Kurzkommentar - 20. September 2010

Albert Wieland
Wer ist das Volk *
Ist reden immer Silber



Bundesbankvizepräsident Thilo Sarrazin legte ein Buch vor, das in kürzester Zeit in der Bundesrepublik Deutschland die volle Aufmerksamkeit hatte und eine stürmische Debatte in der Öffentlichkeit auslöste. In einer Demokratie ein höchst gewöhnlicher Vorgang. Bei näherem Hinsehen stellt man fest, dass dieses Buch im Volk auf eine Zustimmung stößt, von der Parteien und Politiker nur träumen können. Feindselige Ablehnung kommt von den linksliberalen Meinungsmachern, assistiert von den von ihnen, wie es im Insider-Jargon heißt, nicht „kaputtgeschriebenen“ Politikern und den hohen politischen Beamten. Nur die Bildzeitung scheint aus dieser Front auszuscheren und kämpft für Meinungsfreiheit. Das ist sehr löblich, aber wohlgemerkt, Bild kämpft nur dafür, dass Sarrazin sagen darf, was er sagte. Dabei dürfte auch schlichten Gemütern durchaus einsichtig sein, dass durch die Diskreditierung dieser vorgelegten Lageanalyse die Forderung nach den notwendigen politischen Konsequenzen und deren Durchsetzung unterbunden werden soll. Eine bemerkenswerte Haltung der Meinungsmacher, vor allem wenn man bedenkt, dass es um den inneren Frieden und unsere geschichtlich gewachsene Identität in einem souveränen Staat geht. Da für das Wohlergehen von Zuwanderern in Deutschland wie in keinem Land der Welt gesorgt wird, kann „Verelendung“ nicht der wahre Grund für den linken und linksliberalen Betreuungseifer sein. Selbst wenn man den Protagonisten zugute hält, dass sie, durch den materialistischen Rationalismus der Aufklärung, Heimat, Glaube und Liebe beispielsweise wegen ihrer metaphysischen Wurzel nicht definieren und denken können, werden unabhängig vom Ausgang der Debatte viele Bürger über das Wort von Fürst Otto von Bismarck hinaus sogar zu der Überzeugung kommen, dass kein Vaterland der Welt von solchen Gesellen etwas zu erwarten hätte. Das ist aber nicht ein Erfolg von Gegenpropaganda, sondern das haben sie sich selbst zuzuschreiben, weil sie nicht nur in diesem Fall, sondern wie in vielen vorausgegangenen auch, die im Sozialismus hoch geschätzte Tugend der Solidarität zwar einzelnen und ausgewählten Gruppen angedeihen lassen, unserem Land aber verweigern.

Für die Bundesrepublik Deutschland höchst ungewöhnlich kommen die lautstark Entrüsteten selbst bei großzügiger Hinzurechnung der Gleichgültigen nur knapp über 20 Prozent von Anhängern ihrer Position. Trotzdem wurde Sarrazin schon behandelt, als ob die Mehrheit ihn ablehnen würde. Die Bundeskanzlerin drohte bereits vor der Veröffentlichung des Buches dem Autor unverhüllt mit beruflichen Konsequenzen. Die SPD war schnell bei der Hand mit der Ankündigung eines möglichen Parteiausschlusses. Parteichef Gabriel sieht an der Parteibasis eine breite Zustimmung zum Ausschluss von Sarrazin aus der SPD. Auf Befragen räumte er ein, dass seine Entscheidung, ein Parteiausschlussverfahren einzuleiten, auf e-mails beruhte, die bei ihm eingegangen seien. Im Gegensatz zu einer seriösen Mitgliederbefragung ist nicht überprüfbar, ob der Inhalt dieser e-mails die Meinung der Mehrheit der SPD-Mitglieder wiedergibt. Dass Gabriel mit seinem Vorpreschen eine solche vermeiden will, kann man verstehen, weil diese innerparteilichen Volksabstimmungen wie im Fall Clement und anderen nicht das Wunschergebnis erbracht haben. Wer kann verstehen, dass Sarrazin, der der SPD eine Woge von Zustimmung, sicher auch an den Wahlurnen, eingebracht hätte, ausgeschlossen werden soll, wenn das bei Andrea Ypsilanti, die der Partei durch ihre Koalitionsabsicht mit der LINKEN im hessischen Wahlkampf unabsehbaren Schaden zufügte, noch nicht einmal in Erwägung gezogen wurde? Vielleicht ist es der Öffentlichkeit nicht hinreichend bekannt, dass die Gründe und Überzeugungen, die Sarrazin zu seinen Ausführungen bewogen haben, legitime Inhalte sozialdemokratischer Politik sind, die u.a. Grund zu der Abspaltung der Sozialdemokraten von den Kommunisten waren, deshalb ist nicht nachvollziehbar wie sich die SPD-Führung im Fall Sarrazin entschieden hat. Kern dieser Position ist, verkürzt dargestellt, der in der aufklärerischen Philosophie von Rousseau erdachte Gedanke der Nation. Insofern ist der entstandene Streit nicht ein Streit zwischen Pro- und Anti-Aufklärern, sondern der immer besonders heftige Streit von verfeindeten Brüdern, was auch erklären würde, weshalb Leute wie Sarrazin von der völker- und rassenumarmenden Humanität unserer Moralisten ausgespart bleiben. Fest steht jedoch, dass Sarrazin unter den Bedingungen des Multi-Kulti-Projektes in wesentlichen Punkten eine bis auf Friedrich Ebert zurückzuverfolgende sozialdemokratische Position bezog.

Die Grünen unterstützen diese Kampagne deshalb, weil sie ihr Multi-Kulti-Projekt durch dieses Buch weitgehend widerlegt sehen, das sie gerade noch zu retten versuchen, indem sie die Integration von Zuwanderern den Einheimischen zur Pflicht machen wollen. Bei den anderen UNO-Staaten ist Integration Aufgabe der Zuwanderer, die von den Einheimischen geduldet und durch Auflagen in geordnete Wege geleitet wird. Integrationsunwilligkeit wird außer in Deutschland mit Sanktionen bis zur Ausweisung geahndet.

Mit dem weiteren Bekanntwerden dieses Buches steigen in den Umfragen die Zustimmungswerte weiter an und liegen nun deutlich über 70 Prozent. Wenn man die Darlegungen dieses Buches zur Kenntnis nimmt, muss man nüchtern feststellen, dass es sorgfältig recherchiert ist, nur auf jedermann öffentlich zugänglichem Zahlenmaterial beruht und die Schlussfolgerungen hätte jeder ziehen müssen, der sich seriös damit befasst hätte. Damit ist das Aufsehen und die überschäumende Empörung selbst erklärungsbedürftig, besonders deshalb, weil bisher noch nicht einmal im Ansatz versucht wurde, Sarrazin in der Sache oder in seinen Argumenten zu widerlegen. Verblüffend ist, dass die weitgehend impliziten Schlussfolgerungen des Verfassers nicht von der Herleitung oder der Sache selbst her angegriffen werden, sondern nur die meist unausgesprochenen Konsequenzen aus dieser Arbeit, die offensichtlich gegen herrschende Überzeugungen verstoßen. Damit befinden wir uns aber nicht mehr auf dem Gebiet der Wissenschaft, in diesem Fall der Statistik, oder der Politik, sondern auf dem Gebiet des Glaubens und zwar eines besonderen Glaubens, der sich nicht auf eine der Hochreligionen beruft, sondern auf quasireligiöse Ideologie.

In Deutschland finden Ideologien, welcher Richtung auch immer, vor allem dann Akzeptanz, wenn deren Anhänger sich besonders heftig und engagiert für etwas einsetzen. Der Grund der Zustimmung ist meistens nicht die Ideologie und ihr Anliegen selbst, sondern der Respekt, den Umtriebigkeit und Tüchtigkeit nach wie vor in Deutschland genießen. Die Prüfung der Ziele und Inhalte der Ideologien unterbleibt weitgehend oder findet nur oberflächlich statt, weil niemand so recht weiß, was Ideologien eigentlich sind, was ihr Wesen ist und wie sie vorgehen. Am Anfang jeder Ideologie steht in einer Welt voller Unvollkommenheiten eine säkulare Heilsbehauptung. Ein Idealzustand wird für möglich und herstellbar erklärt, was besonders einleuchtend klingt und Zulauf findet, wenn auf dem betreffenden Zielgebiet offensichtliche Missstände herrschen. So wurde in dem Arbeiterelend des 19. Jahrhunderts der Kampf für den Sozialismus begonnen. In dem Raubbau und der rücksichtslosen Naturausbeutung des 20. Jahrhunderts entstand die Ökologiebewegung. Solche Heilsverheißungen finden dann besonders starken Zulauf, wenn die Zustände, gegen die sie sich wenden, einer breiten Öffentlichkeit bekannt sind, negativen Einfluss auf viele Menschen haben und die Politik keine Abhilfe schaffen kann oder will. Nach diesem ersten Schritt der Propagierung eines möglichen politischen oder sozialen Idealzustandes muss der Ideologe zwangsläufig begründen, warum das mögliche Heil noch nicht eingetreten ist. Dann werden Schuldige angegeben, z.B. welche Gesellschaftsschicht, Klasse oder Rasse das Kommen des Idealzustandes verhindert. Im dritten Schritt wird zur Bekämpfung der benannten Heilsverhinderer aufgerufen und es werden Strategien entwickelt, die wie beim Sozialismus auch die physische Vernichtung der ausgemachten Feinde einschließen. Dies ist die Geburtsstunde der moralistisch begründeten Feindbilder, die schon häufig zu Bürgerkriegen geführt haben, weshalb man sie unter dem Begriff der Bürgerkriegsmoral zusammenfassen kann. Ideologisch motivierte Bürgerkriege wurden von der Weltgemeinschaft der freien Völker als innere Angelegenheit von Staaten so lange geduldet, bis es fast zu spät war. Als die Sowjetunion annähernd die halbe Welt direkt oder indirekt kontrollierte, bestand sogar die Gefahr, dass die bedeutendste Frucht der Aufklärung, der freiheitliche Rechtsstaat untergeht.

Es ist auffällig, dass Ideologien erst zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt der europäischen Geistesgeschichte auftraten und durch bis heute nachwirkende Gewaltexzesse die Weltgeschichte veränderten. Die Abwendung der Aufklärung vom Christentum spielt dabei eine entscheidende Rolle für das Aufkommen der Ideologien, denn der Versuch, die Stelle der abgelehnten Religion durch politische Moralvollzüge auszufüllen, ist bis heute nur bei extrem radikalisierten Minderheiten gelungen. Es kann aber nicht unerwähnt bleiben, mit welcher Ahnungslosigkeit das staatstragende Bürgertum, besonders in Deutschland, seinen christlichen Glauben und die darauf basierende Kultur ohne nennenswerten Widerstand aufgab. Die Entchristlichung des deutschen Bürgertums war keineswegs nur aufgenötigt oder gar erzwungen. Das noch nicht einmal annähernd gefüllte Vakuum nach der Abkehr von der Religiosität des Mittelalters ist die Bedingung der Ermöglichung, dass die politischen Ersatzreligionen auftreten und sich erfolgreich entwickeln konnten.

Nach dem Zusammenbruch der beiden ideologischen Großexperimente des Nationalsozialismus und des Kommunismus sind die Ideologien keineswegs Geschichte. Ganz im Gegenteil haben sie bis in die bürgerliche Mitte großen Zulauf, denn sie haben ihr Auftreten und ihre Vorgehensweise an das Zeitalter der Demokratie angepasst und das so erfolgreich, dass sie sich, wie z.B. in Deutschland, die Demokratie in wichtigen Bereichen unterworfen haben oder sie zumindestens mit ihren Zielen und Strategien bevormunden. Möglicherweise ist das ein Grund dafür, weshalb man die „Causa Sarrazin“ in dem von politischem Moralismus besetzten Thema der muslimischen Immigranten abhandeln will. Die Machtfülle, mit der der ungeheuere Druck auf alle sozialen Beziehungen von Sarrazin und seinen Vorgängern ausgeübt wurde, lässt die Feststellung zu, dass im Sinne des Grundgesetzartikels 20,2 nicht mehr alle Macht vom Volke ausgeht. Deshalb wäre zu prüfen, ob, wie am Beispiel der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten von Großunternehmen, gewählte Volksvertreter in den Chefredaktionen von Presseorganen ab einer festzusetzenden Auflagenhöhe und Zuschauerzahl zur Pflicht gemacht werden sollten. Dies würde das Konzept der freien Presse nicht beschädigen, sondern könnte ihr ganz im Gegenteil aus dem Irrweg der lästigen Dauermissionierung für Ideologien zugunsten von sachlicher und fairer Berichterstattung wieder heraushelfen. Man darf auch nicht vergessen, dass in den Zeiten des kalten Krieges Mächte, die uns einen Unrechtsstaat wie die DDR oder noch Schlimmeres aufzwingen wollten, in unserer freien Presse unglaubliche Erfolge hatten. Diese und weitere Maßnahmen zur Re-Demokratisierung der deutschen Politik wären dann eine naheliegende Konsequenz, die aus dem Fall Sarrazin zu ziehen wäre. Nach dem derzeitigen Stand der Debatte bleibt eigentlich nur die betrübliche Feststellung, dass unsere, unter solchen Opfern und Leiden entstandene Demokratie durch den einfältigen Formalismus der Parteienpolitik den Kontakt mit der Lebenswelt der Menschen weitgehend verloren hat und deshalb weniger Beschützer und Verfechter hat, als eigentlich notwendig wäre.

Den Vorwand, aus politischer Hygiene einen Rechtstrend verhindern zu müssen, kann man in diesem Fall nicht gelten lassen, da Sarrazin keine Verfassungsänderung anstrebt, sondern ganz im Gegenteil die Sicherung und Stabilisierung des auf dem Grundgesetz beruhenden Staates will. Völlig unabhängig von unserer Geschichte muss die Heimat der Deutschen ebenso wie die Heimat anderer Völker beschützt, verteidigt und geachtet werden. Das Engagement von Bürgern im Rahmen der Gesetze und dieser völkerrechtlichen Selbstverständlichkeit zu ächten und zu tribunalisieren, ist selbst die radikalste Infragestellung unserer Verfassung und des Rechtsstaates. Es geht hier nicht um politische Moral, sondern um die grundlegenden Beziehungen von Bürgern zu ihrem Staat. Verfassungswidrig dem Sinne und dem Buchstaben nach handelt nicht der, der solche Bürgerrechte ausübt, sondern der, der diese diskriminiert und kriminalisiert. Kein moralisches Anliegen kann verfassungsrechtlich problematische Vorgehensweisen rechtfertigen, die als innere Erosion die Demokratie schwächen und durchaus im ungestörten Fortgang zum zweiten Demokratieverlust in Deutschland führen könnten.

Der in solchen Verfahren übliche Ablauf wurde uns schon mehrfach vorgeführt. Beflissene Handlanger werden die Äußerungen von Thilo Sarrazin so zerreden und mit frei erfundenen Unterstellungen, Mutmaßungen und Verdächtigungen überziehen, bis nur noch ein Zerrbild der Person und ihres Anliegens übrig bleibt – was dann mit den üblichen Mitteln entsorgt werden kann. In fataler Weise erinnert es an G. Orwells Werk „1984“, in dem ein Bürger in eine Unperson verwandelt und anschließend einer fürchterlichen Behandlung unterzogen wurde. Wenn nichts Unvorhergesehenes geschieht, wird man aus Sarrazin eine abstoßende Karikatur machen und entsprechend verfahren. Diese Hetzjagd mit einem vorhersehbaren Ende ist ja schließlich nicht die erste, die wir erleben müssen und zu unserer Schande sei es gesagt, geschehen ließen, wie zur Bestätigung dessen, was der Frankfurter Sozialphilosoph Horkheimer in Anlehnung an Kant formulierte, dass das absolut Böse das folgenlos erkannte Gute sei.

In England, wo man als gesellschaftlichen Sport bei der Fuchsjagd im übertragenen Sinne durchaus vergleichbare Methoden anwendete, gab es aus Mitleid mit der gequälten Kreatur einen Aufstand, der schließlich zum Verbot der Fuchsjagd führte. Wäre es dann nicht an der Zeit, solche auf Menschen angewendete Verfahren am Beispiel Sarrazins anzuklagen mit dem Ziel, sie ebenso zu verbieten wie in England die Fuchsjagd? Unsere politische Kultur könnte davon nur profitieren.

Abschließend muss man aber noch darauf aufmerksam machen, dass in der aufklärerischen Philosophie zwischen national und nationalistisch eigentlich eine klare Unterscheidung kaum möglich ist und die Übergänge, wie die Geschichte zeigte, fließend sind. Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang auf das Buch von Günter Rohrmoser „Konservatives Denken im Kontext der Moderne“ hinweisen, in dem er anhand des Werkes von Alexis de Tocqueville nachwies, dass nur in einer christlich konservativ geprägten Demokratie klare Unterscheidungen und Abgrenzungen u.a. zum Nationalismus möglich sind. In atheistischen Systemen dagegen ist die Gefahr immer gegeben, dass Völker sich selbst auf den leeren Altar setzen und sich als ihren Gott anbeten, was vereinfacht dargestellt der innerste Kern des Nationalismus ist. Deshalb hielt der Sozialphilosoph Günter Rohrmoser eine gemäßigte, durch das Grundgesetz überwachte Renationalisierung der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen unseres christlichen Kulturerbes für die beste Prophylaxe gegen rechte und linke Extreme und die Gefahr, die G.W.F. Hegel sah, dass wenn einmal im Hause des freiheitlichen Rechtsstaates die Lichter ausgegangen sind, sie vielleicht nie mehr wieder angehen werden.

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