier in Deutschland wohl und zuhause zu fühlen. Aber bisher ist kein französischer Staatspräsident nach Deutschland gekommen und hat vor 16.000 Franzosen in französischer Sprache eine Rede gehalten und erklärt, dass Assimilation in Deutschland ein Verbrechen gegen die Menschheit sei, das ist der Unterschied. Wohlgemerkt, da muss man mal darüber nachdenken, was das heißt, dass Assimilation ein Verbrechen gegen die Menschheit sei. Erdogan interpretierte dies so, dass das eine Angleichung an Deutschland und die deutsche Kultur sei und wenn sie das täten, dann würden sich die Türken in Deutschland eines Verbrechens an der Menschheit schuldig machen. Assimilation, sagte er weiter, sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und Integration dagegen heiße Selbstbehauptung der religiösen und kulturellen Identität, so hat er es definiert, denn er interpretiert Assimilation als Anähnlichung, als Angleichung, als Anpassung. Und wenn die Anpassung bereits ausgeschlossen sein soll, kann es auch keine Integration geben, denn der Wille zur Integration ist ja identisch mit dem Willen, sich anzugleichen und anzupassen. Das ist kein Gegensatz. Integration ist eigentlich nur definierbar, wenn man sagt, bis zu welchem Grad und Zustand man die Assimilation begrenzen oder vorantreiben soll. Diese Diskussion kann man natürlich führen mit dem, der selbst eine brutale und rigide Assimilationspolitik gegen die Kurden in seinem eigenen Land betreibt, aber das ist dann natürlich reine Wortklauberei.

Das ist so eindeutig und so wichtig und in einer Offenheit formuliert, dass man sich wundert, dass es überhaupt Interpretationsschwierigkeiten gibt. Vielleicht denkt ja in diesem Lande noch einer darüber nach, was das eigentlich impliziert und bedeutet, denn es gibt weltweit keinen Fall, wo aus Ausgangsländern von Immigration der Staatspräsident gekommen ist, um wie Erdogan den hier wohnenden Türken das Wahlrecht in der Türkei zu versprechen. Das wirklich Aufregendste was er überhaupt in Deutschland gesagt hat, ist, dass er seinen Türken das Wahlrecht in der Türkei verspricht, womit diese nicht nur Teil der türkischen Kultur und Religion bleiben, zu deren standhafter und unbeugsamer Behauptung und Verteidigung er sie gegen die Versuchung von Assimilationsgelüsten aufgerufen hat, sondern sie werden ein Teil des Staates der Türkei, wenn sie in Deutschland an Wahlen in der Türkei teilnehmen. Da muss man sich natürlich fragen, ob der türkische Ministerpräsident nicht doch eine andere Vorstellung von Integration hat als die, die wir hier betreiben. Da muss es doch eine gewisse Differenz geben.

Es hat aber keinen Sinn, eine solche Frage zu stellen, denn die müsste ja politisch diskutiert werden und eine politische Diskussion, sei es vor oder außerhalb der Wahlen, zum Verhältnis der Deutschen zu den Türken ist nach dem Ausgang der Hessenwahlen nicht mehr möglich. Wer das tut, der ist der Fremdenfeindlichkeit verdächtig und Fremdenfeindlichkeit wird von den Türken konkret als Türkenfeindlichkeit, als Rassismus, Ressentiment bezeichnet und gar dem Antisemitismus gleichgesetzt. Die türkischen Zeitungen haben im Umfeld von Ludwigshafen geschrieben: Erst die Juden und nun die Türken. Und dazu sagt Herr Broder, so ähnlich benimmt sich ja die Bildzeitung auch. Nur die Bildzeitung würde es nicht wagen, ein anderes Volk insgesamt als potentielle Mörder und Schläger zu bezeichnen, das dürfen nur türkische Zeitungen. Das war die Antwort der Türkei auf einen ungeklärten Hausbrand. Niemand weiß bis heute, ob irgendein Deutscher an dieser Katastrophe beteiligt war, und wenn einer beteiligt war, in jedem Volk gibt es Verrückte und warum soll es nicht in Deutschland auch einen solchen Verrückten geben, der so was tut, das gibt es in jedem Land, aber die schreiben: Erst die Juden und dann die Türken.

Dann fragt man sich natürlich, was antwortet eigentlich die deutsche Politik darauf? Die Antwort der deutschen Bundeskanzlerin ist bekannt, sie versammelte 300 vorwiegend türkische Jugendliche mit dem türkischen Ministerpräsidenten, um das deutsch-türkische Verhältnis zu diskutieren. Zum Schluß erklärt unsere Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel, sie sei nicht nur die Bundeskanzlerin für die Deutschstämmigen, sondern auch für die Andersstämmigen. Für beide müsste sie sorgen, damit sie in diesem Lande ein gutes Leben führen könnten, denn es sei ein gemeinsames Land. Wäre dieser Vorgang in irgendeinem anderen Land der Welt so vorstellbar, dass in einem demokratisch verfassten Land ein gewählter Premierminister oder Kanzler sein eigenes Volk, das Subjekt der Verfassung, das ihn gewählt hat, gleichzusetzen wagt mit einer ethnischen Partikulargruppe neben anderen. Abschließend hat dann unsere verehrte hochgelobte und hochpopuläre Bundeskanzlerin zum Trost den türkischen Kindern erzählt, sie sei ja auch eine Art Immigrantin. Ein Land und ein Volk, das sich solch eine politische Klasse leistet, diesem Volk kann man nur gratulieren, denn sie haben was sie verdient haben. Übrigens muss man auch sagen, wenn wir einen Politiker in Deutschland hätten, der Ministerpräsident Erdogan das Wasser reichen könnte, dann ginge es uns besser. Er repräsentiert wirklich das, was man sich unter einem großen demokratischen Führer vorstellt. Großartig! An seiner Stelle hätte ich genau die gleiche Rede gehalten.

Aber damit nicht genug, denn wenn man die neuesten Kommentare liest, hat man den Eindruck, als sollten wir die Rede des türkischen Ministerpräsidenten so behandeln, als hätte Erdogan in der Köln-Arena am 10. Februar 2008 nicht das gesagt, was er gesagt hat, und wenn man nicht direkt leugnen kann, dass er es gesagt hat, dann müssen wir es aber anders verstehen als er es gemeint hat. Der deutsche Innenminister überbietet das alles noch und sagt jetzt, er hätte gegen Herrn Erdogan gar nichts einzuwenden, denn der sei voll in der Unterstützung dessen engagiert was er, Schäuble, unter Integration versteht. Er lobt ihn, denn er hätte doch sehr ausgleichend und hilfreich in Ludwigshafen gewirkt. Als es dort gefährlich wurde, hätte er seine Landsleute besänftigt, und dass er gesagt hätte, Assimilation sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das sei eigentlich auch ganz verständlich, denn Assimilation wollten wir ja gar nicht und insofern brauchten wir uns auch von diesem Verdikt des Ministerpräsidenten nicht betreffen lassen. Das ist so unglaublich, dass es einem den Atem verschlägt.

Am Schluss seiner Rede hat Ministerpräsident Erdogan noch gesagt: „Meine werten Brüder und Schwestern, wir sind in der Türkei in dem Maße glücklich und ruhig, wie Sie hier glücklich und ruhig sind. Ihre Probleme sind unsere Probleme. Seien Sie versichert, dass Ihre Angelegenheiten auch unsere Angelegenheiten sind. Wichtig ist, dass wir die Hoffnung nicht verlieren, dass wir niemals Abstriche an dem Geist der Solidarität zulassen, wir einheitlich sind, stark und vital sind. Es gibt kein Problem, das wir mit Gottes Hilfe nicht überwinden können, es wird kein solches Problem geben.“ (Zitiert aus DIE WELT vom 14. Februar 2008). Wenn diese Sätze einen Sinn haben, dann können wir eigentlich alles vergessen, was wir mit dem Begriff Integration, von Assimilation ganz zu schweigen, diskutieren. Aus der Sicht Erdogans sind die drei Millionen Türken in Deutschland ein Teil der Türkei und des türkischen Volkes sozusagen auf einer vorgeschobenen Position. Er sagt damit ganz eindeutig, dass es nicht nur um die Behauptung der kulturellen und der religiösen Identität geht, sondern er versteht sie auch politisch als ein Teil seines eigenen Landes. Wenn die Türken in Deutschland sich an den politischen Wahlen in der Türkei beteiligen müssen, dann ist das nicht die Kleintürkei in Deutschland wie Herr Huber, der CSU-Vorsitzende erklärte, sondern Teil der Großtürkei in Deutschland, das ist etwas anderes, aber so sieht es Ministerpräsident Erdogan. Aber er wird auch noch deutlicher: „Manche Gemeinschaften sind in der Lage, auch wenn sie nur aus einer Handvoll Menschen bestehen, basierend auf ihrem intensiv betriebenen Lobbyismus, die Politik eines jeden Landes, in dem sie sich befinden, zu beeinflussen.“ Und dann sagt er unter tosendem Applaus: „Sie können Druck ausüben, um Beschlüsse der Parlamente in den jeweiligen Ländern zu erwirken. Warum sollten wir nicht Lobbyismus betreiben, um unsere Interessen zu schützen.“ Nebenbei sagte Erdogan noch, sie sollten auch auf deutsche Schulen und Universitäten gehen und sollten sich die Voraussetzungen anschaffen, damit sie auch einflussreiche Positionen in Deutschland besetzen können und sich so organisieren, dass sie auf die Durchsetzung ihrer Interessen, die die Teilinteressen der Türkei sind, in Deutschland Einfluss nehmen und sie unterstützen können.

Man kann als sicher annehmen, dass wir in ganz kurzer Zeit erleben werden, dass diese Rede in Deutschland entweder nicht gehalten worden ist, oder sie wird sogar als eine große Unterstützung der Integrationskonzeption begrüßt werden. Interessanterweise wurde Herr Schäuble auch gefragt, wie er sich eigentlich erkläre, dass die Türken nicht die CDU wählen, denn die Türken hätten doch ein konservatives Weltbild, ein konservatives Familienverständnis und so fort. Und da antwortet Herr Schäuble, darum geht es ja gar nicht, es geht um die Integration der Türken in Deutschland und ob die die CDU wählen, das ist völlig gleichgültig. Aber warum wählen sie die CDU eigentlich nicht? Natürlich hat die überwältigende Mehrheit der Türken in Deutschland ein konservatives Weltbild und deshalb wählen sie nicht die CDU, weil die CDU keine konservative Partei ist und sie von einem konservativen Weltbild bei der CDU nichts entdecken können. Das Familienverständnis der CDU und das eines Türken unterscheiden sich wie der Mond von der Erde, so weit sind die voneinander entfernt. Wen sollten die also wählen? Dann könnten sie vielleicht die Partei wählen, von der sie sich die größten Fortschritte in der Durchsetzung ihrer Rechte und Interessen versprechen können, also die Grünen. Aber da gibt es ein großes Hindernis, weil die Grünen für homosexuelle Gemeinschaften sind, aber die werden in islamischen Ländern gesteinigt. Sie haben Schwierigkeiten, eine Partei zu finden, die sie wählen könnten und damit sind die armen Türken in der gleichen Lage wie die deutschen Konservativen, die haben auch keine Partei mehr, die sie wählen können.

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