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Albert Wieland --------------------- Urteilskraft statt Moral – Dilemmata* Zwei Diktaturen schufen in Deutschland wesentliche Bedingungen für den Erfolg der Frankfurter Sozialphilosophie, die weniger philosophisch sondern eher in der Tradition der Sophistik denkt. Tatsächlich trat aber damit eine revisionistische marxistische Bewegung auf, die sich mit einer Psychologie nach Reich zusammengetan hatte, deshalb zur Unterscheidung als Psychomarxismus bezeichnet. Vorzugsweise von den Folgen des 2. Weltkrieges entwurzelte Menschen nahmen das Programm des bekannten Vertreters der Frankfurter Schule, nämlich von Jürgen Habermas: „mehr Freiheit, mehr Demokratie wagen“ auf, und setzten das Programm um, das da vorgab: Entinstitutionalisierung der Gesellschaft Entethisierung des Rechts Entkriminalisierung des Verbrechens Entpathologisierung der Krankheit Entchristlichung Die Intellektuellenschicht, die mehr und mehr als Zuchtmeister auftrat, hat, wie wir täglich erfahren, ihre Ziele weitgehend erreicht. Bis auf die Tatsache, dass trotz inszenierter Massenveranstaltungen das Volk nicht erfasst wurde. Das belegt schlicht die Tatsache, dass z.B. Marcuse mit seiner Revolutionierung der Arbeitswelt gescheitert ist, denn unsere Wirtschaft läuft besser denn je. Wir lernen gegenwärtig, was wir aus dem suspendierten Kulturerbe von Platon und Aristoteles bereits hätten wissen können, dass nicht nur zu wenig Freiheit Probleme schafft, sondern auch zuviel. Diese Zeiten des „zuviel“ stellen uns vermehrt vor Entscheidungen, die keine besseren Alternativen anbieten, also Dilemmata sind. Die wichtigste Ressource in solchen Zeiten sind nicht Schablonen von Moral, die dazu noch aufgenötigt werden, sondern Urteilskraft. Diese zu stärken und zu unterstützen ist der Zweck unserer Arbeit in der Tradition von Günter Rohrmosers sozialer Diakonie der Vernunft. Diesem Anliegen dient auch die Besprechung einiger prägnanter Beispiele akuter Dilemmata. ---------- ---------- Die Frage, ob die Mächtigen im Staat herrschen sollten, beantwortete Sokrates mit Nein, weil sie den weniger Starken schlussendlich die letzten Freiheiten entziehen würden. Die Reichen lehnte er auch ab, weil die den weniger Reichen und Armen auch noch die letzten Mittel abnehmen würden. Auch die Anständigen hielt der Philosoph für ungeeignet, weil der Großteil der Menschen weniger anständig oder ganz unanständig sei und von den Anständigen deshalb verfolgt würde. Er kam zu dem Schluss, dass im Staat die mit einer Tauglichkeit, also die Tüchtigen herrschen sollen. Wie weit wir davon entfernt sind, war an Professor Sinn ablesbar, der eine Arete in Wirtschaftsangelegenheiten hat und in den Talkshows zu Griechenland vor moralisierendem Realitätsverlust nüchtern ernüchternde Beiträge brachte. Als das nicht aufgenommen wurde verstummte der Rückruf zur Realität. ---------- Aber auch das lässt noch Fragen offen, denn nach der Schrift steht das „Ja“ und das „Nein“ unter Verheißung, wenn da nicht die Aufklärung eine neue Form der Gottlosigkeit begründet hätte. Sie gibt an von Religion nicht betroffen und auch nicht betreffbar zu sein. Mit den Intellektuellen entstand eine vom Volk völlig abgelöste Bildungsschicht, die, wie Nietzsche formulierte, es vorzieht nicht zu finden statt zu suchen. Schon mit Maxim Gorki nahmen Scharen von sogenannten Kulturschaffenden die neuen Leitideen mit ihren Arbeiten auf oder „quaatschten“ in den Feuchtgebieten konterkarierenden Widersinns hoch dotiert herum, während z.B. ein strahlender Stern wie Mozart noch in einem Armengrab verscharrt wurde. Das würde auch erklären warum der weltweite Wiederaufstieg der Religion an diesem Europa im Gegensatz zu Afrika oder China spurlos vorbeigeht. Der Lavastrom der „viva vox dei“, der vom Nahen Osten aus um die Welt lief, rief dagegen Gewaltorgien von Verfolgung und Unterdrückung hervor und blieb doch siegreich. Das was die neuen Kirchen der herrschenden Ideologie angepasst als Christentum präsentieren ist wohl nicht einmal wert bekämpft zu werden. Das ist aber nicht allein dem äußeren Einfluss der Ideologie geschuldet, sondern auch einer inneren Entwicklung im Christentum, nicht nur im Protestantismus. Es handelt sich um die sogenannte Vergesetzlichung des Evangeliums, die schon Martin Luther Sorgen machte, denn er schrieb an eine Gemeinde: „Nun kennt ihr den Herrn Jesus und fangt wieder mit eueren Setzungen an.“ In gleicher Sache schrieb er an Philipp Melanchton, der diese Entwicklung vorantrieb: „Mein lieber Philippe, hätte ich gewusst, dass das, was ihr macht das Ergebnis der Reformation sei, hätte ich nie damit angefangen.“ Wie geht nun Vergesetzlichung vor sich? Angenommen ein Christ lebt in erbittertem Streit mit einem Mitchristen. Als er ein Almosen opfern will, verlangt Christus von ihm, er solle sich zuerst mit seinem Mitchristen versöhnen, bevor er seine Gabe auf den Altar legt. Nun wird als erstes unterstellt, dass dies nicht eine Entscheidung für diesen Einzelfall, zu einer bestimmten Zeit und bestimmten Umständen, also im Kairos sei, sondern für alle Streitigkeiten unter Christen immer gelte, obwohl allgemeinverbindliche Gebote beginnen mit: Du sollst ... Das ist die Spielwiese für Virtuosen, weil die so das Wesen Gottes zu ergründen versuchen, um Macht über Ihn zu gewinnen. Da dies mit vielen Zeugnissen göttlichen Eingreifens in individuelle Einzelfälle menschlicher Belange geschieht, erstarrt der Lavastrom Evangelium, der zwar unter der Kruste noch heiß ist, aber seine Dynamis verloren hat. Die Menschen, die sich in dieses Regelwerk einordnen, befinden sich in einer Sonderwelt abseits des tatsächlichen Ringens um eine schwer gefährdete Welt, die Erlösung braucht und keine „lebenden Bilder“ von frommen Christen. Die Aufklärung über die Vergesetzlichung ändert selbst nichts, außer dass man vielleicht weiß, wovor man sich hüten muss. Ansonsten bleibt es bei der Feststellung von Günter Rohrmoser in diese Richtung: „sie glauben nur, dass sie glauben“. Wenn das behoben würde, fehlt unserem Land immer noch eine geistige Initiative, die ideologische Restbestände aus dem letzten Jahrhundert entsorgt, bevor auch nur daran gedacht werden kann, die gröbsten Fehlentwicklungen zu korrigieren. Eine Vorgehensweise wie von Margret Thatcher mit ihrer Parole „I kill socialism in Great Britain“, die dem Sozialismus den „allein seligmachenden“ Anspruch austrieb, geht aus vielen Gründen in Deutschland nicht, obwohl auch die demokratische Rechte darauf hinarbeitet. Das ist nicht in der Macht der Ideologie begründet, sondern in unserer Herkunftskultur. Nur noch hoffnungslos Propagandagläubige erwarten etwas von einer Ideologie, die weltweit fast eine halbe Milliarde Menschen Soldaten, Zivilisten, Anderstdenkende und Ungeborene ums Leben gebracht hat. Wie eine Ideologie, die in allen ihren Spielarten weltweit versagt und mit einer solchen Blutschuld belastet ist, in Deutschland noch das Ansehen einer Weltanschauung genießen kann, mit der wir die Herausforderungen der Postmoderne besser als mit jeder anderen Theorie bewältigen könnten, sagt nichts über den Sozialismus aus, aber alles über die geistige Verfassung unseres Volkes. ---------- Da die Industrie, also die Konzerne, kaum oder keine Steuern bezahlen, kommt das Betriebskapital des Banken- und Finanzwesens vom Mittelstand und den gern zitierten kleinen Leuten. Die größten Summen entstehen aus der Streukapitalsammlung bei diesen „kleinen Leuten“, also der Arbeiter, Angestellten und Beamten, die für das Alter, Notzeiten und besondere Anschaffungen bei den Geldinstituten Sparkonten angelegt haben. Diejenigen, die richtig Geld haben, sind nicht Sparer, sondern das, was wir unter Anteilseignern oder Anlegern verstehen, die über Shareholder-Value an den Firmenerträgen mitverdienen, also eine Rendite erzielen. Die Sparer werden üblicherweise durch Zinsen für die Hergabe ihres Geldes entlohnt. Nun hat die EZB im Verbund mit den Staatsbanken diese Zinsen faktisch abgeschafft, in Einzelfällen müssen die Sparer sogar Minus-Zinsen für ihr Geld auf der Bank zahlen. Da die Inflation mit steigenden Preisen am privaten Kapital der Verbraucher nach wie vor zehrt, aber die Sparkapitalverzinsung als eine Art Inflationsausgleich wegfällt haben wir es mit einem ganz neuen Phänomen zu tun. Herr Bosbach, CDU, räumte zwar ein, dass der Finanzminister durch Kredite fast zum Null-Tarif jährlich mehr als 10 Milliarden an Zinsen einsparte. Was er zu erwähnen vergaß, ist, dass durch Umschuldung auf diese Kredite bei Bund, Ländern und Gemeinden ein vielfaches an Zinsen für Altschulden eingespart werden. Aber auch das belegt immer noch nicht die ungeheueren Summen, mit denen Europa durch die Gegend wirft. An den demokratischen Entscheidungen in Wahlen und Volksabstimmungen vorbei werden zusätzlich auf dem Verordnungswege öffentliche Leistungen wie z.B. die Pflege und Erhaltung örtlicher Straßennetze, aus der Steuerfinanzierung herausgenommen und den Bürgern zusätzlich aufgebürdet. Bisher hat noch niemand diese heimlichen Steuererhöhungen auf dem Verordnungswege beanstandet. Wenn man aber die steigenden Preise berücksichtigt und die Lohnerhöhungen, entstehen daraus erhebliche Steuermehreinnahmen und man hat nun in der Summe aller Phänomene die scheinbar unerschöpfliche Geldquelle ausgemacht. Da das in allen Mitgliedsländern geschieht übertrifft diese Manipulation des Finanz- und Steuersystems die Enteignungen von Volksvermögen durch die kommunistischen Verstaatlichungs- und Enteignungskampagnen um Längen. Pikanterweise regieren in ganz Europa Sozialisten allein oder mit, die ja doch angetreten waren, den Reichen zu nehmen und den Armen zu geben. Nachdem ihnen die Arbeiterschaft weggelaufen ist, sorgen sie sich wohl nur noch um ihr neues Proletariat, die Flüchtlinge. Wenn das Sparkapital wieder einigermaßen verzinst würde, wäre der Euro gestorben und Europa zerfiele. Dass die politische Kaste das weiß, erklärt die nicht nachvollziehbaren Entscheidungen in den Verhandlungen mit Griechenland, bezahlt mit dem teuersten was es gibt, mit sittlicher Autorität und mit Gesichtsverlust. Wie es scheint, erleben wir die Widerlegung des sozialistischen Glaubens, dass durch Zusammenschluss von vielen Schwachen und Maroden ein Starker entstehen würde. Tatsächlich aber bleibt der Zusammenschluss nach dem Gesetz der verbundenen Röhren auf dem Niveau der eingebrachten Mittelmäßigkeit. Griechenland Wann hat Griechenland die Beitrittskriterien zur EU erfüllt? Wann war Griechenland zuletzt kreditwürdig? Wann hat Griechenland lückenlos und glaubwürdig die Verwendung von Krediten und Hilfsgeldern nachgewiesen? Wann hat Griechenland zuletzt aus erwirtschaftetem Guthaben Schulden zurückgezahlt und nicht wie im Schneeballsystem mit neuen Schulden alte Löcher gestopft? Wann hat Griechenland zuletzt mit seinen Gläubigern Rückzahlungsvereinbarungen eingehalten und nicht während deren Laufzeit „Nachschüsse“ herausgeschlagen? Eigentlich wäre damit ohne Debatte das Thema Griechenland abgehandelt. Wäre da nicht Europa, das sich den Präzedenzfall eines Ausscheidens nicht leisten kann, da sonst das Kartenhaus EU ganz zerfallen könnte. Weil die politische Kaste Europas dafür jeden Preis zu zahlen bereit ist, erleben wir jetzt, wie ein Schwanz mit dem Hund wackelt. Die herablassenden Beleidigungen und einfallsreichen Tricksereien werden mit einer anscheinend unendlich strapazierbaren Verhandlungs- und Konzessionswilligkeit entgegen genommen und mit Beschwichtigungen beantwortet. Tsipras pokert volles Risiko, aber scheinbar versteht niemand was er wirklich will. Tsipras will nicht weniger als den Hinauswurf Griechenlands provozieren, um umgehend die dadurch entstandene Zahlungsunfähigkeit auszurufen, womit alle Schuldsummen weg wären. Das will sich die politische Kaste Europas nicht leisten und das wirft die Frage auf, zu wem Europa, das so an der Nase herumgeführt, beleidigt und erniedrigt wurde, eigentlich noch mit Autorität irgend etwas sagen will, nachdem es mit den neuen Werten im Supra- und Transnationalen vorgeführt und durch immer neue Zahlungen regelrecht ausgenommen wurde. Der griechische Ministerpräsident führt der Welt vor, wie man aus Dilemmata reiche Beute macht, was ihm die EU-Moralisten ja auch nicht besonders schwer gemacht haben. Abschließend bleibt festzustellen, dass er berechtigte Hoffnungen auf Erfolg hat. Tsipras ist wahrscheinlich die Klippe, auf der ein Schiff auf Abwegen die EU-Costa-Concordia zerschellt, er ist ein Schurke, aber ein hoch intelligenter. ==========
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