Kurzkommentar - 11. Januar 2012

Albert Wieland
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Umbrüche - *
Die Macht der Nachwirkungen und Nebenwirkungen



Nun ist es also nicht mehr schön zu reden oder in Abrede zu stellen: Europa ist krank und zwar todkrank. Wenn man sich das zu Tage getretene Ausmaß an Vertrags- und Ausführungsmängeln vor Augen führt, dann findet man nichts, was man in seriösen und korrekten Verhandlungen nicht hätte vor Vertragsabschluss erkennen, klären oder verhindern können. Jetzt muss aufgearbeitet, nachverhandelt und teuer bezahlt werden, was bei Abschluss der Verträge unterlassen wurde. Man wird den Eindruck nicht los, dass an den Verhandlungstischen Insolvenzen verschleppt und Bankrotte verschwiegen wurden mit der Absicht, sich zu Lasten der Vertragspartner zu sanieren. Aber der enthusiastische Wille, die europäische Einigung um jeden Preis gelingen zu lassen, überwältigte die Vernunft und mündete in Tatsachen vernachlässigende Vertragsverhandlungen, deren Ergebnis nur das sein konnte, was jetzt auf dem Tisch liegt. Aber auch Verträge dieser Art unterliegen, sobald sie ratifiziert sind, der normativen Kraft des Faktischen und entwickeln, wie in diesem Fall, ein zum Teil erschreckendes Eigenleben. Die unumgängliche Aufarbeitung des Vernachlässigten und Versäumten betreibt aber energisch und nicht ohne Geschick unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel, die die anfangs etwas kopflosen Bemühungen der europäischen Partner ordnete, wodurch erste Konsolidierungen europaweit erzielt werden konnten. Für das so zustande gekommene Europaprojekt gilt, mit Goethe gesprochen: „Das Erste darf man, das Weitere muss man.“ Die grassierenden Ausstiegsforderungen sind aber mindestens so illusorisch wie die Verhandlungen vor dem Abschluss der Verträge. Ein Ausstieg hätte auch schlimme Folgen, nur andere. Deshalb kann die verständliche Absicht, sich den Folgen entziehen zu wollen, nur bedeuten, Übel gegen Übel zu tauschen. Zu gewinnen gibt es ohnehin nichts.

Mitten in dieses Desaster brach der „arabische Frühling“ herein, der die unbequeme Öffentlichkeit erfolgreich ablenkte. Dieser arabische Frühling, den die europäische Politik aus verständlichen Gründen adoptierte, verdankt sich nicht der Kultur und den Qualitäten Europas, sondern schlicht dem Internet und der drahtlosen Telefonie. Erstmals konnten sich die Menschen im Nahen Osten der staatlichen und religiösen Kontrolle entziehen, kommunizieren und sich organisieren, ohne unmittelbar Verschleppung in Foltergefängnisse und Todeslager zu riskieren. Aber zum nicht geringen Erstaunen des Zeitgenossen zog in Deutschland der „zärtliche, emanzipierte und friedliche Gutmensch“ in den Krieg. Die Grünen, die neben der SPD den Löwenanteil der einstigen antiamerikanischen Friedensbewegung aufnahmen, fielen über die Bundeskanzlerin her als sie unserer Geschichte und dem Grundgesetz entsprechend, uns aus diesem nicht erklärten, erst nachträglich zu einer Art „Nato-Polizei-Aktion“ umfunktionierten Krieg heraushielt. Die Tiraden von Renate Künast und Jürgen Trittin wären eines Propagandaministeriums würdig gewesen, aber der Erfolg gab ihnen recht, denn die Friedensbewegten ihrer Partei nickten diesen „Krieg“ problemlos ab.

Schon bevor Nato-Beschlüsse vorlagen, stürzten sich England und Frankreich in Kampfhandlungen, die anrüchigen Machthaber sollten verschwinden und nachdem dies gelungen ist, wundert man sich seltsamerweise nun tatsächlich, dass in dem entstandenen Machtvakuum die Islamisten eine Art Machtergreifung vorbereiten („Zerstört die Tempel“ – Spiegel Nr. 50/2011). Die abendländischen „Kreuzzügler für Demokratie und Menschenrechte“ mit ihren ruinösen Wirtschafts- und Haushaltsproblemen haben nur übersehen, dass es ein Gutmenschenkrieg war, mit anderen Worten, die sonst üblichen Plünderungen mussten unterbleiben. Noch nicht einmal Öllieferungen zu Sonderkonditionen sprangen dabei heraus. Womit wir wieder bei Europa wären, mit seinen leeren Kassen, Überschuldung und einem außer Kontrolle geratenen Sozialstaat. Nachdem die Tatsachen über die wirkliche Lage Griechenlands, Italiens, Spaniens, Portugals und Frankreichs auf dem Tisch lagen, ging es nicht mehr um Euro-Milliarden, mit denen Löcher hier und da zu stopfen wären, denn die mit dem niedlichen Begriff „Eurokrise“ heruntergespielte Katastrophe ist, wie unsere Wirtschaftsfachleute sagen, mit Geld nicht mehr zu beheben. Jetzt ist guter Rat teuer. Das Gebot der Stunde ist Katastrophenmanagement – und hier kommt Deutschland ins Spiel, das in seiner jüngeren Geschichte mindestens zweimal bewiesen hat, dass man auch aus vernichtenden politischen, militärischen und wirtschaftlichen Niederlagen sozusagen wieder auferstehen kann. Erst dieser Zusammenhang macht das ganze Ausmaß der Zumutung deutlich, als Ministerpräsident Erdogan bei seinem letzten Deutschlandbesuch im Beisein der Bundeskanzlerin äußerte, die türkischen Gastarbeiter hätten das kriegszerstörte Deutschland wieder aufgebaut. Die beispiellose Wiederaufbauleistung hat die deutsche Arbeiterschaft sogar zweimal im letzten Jahrhundert vollbracht. Diesem Verdienstdiebstahl widersprachen aber nicht die Bundeskanzlerin oder die Gewerkschaften, die „Arbeiterpartei“ SPD schon gar nicht, sondern die deutsch-türkische Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek stellte das in einem FAZ-Artikel „Die Kunst des Missverstehens“ vom 29.10.2011 richtig und blamierte damit einen türkischen Politiker, der die im Islam heilige Gastfreundschaft mit Füßen trat. Diese Wiederaufbauleistungen waren der Hauptgrund, weshalb sich die Staatsmänner Europas dem Zwang zur Vernunft gehorchend in Berlin die Klinke in die Hand gaben. Es verdient festgehalten zu werden, dass nicht politische List, gekaufte Freundschaft oder Vorteilsgewährung der Grund waren, sondern nackte Katastrophenangst und Ratlosigkeit, die europäische Politiker bewog, sich um die Hilfe der ungeliebten Deutschen zu bemühen. Dann stellte Herr Kauder von der CDU selbstgefällig fest: Europa spricht deutsch! Selten wurde eine unglücklichere Fehleinschätzung der politischen Lage öffentlich zu Protokoll gegeben.

Nun müssen wir den Blick auf ein ganz anderes Geschehen richten, das scheinbar in keinem Zusammenhang mit den vorausgegangenen Ausführungen steht. Wie eine Bombe schlug in der Öffentlichkeit ein, dass eine nationalsozialistische Untergrundterrorzelle zahlreiche Mordtaten verübt hatte, u.a. an einer Polizistin. Auch der Verfassungsschutz wurde mit hineingezogen und zumindest der fahrlässigen Beihilfe verdächtigt. Die Betroffenheitsrituale, wie Salomon Korn sie einmal nannte, waren schon vielfach eingeübt, der Bundestag erhob sich wie ein Mann kollektivschuldwillig von seinen Sitzen und schüttete aufrichtige Entschuldigungen und ansehnliche Entschädigungen aus. Trotz unserer verzweifelten Finanznot wurde ohne Erwähnung irgendwelcher Kosten eine Art Bundespolizei gegen Rechtsextremismus aus dem Boden gestampft. Und das in einem Lande, das seit über 30 Jahren weiß, dass in Kinderspielzeug und sogar in Babyschnullern giftige Substanzen enthalten sind und ein wirksam durchzusetzender Schutz noch nicht einmal in der Diskussion ist.

Da unser Verfassungsschutz mit den angeprangerten handwerklichen Kunstfehlern von dieser Gruppe und – vielleicht nicht allen – ihren Taten wusste, kann man getrost voraussetzen, dass Dienste anderer Staaten, die nicht diese Schwächen aufweisen, ebenfalls oder vielleicht noch mehr von dieser Gruppe aus Zwickau wussten. Durch den Doppelselbstmord der Haupttäter werden wir wohl nie erfahren, was sich wirklich abgespielt hat. Aber man kann davon ausgehen, dass sogenannte Dienste ihr jahrelanges Wissen um diese Gruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt an die Öffentlichkeit brachten. In aller Entschiedenheit bleibt festzustellen, nichts von dem was Gegenstand der Ermittlungen der Bundesstaatsanwaltschaft ist, darf relativiert oder entschuldigt werden. Dem Verdacht dieser Verbrechen muss unnachsichtig nachgegangen und die Täter sowie ihre Beihelfer und möglichen Anstifter in einem rechtsstaatlichen Verfahren ihrer Strafe zugeführt werden.

Die abstoßende Hemmungslosigkeit aber, mit der an diesem Ermittlungsverfahren parteipolitische und ideologische Süppchen gekocht wurden, kann die Politikverdrossenheit und die im Volk um sich greifende Verachtung der politischen Kaste nur bestärken, denn wohlgemerkt, diese neue Runde in der Kette der Demütigungen Deutschlands fand bereits statt, ehe die Ermittlungen abgeschlossen waren, oder ein Gerichtsverfahren mit einer stichhaltigen Beweisaufnahme eingeleitet, geschweige denn ein rechtskräftiges Urteil ergangen war. Der unmittelbar darauf folgende Parteitag der SPD stand ganz im Zeichen der Befestigung bzw. Wiedererrichtung der von Ex-Außenminister Fischer sogenannten „Büßerrepublik“. Dafür verheizte die SPD-Führung sogar das Ansehen des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt, der allen Ernstes behauptete, die Deutschen, allen voran die schwarz-gelbe Regierung, seien wieder deutsch-national geworden. Das brachte den intellektuellen Gentleman-Politiker Klaus von Dohnanyi so in Rage, dass er in einer Diskussion öffentlich die Rücknahme dieser unsinnigen und falschen Behauptung seines Parteifreundes verlangte.

Der Schriftsteller Martin Walser, dessen Beziehungen zum linksliberalen Zeitgeist in ihrer Ambivalenz schon oft die Gazetten füllten, legte über diese zwiespältige Beziehung einen tiefschürfenden Rechenschaftsbericht vor, insbesondere über seine Erfahrungen des Scheiterns mit den säkularen Rechtfertigungsmodellen. Am 9. November 2011 hielt Martin Walser vor der amerikanischen Harvard Universität diesen weltweit beachteten Vortrag mit dem Thema „Über Rechtfertigung, eine Versuchung“ (FAZ vom 10.11.2011). Darin äußerte er u.a. „Ich habe mein Leben als Schriftsteller auch im Reizklima des Rechthabenmüssens verbracht. Und habe erlebt, dass die ablenkungsstärkste Art des Rechthabens die moralische ist. Den Eindruck erwecken zu müssen, man sei der bessere Mensch. Wer diesen Eindruck einmal hat von sich, dessen Gewissen ist domestiziert.“ Davor hatte er schon skeptisch abgehandelt, wie ihm der Eindruck aufgedrängt wurde, der Linke sei der bessere Mensch und lebenslänglich SPD, das stelle er sich vor wie eine Allwetterkleidung fürs Bewusstsein. Dazu merkte er an, dass ihm das nicht möglich sei.

Neben der gnadenlosen Instrumentalisierung dieser schrecklichen Verbrechen der sogenannten NSU geschah auch Bemerkenswertes. In einer der überflüssigen Talkrunden zu diesem Thema, überflüssig, weil die Ergebnisse schon vorher feststanden, äußerte Henryk M. Broder nicht Vorgesehenes und irritierte damit den feststehenden Ablauf. Broder wies darauf hin, dass sowohl bei Christian Klar, dem RAF-Terroristen, als auch bei der sogenannten NSU das Böse im Menschen zu Tage getreten sei, dem die jeweilige Ideologie nur übergestülpt wurde. Es ist bezeichnend, dass Broders Äußerung die anderen Teilnehmer so aus der Fassung brachte, dass sie indigniert und schweigend darüber hinweggingen, obwohl man treffender das Problem nicht hätte darstellen können. Aber das anzuerkennen hätte bedeutet, unser humanistisches Selbstverständnis in Frage zu stellen und in der Folge auch eine Abkehr von dem grobschlächtigen Lagerdenken unvermeidlich gemacht, das unsere Politik lähmt. Aber ein Broder und ein von Dohnanyi sind eben gegenwärtig leider nur Platzhalter für hoffentlich nachwachsende Verantwortliche ihrer Art. Der Glaube unserer Ahnen, von dem wir abgefallen sind, hätte uns lehren können, dass im Leiden, Sterben und Auferstehen Christi uns wie allen Menschen die Vergebung unserer Sünden erwirkt ist. Das vor Gott, ohne Ausreden und Entschuldigungen in aufrichtiger Umkehr angenommen und geglaubt, würde die geschichtlichen Tatsachen bestehen lassen, aber den Nötigungen und Erpressungen mit unserer Schuld den Hebelpunkt entziehen. Das könnte einer der Gründe sein, weshalb das Christentum bei uns so bekämpft und von innen und außen verschandelt wird (siehe dazu auch „Das Model Gottes“, Spiegel Nr. 51/2011). Vielleicht steht es um die Volkskirchen deswegen so übel, weil bisher kein Papst oder Kardinal dem deutschen Volk, das an seiner Schuld zugrunde geht, die Vergebung zusprach. Die protestantischen Kirchen, die sich von Martin Luther her begründen, dessen Thesenanschlag an die Kirchentür zu Wittenberg eine machtbewusste Weltkirche bis in die Grundfesten erschütterte und die Menschheitskultur durch die Reformation auf eine neue Ebene hob, feierten diesen Thesenanschlag auch im Jahr 2011. Zum Gedenken wurden dem Vernehmen nach u.a. von hochgelegenen Plätzen protestantischer Gemeinden mit Gebeten beschriftete Papierbögen zu Fliegern gefaltet und dem Wind übergeben. Von da kann kein Sünder einen Zuspruch der Vergebung seiner Schuld mehr erwarten, denn dahinter ist das Nichts.

Und damit sind wir wieder bei Europa. Die gespreizte Selbstdarstellung unserer auf Knopfdruck entrüsteten Gutmenschen drang in kaum nennenswerten Umfang über unsere Grenzen hinaus, und wenn dann nur beiläufig. Die ratsuchenden Politiker kommen nach wie vor nach Berlin und fanden diesen Vorgang, der uns zu so großartigen moralischen Rechtfertigungsexzessen beflügelt hat, noch nicht einmal der Rede für wert, denn sie haben den Ruin von ihren Ländern und die wirtschaftliche Katastrophe Europas abzuwenden, und übernehmen deshalb keine Statistenrollen in einer Kampagne zur Demütigung der Deutschen, deren Rat und Hilfe sie dringend brauchen.

Das alles spielt sich vor einem kaum noch bemerkten Hintergrund einer Dekadenzbewegung ab. Der Niedergang des Sozialismus und die Entsorgung seiner Zerfallsprodukte ist immer noch ein Grundthema der Gegenwart. Jacob Burckhardt, um den sich Friedrich Nietzsche, mit 21 Jahren damals jüngster Professor Deutschlands, bemühte, sagte Mitte des 19. Jahrhunderts den unvermeidbaren Sieg des Sozialismus voraus, und nach dem Sieg dessen Auflösung und Niedergang. Die heutigen politischen Linken repräsentieren ja auch keinen Sozialismus mehr, sondern nur noch zum Teil heftig umstrittene Spaltprodukte. In der Finanzwelt würde man sagen Derivate, nach den Erfahrungen in der Bankenkrise also Mogelpackungen. Die Linke ist nicht mehr die klassische Linke, sondern ohne die Faszination der desavouierten Vision von einer neuen gerechten und kommunistischen Welt eine Partei wie jede andere auch. Gesine Lötzsch, von der Partei DIE LINKE, die offensichtlich nie Georg Lukács gelesen hat, warb für die Wiederherstellung des kommunistischen Ideals und wurde prompt abgestraft, womit auch dem Aufstieg der Linken trotz aller Mediengunst zumindest die Spitze abgebrochen war.

Derselbe Jacob Burckhardt schrieb auch, dass im Umfeld des zerfallenden Sozialismus sich die farbigen Völker von der weißen, sprich europäischen Vorherrschaft befreien, während die Völker Europas unter dem Einfluss des sich auflösenden Sozialismus das Humane nicht mehr im eigenen Volk erkennen würden, sondern nur noch „im Neger und Tataren“. Die SPD hat in unserem real existierenden sozialistischen Kapitalismus ihr klassisches Klientel, die Arbeiterschaft, die nun das schweigende konservative Rückgrat unseres Volkes bildet, verloren und hält sich mit den Brosamen, die vom Tisch der Kampagnenschmiede fallen, wie „Ausländerpolitik“ und „Kampf gegen Rechts“, über Wasser und im Gespräch. Man braucht über keine überdurchschnittlichen Fähigkeiten zu verfügen, um dieser Partei nach ihrem unglücklichen Operieren im Fall Sarrazin und ihrem Büßerrepublik-Parteitag zu attestieren, dass dabei nichts Gutes für sie herauskommen kann, weil ihre Ferne von den wahren Leiden und Problemen des deutschen Volkes beginnt, unüberbrückbar zu werden. Ihr bisheriges Werbungskonzept – weniger Arbeit für mehr Geld, mehr Freiheit für zügelloseren Genuss – verbietet die Überschuldung und auch der Unbedarfteste begreift inzwischen, dass politisch zugeschanzte Gruppenvorteile den Zusammenbruch des Ganzen wahrscheinlicher machen. Wer schlachtet schon die Kuh, von deren Milch er lebt?

Der Schriftsteller Martin Walser promovierte über Franz Kafka. Bis in seinen persönlichen Habitus und seinen Schreibstil ist Walser von dessen leidend bohrendem Grübeln über eine ihm unheimlich gewordene Welt geprägt. Wir bewundern zwar in abnehmenden Maße immer noch den Innovationen sprühenden Macher der industriellen Revolution, während Kafka Seele und Geist des Menschen der Moderne von einer unbegreiflichen namenlosen Macht bedroht sieht, der er sich hilflos ausgeliefert weiß. Kafka steht damit neben Thomas Mann, Georg Orwell und anderen in einer Reihe von Schriftstellern, die auf die vom aufklärerischen Optimismus verstellten dämonischen Züge der Moderne hindeuten und vor allem auf das, was diese dem Menschen antun und noch anzutun drohen. Bei Walser hat kafkaeskes Denken bisher ein Oszillieren zwischen linksliberalen und ordoliberalen Positionen nach sich gezogen. Erst die Einsicht in das Scheitern der säkularen Rechtfertigungsmodelle zwingt ihn über diesen Dunstkreis hinaus. In der bereits zitierten Harvard-Rede wendete er sich mit dem Werk des protestantischen Theologen Karl Barth nun der Religion zu. Im Zusammenhang mit Barths Ausführungen im Römerbriefkommentar (10 Auflagen) zur Rechtfertigung merkte Walser an: „Was ist denn political correctness anderes als eine Domestizierung des Gewissens, eine passe-partout-Rechtfertigung?“ Unmittelbar im Anschluss verweist er auf einen von ihm als revolutionär bezeichneten Ausspruch Barths: „Fehlt deinem Leben Rechtfertigung, die nur Gott ihm geben kann, dann fehlt ihm jede Rechtfertigung.“ Und dann als Quintessenz seiner Ausführungen zur Rechtfertigung nochmals ein Barth-Zitat, dass der Mensch, der die Offenbarung Gottes empfängt, „nur gerettet ist als der Verlorene, gerechtfertigt als der nicht zu Rechtfertigende“. Der Mann hat die moralistische Weltsicht und den Sozialismus hinter sich und ist, wenn man den Sozialismus als Häresie des Christentums begreift, unterwegs zum Original, so zurückhaltend und neutral er das aus nachvollziehbaren Gründen auch ausdrücken mag.

Dies ist die Lage, die uns jederzeit in Chaos und Elend stürzen kann. Aber diesen drohenden Gefahren verdanken wir auch, dass die europäischen Völker wieder zum Schulterschluss mit ihren deutschen Nachbarn gefunden haben. Diese Gefahren könnten uns auch bewegen, zu dem zurückzufinden was wir verlassen haben, als wir, schlechtem Rat folgend, unser Schicksal mit den bekannten Folgen selbst in die Hand nahmen. Da es besser nicht formuliert werden kann, sei abschließend das Geleitwort aus „Der Ernstfall – Die Krise unserer liberalen Republik“ von Günter Rohrmoser (Ullstein-Verlag, Berlin, Frankfurt, 1994) abgedruckt:

Deutschland befindet sich an einem geschichtlichen Wendepunkt. Umkehr oder Niedergang – diese fatale Alternative ist das Gesetz, nach dem alle politischen, moralischen und kulturellen Kräfte um eine Neuorientierung unseres Landes ringen. Die Krise der Demokratie beschwört den Schatten Weimars herauf. Die Krise der Vereinigung provoziert die Gefahr einer neuen Spaltung. Die Krise des Sozialstaates beraubt Deutschland der integrativen Kraft, der es seinen inneren Zusammenhalt verdankt. Der Verlust nationaler Identität erzeugt einen neuen Nationalismus, der zur Wiederkehr faschistischen Denkens führen kann. Die Spätfolgen der neomarxistischen Kulturrevolution der 60er Jahre schließlich münden in die Hegemonie eines quasitotalitären Liberalismus, der unserer Demokratie die Kraft zur geistig-politischen Innovation nimmt. Um ein Auseinanderfallen der Gesellschaft zu verhindern, forderte der Philosoph Günter Rohrmoser eine konservative Erneuerung, die allein die Bewahrung der für eine moderne Gesellschaft unverzichtbaren liberalen Prinzipien gewährleisten kann.

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