Zur Bundespräsidentenwahl - 10. Juni 2004


Der zum Bundespräsident gewählte Prof. Dr. Horst Köhler hat in seiner Adresse an die Bundesversammlung seine Forderung nach einer tiefgreifende und umfassenden Erneuerung Deutschlands bekräftigt. Seit der Gründung der Gesellschaft für Kulturwissenschaft sind wir für nichts anderes eingetreten als für die Weckung des Bewußtseins, dass eine solche nunmehr vom Bundespräsidenten geforderte Erneuerung Deutschlands notwendig ist.

Seitdem sind viele Jahre vergangen. Wie stellt sich die Lage heute dar? Der ehemalige Vorsitzende der IG Metall, Franz Steinkühler, erklärte in einem Interview des Politmagazins Cicero: "Ich stoße auf eine verkniffene Wut. Das macht mir Angst, weil die Wut so undefinierbar ist. Niemand weiß wohin sie sich entlädt. Aber sie wird sich entladen. Die Parteien, und zwar alle, werden in einem Maß verachtet, das ist geradezu unheimlich. Ich bin kein Pessimist, aber ich halte das für die größte Gefahr in der sich unsere Demokratie seit Weimar befindet. Die Regierenden haben versäumt, die Leute mitzunehmen. Die Leute glauben ihnen nichts mehr."

Man würde gerne erfahren, was die Politiker hätten tun müssen, um die Leute mitzunehmen, damit sie sich nicht betrogen fühlen. Ebenso fragt man sich, was für eine praktische Bedeutung die ständige Ermahnung durch Prof. Gesine Schwan hat, mehr Vertrauen in unsere Demokratie zu haben. Wenn die Verhältnisse selber nicht vertrauenswürdig sind, wenn die Politik nicht bereit und willens ist, ihre Versprechen zu erfüllen und den Erwartungen, die sie erzeugt hat zu entsprechen, dann ist das fehlende Vertrauen wohl, und zwar politisch, in der Sache begründet. Dass die politische Klasse heute die von Steinkühler bemerkte Abneigung, ja zum Teil Haß erfährt, ist die Folge ihrer eigenen Praxis. Eine an dem eigenen Machterhalt oder Machtgewinn orientierte Politik konnte nur solange erfolgreich sein, wie das von der Wirtschaft produzierte Sozialprodukt ausreichte, um alle Klientelwünsche und die der noch hinzugewünschten Wähler zu erfüllen. Das ist heute nicht mehr der Fall. Es bleibt aber bemerkenswert, dass es ein ehemaliger Gewerkschaftschef ist, der zwischen unserer Situation und der, die dem Jahre 1933 vorausgegangen ist, eine Ähnlichkeit feststellt. Ähnlichkeit bedeutet, dass angesichts der zunehmenden Wut, ja zum Teil Verzweiflung der Bürger, der Glaube an den Sinn der Demokratie selber schwindet. Voraussetzung, auch das hört man immer wieder, sei, dass es eine klare, nüchterne, ja unerbittliche Analyse der Herausforderungen gibt, vor denen wir stehen. Die wichtigste Voraussetzung, die man allerdings auch heute häufiger genannt hört, ist der biologische Schwund, ja die Selbstdezimierung der Deutschen. Es wird nur wenige Jahre dauern, bis sich die nun nachträglich als Scherzwort erklärte Behauptung des Spitzenkandidaten der SPD für die Europawahl, eines Türken, erfüllen könnte, der gesagt haben soll: In 100 Jahren werden wir die Mehrheit in Deutschland haben und das nicht kraft der Missionsfähigkeit des Islam, sondern der Gebärtüchtigkeit unserer türkischen Frauen. Keines der gegenwärtig diskutierten sogenannten Rezepte wird auch annähernd diesem drohenden Schwundprozess der Deutschen gerecht.

Was wir vielmehr erleben ist, und das kann man an dem Fall Kaplan sehr schön zeigen, dass nicht nur das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit und Entscheidungsfähigkeit der Demokratie, sondern auch der Glaube an die Fähigkeit des Rechtsstaates dahinschwindet, das Recht und den damit versprochenen Schutz der Bürger auch tatsächlich durchzusetzen. Es scheint hier ein fundamentales Mißverständnis des Rechtsstaates vorzuliegen. Es mag nicht in den klassischen Theorien des Rechtsstaates zu finden sein, aber in der geschichtlichen Wirklichkeit wohl, dass ein Rechtsstaat nur so stark ist, wie der Staat in der Lage ist, das von ihm gesetzte Recht auch durchzusetzen. Die Art und Weise wie sich der Staat gegenwärtig von einem Haßprediger auf der Nase herumtanzen läßt, zeugt nicht von der Stärke über die der Staat verfügen muß, um die Rechtsordnung noch wirksam zu sichern und zu schützen. Man muß doch sehr staunen, wenn zum Beispiel der bayrische Innenminister Beckstein erklärt: Es gebe viele Haßprediger in den muslimischen Moscheen, in denen zum Mord und zur Tötung von Christen und Ungläubigen aufgefordert wird. Offenbar ist Deutschland inzwischen ein besonders dankbares Betätigungsfeld für Haßprediger dieser Art geworden und unsere Politiker finden nichts dabei, dies mit dem Rechtsstaat zu vereinbaren.

Es muß allerdings gesehen werden, dass der Rechtsstaat nicht nur in seiner Praxis, sondern auch in seinem Begriff heute ernsthaft und erneut diskutiert werden muß. Das kann man sehr schön an dem Recht auf Religionsfreiheit zeigen. Religionsfreiheit war ursprünglich die Freiheit, Protestant oder Katholik zu sein. Dann war es die Freiheit, eine Religion zu haben oder keine. Und dann schließlich sicherte er das Recht eines jeden, dass ihm aus seiner Religionszugehörigkeit in seiner gesellschaftlichen und beruflichen Existenz keine Nachteile erwachsen. Heute aber geht es um etwas ganz anderes, um etwas Fundamentaleres, nämlich um die Frage, ob die Religionsgemeinschaft der Muslime eine gleichwertige und gleichberechtigte Religionsgemeinschaft neben den Christen und aller anderen noch denkbaren Religionen dieser Welt sein soll. Wenn der Staat sich religionsneutral verhält, dann muß er den Muslimen die gleichen Entfaltungsmöglichkeiten und Rechte zuerkennen, wie jeder anderen Religionsgemeinschaft auch. Da aber für die Muslime die Anerkennung eines religionsneutralen Staates eine Unmöglichkeit ist und sie zu hoffen scheinen, einst in diesem Staat auch die Mehrheit zu erlangen, dürfte diese Art von praktizierter Religionsfreiheit auch zu dem Ende eines Staates führen, der über die Möglichkeit und die Fähigkeit verfügt, sich zu Religionen neutral zu verhalten. Diese Diskussion steckt erst in den Anfängen und hat mit einer Kontroverse zwischen zwei führenden deutschen Lehrern des öffentlichen Rechtes erst begonnen.

Nun haben wir es in diesem Falle nicht nur mit einer innenpolitischen Herausforderung zu tun, sondern es geht um eine neue politische Situation der Welt insgesamt. Das was wir den terroristischen Teil des Islam nennen, befindet sich heute weltweit in einem Aufbruch und in einer Rückbesinnung auf seine Ursprünge und seine Quellen. Man kann doch nicht übersehen, dass dieser Teil des Islam, den wir extremistisch und terroristisch nennen, sich von ideologischen Überzeugungen leiten läßt, die doch eine verblüffende und alarmierende Ähnlichkeit mit dem Kern des Hitlerismus und des Nationalsozialismus haben. Es geht erneut um das, was Hitler als den Antisemitismus deklariert hat, es geht um den weltweiten Kampf gegen die westlich-dekadente Zivilisation, es geht um den Kampf gegen Amerika, gegen den Dollarimperialismus und es geht um die Befreiung der Völker von westlicher Hegemonie und Vorherrschaft. Das was wir feststellen können, und es mag sein, dass dies noch nicht mit dem gebührenden Nachdruck in das allgemeine Bewußtsein gerückt ist, ist also eine weltweite Wiederkehr der Ideenkonstellation, die die Deutschen in dem Kampf zwischen Rechts und Links während der Weimarer Republik bereits erlebt haben, mit den bekannten Folgen. Es wird daher zu fragen sein, ob diese Art der Vergangenheitsbewältigung, deren wir uns bisher befleißigt haben, dieser neuen weltgeschichtlichen Lage und Situation noch angemessen ist. Weltweite Rückgriffe auf nationalsozialistisches oder vergleichbares Gedankengut und die Tatsache, dass das deutsche Volk, wie bereits 1919 in der Weimarer Republik mit ihren 21 Regierungswechseln in 12 Jahren und im sogenannten Dritten Reich, nun auch in der zweiten deutschen Demokratie beginnt, sich betrogen zu fühlen, sollte auch für den eingefleischten Antifa-Aktionisten, die vom Bundespräsidenten geforderte umfassende Erneuerung Deutschlands aus seinen religiösen und kulturellen Wurzeln zu einer echten Alternative machen. In diesem Zusammenhang ist es doch eigentlich unbegreiflich, dass ein Präsident, der erklärt, er liebe sein Land, für diesen Ausspruch nachträglich rechenschaftspflichtig gemacht wird und die unterlegene Kandidatin Schwan erklärt, sie würde diesen Satz so nicht formulieren. Ein Land, in dem es Zweifel gibt, ob die führende Schicht, die sich für dieses Land als verantwortlich erklärt, dieses Land überhaupt liebt, ist schon seltsam genug, aber wenn eine schlichte Erklärung dieser Liebe allein verdächtig, obsolet, ja vielleicht als gefährlich gilt, dann kommt man doch an dem Schluß nicht vorbei, dass diesem Land nur schwer, wenn überhaupt noch zu helfen ist. Angesichts dieser neuen Qualitäten und Entwicklungen stellt sich die grundsätzliche Frage, ob die Deutschen überhaupt noch eine Zukunft als ein geschichtlich bedeutsames Volk haben. Es ist diese Frage und keine andere, die uns veranlaßt hat, nach einer zeitlichen Unterbrechung nunmehr unsere Tätigkeit, und das angemessen der neuen Lage, wiederaufzunehmen.

Vor einiger Zeit erklärte ein führender deutscher Nationalökonom, dass auch die ökonomische und soziale Krise der Bundesrepublik ohne eine Kulturrevolution nicht überwunden werden könne. Alle, die unsere Veröffentlichungen verfolgt haben, wissen, dass unser übergreifendes und immer wieder erneuertes Thema diese Art von Kulturrevolution ist. Die Geschichte hat also uns bestätigt und die, die uns ignoriert oder bekämpft haben, sind von ihr widerlegt worden. Grund genug von neuem wenigstens die Hoffnung zu schöpfen, dass die Fortführung und Erarbeitung unseres Themas, wenn auch vielleicht keinen Erfolg, aber doch einen unbezweifelbaren Sinn in sich selbst hat.

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