Kurzkommentar - 29. Juni 2015

Albert Wieland
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Moral als Reformblockade –
Exportiert die EU die Dauerkrise*




Die Kritik, das Desinteresse und die Abwanderung des Vertrauens aus nicht demokratisch entstandenen europäischen Institutionen und Funktionen nimmt einen nicht mehr zu übersehenden Umfang an. Üblicherweise geht man davon aus, dass man in so einem Fall Fehlleistungen durchforstet und gegensteuernd Abhilfe schafft. Da die EU-Euphorie aber auf Moralkonstruktionen ruht, die allem was aus der Geschichte überliefert und gewachsen ist, überlegen sein sollen, richtet sich die Reaktion nicht gegen die Fehlleistungen, sondern gegen die Kritiker. Der Multikulturalismus und der kulturrevolutionäre Sozialismus sind sakrosankt und werden mit Hilfe der im Gleichschritt gehenden Presse durchgesetzt.

Der am 15. Januar 2014 verstorbene Professor Dr. Wilhelm Hankel fasste die Lage vor der EU-Parlamentswahl in einem Zeitungsartikel zusammen: „Die gewählten Regierungen dieser Staaten (EU) lernen jetzt in der Krise von heute, dass sie alles riskieren: Ihre Glaubwürdigkeit, ihre Handlungsfähigkeit, ihre Wählbarkeit – wenn sie ihre Bürger enttäuschen, ... weil sie sich dem Diktat einer fremden Währung ... und den Maßnahmen einer Fremdregierung ausliefern, deren Ziel nicht das Wohl ihrer Bürger, sondern eine politische Utopie ist.“

Bundeskanzlerin Merkel verlor in den Umfragen wegen der Eurokrise, und die Euroskepsis wuchs bis Ende Februar 2014 stetig an. Dann verkündete die Bundeskanzlerin, dass die Ukraine auch Anteil an Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Demokratie haben solle und setzte sich für massive Sanktionen gegen Russland ein. Präsident Hollande in Frankreich wurde zur gleichen Zeit im Rahmen massivster Kritik wegen seiner Amtsführung als der schlechteste Präsident bezeichnet, den Frankreich bisher hatte.

Jenseits des Atlantiks rücken die USA unter Präsident Obama weiter nach links. Seine Amtszeit steht unter keinem guten Stern. Bei seiner Wahl tauchten Massen von Internetspenden auf, die nicht zurückverfolgbar sind, ein Verfahren, das sonst nur aus der Geldwäsche bekannt ist. Die große Sozialversicherungsreform mit ihrem bevormundenden und kontrollierenden Verwaltungsapparat wurde von den freiheitsliebenden Amerikanern abgelehnt und zum Einsturz gebracht. Die Präsidentschaft ist begleitet von Pannen und steckengebliebenen Projekten, nur in Fragen der Abtreibung sowie des Schwulen- und Lesbenkultes waren international gefeierte Erfolge zu verzeichnen.

Die Staatsphilosophie lehrt, hier Nicola Macchiavelli, dass im Falle einer sich auflösenden Anhängerschaft, also der Erosion einer politischen Machtbasis ein erprobtes Mittel Abhilfe schafft, nämlich einen Krieg bzw. einen Konflikt nach außen zu beginnen, der die Kritiker zwingt, sich im nationalen Interesse wieder hinter die Politik zu stellen. Unabhängig davon, wie es in der Ukraine weitergeht, hätten wir schon drei Gewinner. Die erwähnten Politiker hatten jeder eine erodierende Machtbasis und sind inzwischen, wie man so schön sagt, aus dem Schneider, zumindest vorübergehend.

Das vielschichtige Spannungsfeld zwischen Russland und der Ukraine wurde zur Bühne internationaler Politik. So brach Bundesaußenminister Steinmeier zu einer Vermittlungsmission mit Präsident Janukowitsch nach Kiew auf. Der Präsident zeigte sich entgegenkommend und verhandelte kompromissbereit mit der Opposition. Zwei Tage später hatten neue Machthaber, die nicht gewählt wurden, sondern im Zusammenspiel mit der Verhandlungsdelegation der EU die Macht an sich gerissen und sich etabliert. Unübersehbar ist, dass Deutschland in den Putsch in der Ukraine verstrickt ist und sich gegen Russland instrumentalisieren lässt.

Die Ankündigung der neuen Machthaber des Verbotes der russischen Sprache und Gewaltandrohung gegen den russischen Bevölkerungsteil störte die sehr einseitige Darstellung der Lage in der Ukraine empfindlich. Wenn die Ukraine EU-Gliedstaat würde, wären auf der Krim mit der NATO auch die Amerikaner vertreten. Von der Krim aus ist fast jeder Punkt Russlands sogar mit Kurz- oder Mittelstreckenraketen zu erreichen. Das konnte Russland nicht gleichgültig lassen. Diese Situation hatten wir schon einmal, als Nikita Chruschtschow, ukrainischstämmig, der per Federstrich 1954 die russische Krim der Ukraine zuschlug, atomare Mittelstreckenraketen im Hinterzimmer der USA in Kuba stationierte. Die ganze westliche Welt mit Ausnahme der KGB-hörigen Friedensbewegung war erleichtert, als Präsident Kennedy unter vollem Risiko eines dritten atomaren Weltkrieges diese Gefahr entschlossen abwendete.

Die von der Bundeskanzlerin angekündigten Wohltaten für die Ukraine verdienen aber eine nähere Betrachtung, besonders den tatsächlichen Umgang damit in Deutschland und in der EU. Die Demokratie, also die „Volksherrschaft“, funktioniert relativ einfach. In Abstimmungen wird die Mehrheit ermittelt und deren Entscheidungen fügt sich fairerweise die Minderheit. Da im Idealfall Meinungsfreiheit herrscht und damit freie Bildung des politischen Willens, kann jeder je nach Themen, über die abgestimmt wird, einmal zur Mehrheit und das nächste Mal zur Minderheit gehören. Als die Stellung der Minderheit rassistisch aufgeladen wurde, wurde der Minderheitenschutz eingeführt und in kurzer Zeit paralysierten und entrechteten die Minderheitenansprüche auf Gleichberechtigung die Mehrheit, deren Entscheidungen im wesentlichen nur noch Politikerkarrieren regulieren. Zuletzt setzen sich sogar einzelne – wie in der Frage der Kreuze in den Klassenzimmern oder dem Sonntagsgeläut – gegen die Mehrheit durch, um nur zwei Beispiele zu nennen. Sobald sich ein Mehrheitswillen beginnt zu bilden, ist dieser sofort von „benachteiligten“ Minderheiten umstellt, die gleichberechtigte Beachtung einfordern, was zu dieser gelähmten Mehrheit und zu dem heutigen Demokratiestillstand führte. Diese „postmodernen Fortschritte“ wurden nicht demokratisch und schon gar nicht rechtsstaatlich erzielt, sondern außerparlamentarisch an den Institutionen des demokratischen Gemeinwesens vorbei durch einen Propagandaapparat verordnet, der von Justiz und Volksvertretern teils hilflos geduldet oder sogar unterstützt wird.

Um den 3. Oktober häufen sich Veranstaltungen zum Thema der friedlichen Revolution. Lenin war der Meinung, die Deutschen könnten keine Revolution machen und vergaß dabei, dass wir die größte aller Revolutionen schon lange gemacht hatten, nämlich die Kulturrevolution der Reformation mit ihren weltweiten Nachwirkungen bis heute. Das Urteil Lenins trifft aber doch und besonders auf die sogenannte friedliche Revolution zu, denn die zu Stürzenden waren abgetaucht, obwohl niemand nach ihnen gefahndet hat. Die Freude über das Ende der Totalreglementierung bis ins Privatleben hinein verhinderte eine ganz naheliegende Frage zu stellen: Wieso gibt ein fast allmächtiges Regime ohne entschlossene Gegenwehr seine Machtfülle ab? Das wäre die eigentliche Revolution gewesen, wenn man nicht davon ausgehen müsste, dass feste Zusagen vorgelegen haben müssen, die Straffreiheit und zeitversetzt eine Reaktivierung garantierten.

Die „friedliche Revolution“, die angeblich mit dem Ende der DDR stattgefunden haben soll, war wohl eine Glanzleistung der politischen Irreführung. Eine unheilige Allianz bewahrte die Unterdrückerschicht des überheblich moralisierenden Sozialismus vor Verfolgung und Bestrafung. Nun sind Verschwörungstheorien nicht gerade selten, aber die als DDR-Nostalgie verkaufte Rehabilitationskampagne für ein unmenschliches System dokumentiert die Hybris von Menschen, die sich sicher fühlen vor Verantwortung und Rechenschaft und glauben allen alles zumuten zu können. Das Linsengericht „friedliche Revolution“ machte ja erfolgreich vergessen, die Schuldigen, nicht nur in der DDR, zur Verantwortung zu ziehen, zumal das Lob für die friedliche Revolution besonders von den Intellektuellen, die nach Meinung von Helmut Schmidt es nicht gut mit uns meinen, kübelweise über uns ausgeleert wurde. Nun leben die Täter mitten unter uns vor dem Rechtsstaat geschützt, bestens versorgt und unbehelligt. Die Opfer begegnen den Handlangern des Regimes zum Teil in ihren alten Ämtern und müssen bis heute um kümmerliche Renten für erlittenes Unrecht gegen kleinliche Bürokratie kämpfen. Unsere Demokratie und der Rechtsstaat finden bis heute nichts dabei, diese Drahtzieher und Vollstrecker eines Unterdrückungsapparates in die Funktionen der Demokratie und des Rechtsstaates einzugliedern, als ob sie keine Vorgeschichte hätten, die sie dafür untauglich machten. Was muss in den damals Unterdrückten der DDR vorgehen, wenn sie erleben müssen, dass ihre Peiniger wie normale Rentner nach getaner Arbeit in unserem Gemeinwesen ihren Lebensabend genießen? Welches Licht wirft das auf unseren Rechtsstaat, den unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel als Exportartikel in die Ukraine liefern will, obwohl der es nicht für notwendig findet, aus dem DDR-Erbe zu unterscheiden zwischen Tätern und Opfern, Unterdrückern und Unterdrückten?

Diese wenigen Stichproben mögen genügen und können vielleicht den Verdacht begreiflich machen, dass die wohlfeile Rede von der friedlichen Revolution eigentlich für eine Generalamnestie steht, die die DDR Führungsschicht vor dem Rechtsstaat schützt. Stattdessen hätte der demokratische Rechtsstaat vor ihnen beschützt werden müssen. Die Entscheidung gegen die Rechtsordnung und für die Ideologie und die sich daraus ergebende Ausschaltung der Justiz und der faktischen Strafvereitelung wird bis heute hinter der Selbstbeweihräucherung der „friedlichen Revolution“ vertuscht. Dass am Nationalfeiertag der Deutschen Einheit zur besten Sendezeit unter dem dürftigen Vorwand der Nostalgie in persönlichen Bekenntnissen von Prominenten und „verdienten Genossen“ die Rehabilitation des Unterdrückerregimes betrieben wurde, bestätigt die vorstehenden Ausführungen und beweist, wie sicher man sich fühlt vor Konsequenzen für diesen Affront. Die Beschädigung der Rechtsordnung, vor der laut Grundgesetz alle gleich sein sollten, und der Vertrauensverlust in eine Demokratie, die wieder zur Manipulationsmasse für Ideologen wurde, wird sich in den aktuellen Herausforderungen kaum als hilfreich erweisen.

Die bevormundete Demokratie in der EU kennt nur eine Ausnahme, die Engländer, die ihren Regenten Respekt vor der Volkssouveränität und den Gesetzen notfalls mit dem Henkerbeil beibrachten. In der EU dagegen werden unerwünschte Ergebnisse von Volksabstimmungen, wie zuletzt in der Schweiz, bekämpft oder so lange wiederholt, bis das Ergebnis in den ideologischen Überbau passt. Ein ideologisch begründeter Bruch mit der Volkssouveränität und allem, wofür Demokraten seit der Antike gekämpft haben.

Es genügt nicht, die Ergebnisse und Hervorbringungen unserer demontierten christlichen Herkunftskultur wie eine Kostbarkeit in einem Museum zu bewundern. Die Stimme des schärfsten Diagnostikers, der rechtzeitig auf den Niedergang hinwies, Friedrich Nietzsches, verhallte ja folgenlos. Der unvergessene Günter Rohrmoser erklärte einmal mit Hegel, dass das christliche Mittelalter die Dinge der Welt nur wahrnahm, sofern sie mit einem Lichtfaden am Himmelstor angebunden waren, und die materialistische Aufklärung bezeichnete er als das ausgeblendete und dann radikalisiert wiederkehrende Teil der Wirklichkeit. Bei Hegel wurde das vermittelt, erklärte Rohrmoser mit einem Bild, dass man mit zwei Augen sehen müsse. Das eine Auge auf die Welt und ihre Wirkmechanismen zu richten und das andere sinngemäß darauf, wie man diese Welt vor sich selbst retten und ihr aufhelfen könne mit einer sozialen Diakonie der Vernunft, wie Günter Rohrmoser das formulierte.

Die politische Lage diesseits und jenseits des Atlantik erklärt aber nicht hinreichend, weshalb die Herrschenden in Europa und den USA, die bis vor wenigen Jahrzehnten, soweit sie links waren, noch auf die Sowjetunion wie in das gelobte Land blickten, sich jetzt gegen Russland wenden. Man kann davon ausgehen, dass das damit zusammenhängt, wie unterschiedlich Russland und der Westen auf den Zusammenbruch des Sowjetimperiums reagierten. Im Westen ging man über die Verbrechen und gigantischen Fehlleistungen, die Gorbatschow noch als den verhängnisvollsten Irrweg in der Geschichte der Menschheit bezeichnete, unbekümmert mit dem Slogan „Sozialismus, gut gedacht – schlecht gemacht“ hinweg und wendete sich nicht vom Sozialismus ab, sondern dessen psychomarxistischer Variante zu. Ganz anders in Russland. In einer entschlossenen Säuberung wurden die Kader und Strukturen der KPdSU aufgelöst und verboten und die Erneuerung Russlands aus Nation und Religion ausgerufen.

Der kulturrevolutionäre Sozialismus der EU zeigt im Verlauf des Ukraine-Abenteuers Wirkung, seit seine Praktiken der Volkseinschüchterung mit Anprangerung von einzelnen bis hin zu Imagezerstörung und Ächtung – in Deutschland absolute Erfolgsgaranten – wirkungslos an Russland verpuffen. Die Verunsicherung mit der die „political correctness“ auf das Scheitern sicher geglaubter Unterwerfungstechniken reagiert, wird die hier bei uns mundtot gemachten die Ukraine-Krise mit anderen Augen sehen lassen. Inzwischen werden Menschen, die abweichend von der antirussischen Agitation sich sachlich mit den Tatsachen befassen und zu einem eigenen realitätsnäheren Urteil kommen als „Putin-Versteher“ geschmäht, was darauf hindeutet, dass die Manipulationen offensichtlich an Einfluss verloren haben, weil die Menschen doch nicht so dumm sind, wie offenbar geglaubt wird.

Im Februar 2014, als die USA mit düsteren Prognosen versehen wurden und die EU-Skepsis in Europa Schlimmes für die EU-Wahlen befürchten ließ, hätte niemand es für möglich gehalten, dass durch die EU-Einmischung in der Ukraine der Unmut sich auflöst, als wenn nichts gewesen wäre. Dass die Amerikaner eine dauerhafte Entfremdung zwischen Westeuropa, vor allem Deutschlands mit Russland, in Kauf nehmen, liegt in der Logik der Weltmachtpolitik. Dass aber speziell Deutschland die geschichtlichen Beziehungen zu Russland bis an die Grenzen strapaziert, ist eine Folge der Verblendung und Selbstverblendung durch die realitätsferne und wirklichkeitsfeindliche moralische Weltsicht. Abgesehen von den geschichtlichen und kulturellen Wurzeln muss man sich nur einmal vorstellen, wo speziell Deutschland bliebe, wenn Russland sich nach Osten wendete und die Ausrüstung für seine sich konsolidierende Industrie in Japan, Taiwan, Indien oder China beschaffte. Dies voraussehend starteten die USA ihre politische Offensive mit Indien in sehr vielen kurz- und mittelfristigen Handelsgeschäften sowie der wechselseitigen Versicherung bester Beziehungen. Russland, das bisher darauf verzichtete als Antwort auf den Angriff auf seine Währung seine erheblichen Edelmetallreserven auf den Markt zu werfen, um den Dollar und den Euro zu treffen, hat eine stille Initiative als Sponsor eines EU-Austritts von Griechenland gestartet und Gegenliebe bei dem mit großer Mehrheit gewählten Linksbündnis gefunden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein erfolgreicher haftungsfreier Austritt Griechenlands einen Dominoeffekt zumindestens bei der EU-Südschiene auslöst. Das würde das ganze Kartenhaus der EU erschüttern, das überwiegend von unverbindlichen Moralreden und dahinter von knallharter Vorteilsnahme mühsam zusammen gehalten wird. Das wäre dann das, wovon Tony Blair, der frühere englische Premierminister sprach, dass dieses Europa zusammenbrechen wird und sich die Staaten mit ungeheueren finanziellen Verlusten daraus zurückziehen werden. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die Russen zwar den Esel schlagen, aber den Reiter meinen.

Der einzig wahre Querdenker der Nation, der Altbundeskanzler Helmut Schmidt, hat sich zu Wort gemeldet und die Sanktionen als „dummes Zeug“ bezeichnet. Bundeskanzlerin Merkel dagegen empfing die nach wie vor rechtskräftig wegen Korruption verurteilte Julia Timoschenko, die Atomwaffen forderte, um damit gegen den russischen Teil der ukrainischen Bevölkerung vorzugehen, auf Augenhöhe. Die Großmachtinteressen der USA und die Besorgnis um Wahlniederlagen erklären aber nicht hinreichend diese Ukraine-Politik. Wenn man genauer hinsieht, scheint die unterschiedliche Reaktion auf die Auflösung der Sowjetunion eine Rolle zu spielen. In Westeuropa wurde mit dem Slogan „Sozialismus – gut gedacht, aber schlecht gemacht“ nicht der Sozialismus infrage gestellt, sondern nur die Methode, so erfolgte nur ein Wechsel zur psycho-marxistischen Sozialphilosophie. Als erstes besiegte diese mit der „political correctness“ ihren Gegenspieler, den Liberalismus, denn ein Liberalismus, der sich nur in zensierten Formen äußern darf, ist keiner mehr. Der Niedergang und das Verschwinden der FDP in der politischen Bedeutungslosigkeit haben hier ihre Ursache, denn mit dem Verschwinden einer Idee lösen sich auch die darauf begründeten Institute auf, weiteres wird mit Sicherheit folgen, vielleicht sogar Bürger- und Freiheitsrechte.

Politische Moral wird nicht nur gesetzt, sondern muss auch mit Sanktionen durchgesetzt werden. Seit Aristoteles wissen wir, dass der Mensch nicht nur Individuum, sondern auch „zoon politikon“ ist, ein Wesen, das auf Gemeinschaft nicht nur angelegt, sondern auch angewiesen ist. Im Gegensatz zum staatsterroristischen Kommunismus und Nationalsozialismus werden Abweichler heute nicht mehr weggesperrt oder gar hingerichtet, sondern deren Imago, d.h. die Gestalt, in der sie in der Gemeinschaft anwesend sind, wird misshandelt und zerstört und die Betroffenen in die Isolation und Vereinzelung getrieben und das alles in einem hochmoralischen Kontext.

Bundeskanzlerin Merkel rechtfertigte die Sanktionierung Russlands u.a. damit, dass die Ukraine ein Recht habe auf Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, wozu ihr die EU, Deutschland vorweg, jetzt verhelfe. Die jahrzehntelange Umwertung der Werte führte bei uns zur faktischen Abschaffung des allgemeinen Sittengesetzes, wodurch die Menschen die Fähigkeit verlieren, sittliche Entscheidungen zu treffen, und sie werden so zur manipulierbaren Masse für den politischen Moralismus. Man bedient sich des Gesetzes der Zirkumstimulation, das in etwa wie folgt funktioniert: in einer Gruppe, die einem Vortrag zuhört hat jemand wenig oder nichts verstanden. Wenn seine Nachbarn dann lautstark zustimmen, wie z.B mit „Sieg Heil“ oder „die Partei hat immer Recht“, dann geht der Unaufmerksame davon aus, dass diese anderen zugehört und verstanden haben und schließt sich an. Also Außensteuerung, statt nach sorgfältiger Abwägung eine sittliche Entscheidung zu treffen, die mit dem eigenen Ethos übereinstimmt. Wenn man bedenkt, dass die NS-Führung aus Mangel an internationalem Recht unter Berufung auf dieses allgemeine Sittengesetz zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, erkennt man was durch die Zerstörung der Sittlichkeit auf dem Spiel steht. „Ein Lüstchen am Tage, ein Lüstchen zur Nacht“, wie Nietzsche das nannte, genügt eben nicht, das Leben der Menschen und ihrer Gemeinschaften zu ordnen und damit zu befrieden, der unverzichtbaren Grundlage für alles, was wir als Lebensqualität bezeichnen. Als Draufgabe zu Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Gewaltenteilung wird als zusätzliches „Menschenrecht“ die straffreie Tötung ungeborener Kinder gefeiert. Auch die Gleichstellung von Schwulen und Lesben mit der Familie wird durch die Gender-Ideologie mit der angeblich frei wählbaren sexuellen Präferenz zum gleichen Range wie die Religionsfreiheit erhoben. Und das alles war nie Gegenstand eines Wahlkampfes oder einer Volksabstimmung, sondern ist verordnet von einem Medien-Macht-Komplex, der Züge einer Fremdherrschaft aufweist. Hat man das zu erwähnen vergessen, oder vertraut man darauf, dass sowieso niemand das Kleingedruckte im Anhang liest, obwohl auch diese Interpretation nicht alle Fragen beantwortet.

In der Geistesgeschichte findet man bei Dostojewski, einem ehemaligen Intellektuellen und Gegner des Zaren, aufschlussreiche Prognosen. Er sah den Sieg des Sozialismus als unvermeidbar voraus und auch dessen Auflösung nach seinem Sieg. Danach prognostizierte er die Rechristianisierung Russlands aus der Kraft der Orthodoxie, die nicht von der Aufklärung gebrochen wurde, und danach die Re-Christianisierung Westeuropas. Das wäre das Ende politisch gleichgeschalteter Kirchen, die sich diktieren lassen, wie sie das Wort Gottes zu verstehen und zu predigen haben und sich mit „Liebe, Liebe, Liebe“ und „Friede, Friede, Friede“ einlullen und verführen lassen, anstatt den Kampf mit den Geistern und Dämonen des Zeitalters aufzunehmen, wie ihnen geboten ist. Das macht die antirussische Ukraine-Politik viel verständlicher und sehr viel weniger gutmenschenartig, wie die Strafmaßnahmenerfinder vorgeben.

Bisher wurde uns erklärt, dass „political correctness“ eine Hervorbringung der wehrhaften Demokratie sei, die allein in der Lage sei, neuen Nationalismus und Rechtsextremismus erfolgreich zu verhindern. „Political correctness“ tritt in der Öffentlichkeit mit einer außerparlamentarischen Macht eines Netzwerkes von Hartz IV besoldeten Berufsdemonstranten auf, die mit Ausnahme von links gegen alles mobilisierbar sind. Sie erzwingt in strategischen Anliegen der politischen Debatte Meinungskonformität, in dem sie andere Meinungen unterdrückt und „Abweichler“ verfolgt und moralisierend abwertet, um ihr Gewicht in der Debatte zu mindern. Die gleichgeschaltete Presse hat die Funktion eines Transmissionsriemens und nimmt den Bürgern die Mühe der Bildung einer eigenen Meinung zunehmend ab. Dabei geraten in unserem Fall die provozierend wirkenden Vorwürfe gegen Russland und Putin in eine bedenkliche Nähe zu den „Hasswochen des Liebesministeriums“ in Georg Orwells Buch „1984“.

Schon aufgrund dieser Identifikationsmerkmale der „political correctness“ lässt sich mit Recht die Frage stellen, ob der Nationalsozialismus etwas anderes war als eine Form von „political correctness“ mit der erzwungenen Meinungskonformität und außerparlamentarischer Macht der SA? Oder war der Kommunismus keine Form von „political correctness“ mit seiner außerparlamentarischen Macht der Parteimilizen und der durch Gulags und Massenmorde erzwungenen Meinungskonformität? Die Unterschiede sind oberflächlich. Während die „political correctness“ im Nationalsozialismus und im Kommunismus von Staats wegen betrieben wurden, wird in der Demokratie „political correctness“ sogar aus Steuergeldern finanziert und in halbstaatlichen Strukturen von bevormundeten Institutionen der Volksherrschaft geduldet. Hindernde Bürger- und Freiheitsrechte werden in der Praxis zunächst auf einen „sowohl-als-auch-Status“ geschaltet oder gleich übergangen. Auch die Justiz räumt der „political correctness“ inzwischen Spielräume ein. „Political correctness“ ist aber keine aus der Notwendigkeit der Eindämmung von Nationalismus und Rechtsextremismus entwickelte akute Abwehr von Gefährdungen einer selbstbewussten Demokratie, sondern die Fortsetzung von Bewegungen, die durch freiheits- und demokratiefeindliche politische Verbrechen Gesinnungskonformität erzwingen und ihre Wurzeln in den geistigen Niederungen des 19. und 20. Jahrhunderts haben. „Political correctness“ ist nicht das Ergebnis einer Modernisierung, sondern die Fortdauer von etwas altem, mit dem schreckliche Erinnerungen an Leid, Erniedrigung und Tod verbunden sind. Es entlarvt die Bewältigungsindustrie, wenn sie die Essenz des Nationalsozialismus und Kommunismus in der zweiten deutschen Demokratie wieder zu einer solchen Macht kommen ließ nur durch einen Wechsel der Sanktionen, die nicht mehr gegen das Individuum, sondern gegen die Imago, die Gestalt, wie der Mensch in der Gesellschaft anwesend ist, gerichtet werden. Wenn unter dem Druck des Islam erkannt wird, dass durch die vorsätzliche Zerstörung des Denkens und der kulturellen Bindekräfte eines Volkes ebenso Verbrechen gegen die Menschheit verübt werden wie durch Todeslager, dann werden die Drahtzieher nicht mehr Gutmenschen, sondern in einem Atemzug mit Stalin, Hitler und Mao-Tsetung genannt werden. Es wird höchste Zeit, unser Bild von den Manipulatoren der „political correctness“ zu korrigieren, denn die angeblichen Verteidiger von Freiheit und Demokratie sind deren Totengräber.

Man darf nicht vergessen, dass bei der Entwicklung zum Nationalsozialismus und zum Kommunismus ab einem bestimmten Zeitpunkt eine Umkehr im Sinne von Verbot und Umsteuerung nicht mehr möglich war. Die „political correctness“ mit ihrem fast lückenlosen Netz der Äußerungskontrolle, gestützt auf Diffamierung und Mobbing Andersdenkender, nähert sich diesem Punkt bedenklich an. Wenn sich Parteien und Wähler, immerhin der Souverän unseres Staates, dagegen wehren wollten, setzt das voraus, dass die Lebenslüge unserer Demokratie „Wenn Du nicht wählen gehst, entscheiden die anderen“ als irreführend durchschaut wird. Dieser Slogan ist vordergründig ebenso richtig wie grundfalsch, denn wenn die „political correctness“ alle Parteien steuert und kontrolliert, wie einst die Blockflötenparteien der früheren DDR gesteuert waren, gleichen sich die Parteien einander bis zur Ununterscheidbarkeit an, und man kann wählen, welche Partei man will, eigentlich wählt man immer „political correctness“. Ohne Alternativen in der Politik herrscht eine diffuse Einheitsgesinnung, und die Bürger haben keine Wahlmöglichkeit, deshalb ist ein Urnengang ohne Alternativen sinnlos, weil es keine Entscheidung gibt. Die Herstellung von Alternativlosigkeit ist auch der Grund für die feindselige Propaganda und Diskreditierung von freien Gewerkschaften, wie Cockpit und GDL, die sich nicht dem Syndikat unterwerfen, sondern nur ihren Mitgliedern verpflichtet handeln. Das gleiche gilt auch für die AfD, die sich bisher dagegen gewehrt hat, zu einer weiteren „Blockflötenpartei“ zu werden. Die Nazimacher-Propaganda läuft bereits mit den bekannten Instrumenten auf vollen Touren: Generalverdacht auf rechte Umtriebe, verbotene Islamkritik, Fremdenfeindlichkeitsunterstellung durch Hinweise auf Fehler der Asylpolitik etc. Wenn kein Wunder geschieht, werden die genannten Hervorbringungen einer freiheitlichen-rechtsstaatlichen Demokratie das gleiche Schicksal erleiden wie ihre zahlreichen Vorgänger, denen sich die außerparlamentarische Macht gegen Recht und Gesetz entledigt hat. Erfolgsgaranten sind, wie bei allen solchen Gleichschaltungen, Kader von karriereversessenen „dunklen Anzügen“, vorwiegend in der Meinungsbildungsindustrie und irregeleitete Bürger, deren absichtlich verwirrtes Urteilsvermögen die blauäugige Naivität längst hinter sich gelassen hat. Der Religionsphilosoph Johann Gottlieb Fichte prognostizierte eine Phase der „Geschwätzkultur“, in der die Wahrheit nur als leere Formel und bloße Behauptung anwesend sei. Wir wissen heute, wovon er redete, nachdem alles, was orientierte und Zusammenhalt schuf, unter Bergen von haltlosem Gerede verschüttet wurde, um moralisierenden Götzenkulten Raum in den Köpfen und in der Öffentlichkeit zu schaffen. Dass aber die Abkehr von der sinnstiftenden Wahrheitssuche und Vernunft in ein flächendeckendes Reich der Lüge und Irreführung münden würde, konnte Fichte nicht vorhersehen. Martin Walser sprach in diesem Zusammenhang in seiner großen Harvard-Rede von „domestizierten Gewissen“.

Nachdem sich die psychomarxistische Sozialphilosophie in ganz Europa ausgebreitet hat und eine Art Staatsräson der EU geworden ist, erleben wir mit den Vorgängen um die Ukraine deren Ausgreifen in die internationale Politik. Das, was offensichtlich ist, Russland versucht wieder seine Rolle als Großmacht unter den neuen Bedingungen nach dem Zusammenbruch des Terrorsozialismus zurückzugewinnen, und eben dies versuchen die Amerikaner zu verhindern oder zumindestens zu erschweren. Was in Kasachstan gelungen war, als die dortigen Öl- und Gasvorräte durch die Kriegsdrohung der Monroe-Doktrin dem russischen Einfluss entzogen wurden, scheiterte kläglich in Georgien, und daraus lernend hat die westliche Hegemonialmacht der EU, vor allem Deutschland gestattet, die heißen Kohlen aus dem Feuer zu holen. Der moralistische Druck und die despektierliche Behandlung des Präsidenten eines großen Landes wie einen Erziehungsnotfall stellt einen neuen Tiefpunkt deutscher Politik dar. Dass man dafür die Wirtschaftsbeziehungen zu dem sich regenerierenden und aufstrebenden Russland als Druckmittel nutzt, ist nicht nachvollziehbar. Wenn man in einem Staat und in der EU die Wirtschaft nur mit einer Art Hütchenspiel mit Schulden und Defiziten am Laufen halten kann, setzt ein unnötiger Wirtschaftskrieg unser aller Wohl aufs Spiel. Hinzu kommt, dass wir unseren Wohlstand in einem rohstoffarmen Land durch Export verdienen und dringend auf Rohstoffe und Energie angewiesen sind, die Russland im Übermaß hat. Russlands Beziehungen zur Völkerwelt zu diffamieren und darüber hinaus wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen zu verhängen, folgt dem Muster der „political correctness“ im Inneren, zeugt aber in dieser Konstellation von eklatanter Fehleinschätzung, deren mögliche Folgen für uns selbst unabsehbar sind und verantwortungslos das Wohl des Staates gefährden. Wie der Verlauf zeigt, spielen diese wirtschaftlichen Überlegungen gar keine Rolle, sondern es geht u. a. darum, Russland der EU-Staatsräson der psychomarxistischen Sozialphilosophie zu unterwerfen.

Tatsächlich findet ein Machtkampf in Form eines Kulturkampfes statt, der mit wirtschaftlichen Repressionen geführt wird. Mit der Reaktion auf den Zusammenbruch der Sowjetunion hat dieser Prozess eigentlich schon begonnen. Europa sah unbegreiflicherweise trotz der Massenmorde des Kommunismus im Sowjetimperium keinen Anlass, sich vom Sozialismus zu distanzieren, wie z.B. Fukuschima am anderen Ende der Welt Anlass wurde, die Atomtechnologie bei uns abzuschaffen, sondern wechselte nur in den psychomarxistischen Sozialismus. Präsident Jelzin, der verstorbene Gouverneur von Sibirien General Lebed und auch der heutige Präsident Putin u.a. entschieden sich dafür, Russland aus der Nation und aus der Religion heraus zu erneuern. Damit gewinnt der Ukrainekonflikt eine ganz neue Bedeutung als Schlachtfeld für einen Kulturkampf. Wenn man diese Vorgänge auf den Punkt bringt, steht zur Debatte, ob Russland der westliche Psychomarxismus aufgezwungen wird oder die Prognose Dostojewskis von der Re-Christianisierung Russlands und dann Westeuropas Wirklichkeit wird. So oder so, das Ergebnis wird die Welt verändern.

Abschließend dazu noch zwei Bemerkungen: Als die 180 Lastwagen mit Hilfsgütern mit dreisten bürokratischen Schikanen von den notleidenden Frauen und Kindern und Alten im Donez-Becken ferngehalten wurden, wurde klar, dass die Not aufrechterhalten werden sollte, damit möglichst viele Russen ihre Koffer packen und nach Russland gehen und damit entsprechenden Einfluss und Berücksichtigung in der Ostukraine verlieren sollten. Nach Pressemeldungen hat diese Strategie über eine Million Russen aus der Ukraine vertrieben. Es wurde also eine ethnische Säuberung durch Not betrieben, was im Nebeneffekt beweist, dass die bei uns herrschende Moral mit der passenden Begründung auch zur Doppelmoral wird. Die neue Schutzmacht der Ukraine, die Bundesrepublik Deutschland, billigt diese Vorgänge durch Stillschweigen, ebenso wie die Rekrutierung von insgesamt ca. 70.000 zusätzlichen Soldaten. Diese kostspielige Aufrüstung angesichts der immer noch unbezahlten Gasschulden der Ukraine bei Russland können als nichts anderes als Kriegsvorbereitungen verstanden werden.

Offensichtlich hat sich ein ungeheueres Potential zusammengeballt, bestehend aus der amerikanischen Militärmacht inklusive der NATO, der westeuropäischen Industrie- und Wirtschaftsmacht und der Macht über die weltweiten Finanzströme und Währungen, die Russland unterwerfen will und unausgesprochen durch Auftreten und Wahl der Mittel den Ansatz für eine Weltregierung ohne jede demokratische Legitimierung bildet.

Der Versuch, Russland wirtschaftlich zu destabilisieren und damit gefügig zu machen, hat sich als unerwartet schwierig erwiesen, weil ein hohes Kriegsrisiko damit verbunden ist. Man hat offensichtlich vergessen, dass die Russen mit ihrer ungeheueren Leidensfähigkeit auch den Terrorsozialismus überlebt haben. Aber diese Kultur, in der Leiden und auch das gelegentliche Gegenteil als selbstverständlich akzeptiert werden, mit einer Kultur anzugreifen, in der das Leben als eine Wellnesskur verstanden wird, in der schon ein Notfallpsychologe bemüht wird, wenn sich jemand beim Rasieren geschnitten hat, ist wohl eher Ausdruck von Selbstüberschätzung.

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