Zur Lage - Jahreswechsel 2006 / 2007


Vor einigen Tagen konnte man der Presse eine Analyse der Stimmungslage der Bevölkerung in der Bundesrepublik entnehmen. Diese wurde von einem der Sozialdemokratie nahe stehenden Wissenschaftler, der für seine Trendanalysen bekannt ist, angefertigt. Demnach sieht sich ein wachsender Teil der Bevölkerung materiell wie ideell unter Druck, die Wahrnehmung der Bedrohung nimmt rapide zu und das Vertrauen in die Kompetenz der politischen Klasse rapide ab. Weder glaubt man den Beschwichtigungsformeln in Bezug auf Migration und Islamismus, noch meint man, dass "Partyotismus" alles ist, was an Identität benötigt wird. Das Vertrauen in den Staat schwindet, was bleibt ist eine Art Selbstbehauptungstrotz, gepaart mit dem Unwillen, sich noch länger an geltende Sprachregelungen zu halten.

Wenn die Darstellung dieser Stimmungslage zutrifft, und es gibt eine überwältigende Fülle von Zeugnissen die dafür sprechen, dass sie richtig von dem Wissenschaftler erfasst wurde, dann ist auch bemerkenswert, dass der konjunkturelle Aufschwung mit all seinen positiven Ergebnissen offenbar nicht beeindruckt. Die Menschen im Lande, so spricht man ja von ihnen, erkennen, dass dieser konjunkturelle Aufschwung wenig mit der Politik der regierenden großen Koalition zu tun hat. Der größte Teil des Aufschwungs dürfte auf die hervorragende Arbeit der Umstrukturierung der Wirtschaft zurückzuführen sein. Ein entscheidender Teil ist der nun schon seit Jahren anhaltenden Weltkonjunktur zu verdanken und sicher beginnen sich die unter Gerhard Schröder beschlossenen Reformen jetzt auszuwirken. Beklemmend ist an dieser Analyse, dass offensichtlich der Spalt, der die Bevölkerung von der politischen Klasse und damit der Politik insgesamt trennt, noch nie so groß gewesen ist wie zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Sollte es der großen Koalition nicht gelingen, die strukturellen Probleme in Angriff zu nehmen und zu lösen, müssen wir mit einer offen ausbrechenden Demokratiekrise in Deutschland rechnen. Darauf haben wir schon mehrfach vergeblich hingewiesen. Nun ist die Zuversicht, dass die Regierung die entscheidenden Probleme auf dem Arbeitsmarkt, im Bürokratieabbau und im Bereich von Forschung und Bildung aufgreifen könnte, noch einmal dramatisch geschwunden, wenn man den Verlauf der Debatte um das wichtigste Projekt, die Gesundheitsreform, verfolgt. Die Einsichtigen in den Regierungsparteien scheinen inzwischen zu dem Schluss gelangt zu sein, dass keine Reform besser wäre als diese. Es bezweifeln kompetente Stimmen in zunehmenden Maße sogar die Verfassungskonformität der in der Diskussion befindlichen Maßnahmen. Sollte also der bisherige Entwurf unverändert vom Parlament abgesegnet werden, würde der Bundespräsident wahrscheinlich erneut gezwungen sein, dieses Gesetz wegen Unvereinbarkeit mit der Verfassung zurückzuweisen. Auch dieser vom Bundespräsidenten wiederholt geführte Nachweis, dass diese Koalition nicht einmal in der Lage ist, solide handwerkliche Arbeit bei der Herstellung ihrer Gesetzestexte zu leisten, dürfte zusätzlich dazu angetan sein, den Zweifel an den Fähigkeiten unserer politischen Klasse zu nähren.

Zu den Punkten, die von der Bevölkerung, die immer weniger bereit ist den von Vertretern der Regierung abgegebenen Erklärungen zu folgen, als unbefriedigend erkannt werden, gehören ganz sicher die Aktivitäten und jüngsten Äußerungen des einst als konservativ geltenden Innenministers der Bundesrepublik, Wolfgang Schäuble. Er hat vor wenigen Tagen an alle Mitglieder der CDU einen Brief geschrieben, in welchem er sie auffordert, gesellschaftspolitischen Entwicklungen und dem Zusammenleben von Kulturen gegenüber offen zu sein. Übersteigerter Patriotismus und Nationalismus seien eine falsche Antwort. Moscheen und Synagogen in unserem Lande stellten keine Bedrohung dar, sondern wären vielmehr eine Bereicherung. Nur Offenheit sei mit einer freiheitlichen Ordnung zu vereinbaren. An diesen Erklärungen ist bemerkenswert, dass in der so genannten Integrationspolitik die Parolen wiederholt werden, mit denen uns vor allem die Grüne-Partei seit 20 oder sogar 30 Jahren plagt, die ja auch immer davon gesprochen hat, dass die Transformation Deutschlands in eine transkulturelle Gesellschaft ein großer Fortschritt und eine große Bereicherung darstellen würde. Diese Versicherung kann nun jeder in seinem Bereich mit den Ergebnissen vergleichen, die über 3 Millionen Muslime in unserem Lande hervorbringen. Man hat nicht den Eindruck, dass diejenigen, die reale und konkrete Erfahrungen mit dieser so genannten Bereicherung gemacht haben, dem Innenminister zustimmen.

Man fragt sich, was Schäuble wohl unter den "neuen gesellschaftspolitischen Entwicklungen" versteht, denen die CDU-Mitglieder offen gegenüber treten sollen. Meint er das so genannte Antidiskriminierungsgesetz, von dem gerade noch der Präsident der europäischen Kommission Barroso darlegte, dass dieses Gesetz in keinem Land mit einem solchen Maß an Überbürokratisierung durchgeführt und durchgesetzt werde wie in Deutschland.

Oder meint er die neue Familienpolitik, die sich ja radikal von dem bisherigen Familienbild der CDU verabschiedet und die ganz offensichtlich auch voll der von den Grünen in ihrer kulturkämpferischen Programmatik geforderten Verwandlung der Familie und des Familienverständnisses entspricht.

Oder sollte Herr Schäuble der Meinung sein, dass die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften noch nicht weit genug vorangetrieben sei und die völlige Gleichstellung als eine zu preisende und zu fordernde neue gesellschaftliche Entwicklung angesehen werden soll.

Noch interessanter ist die Frage, was Herr Schäuble damit meint, wenn er erklärt, dass übersteigerter Patriotismus und Nationalismus die falsche Antwort sei. Man fragt sich unwillkürlich, in welchem Lande lebt dieser Innenminister? Wo gibt es in Deutschland übersteigerten Patriotismus? Er kann doch nicht den von ihm selbst immer wieder belobigten und gefeierten Ausbruch nationaler Gefühle anlässlich der Weltmeisterschaft in Deutschland meinen. Die ist längst abgeklungen und der tristen Normalität gewichen, wobei ein sich durch spielerische Spaßantriebe artikulierender Patriotismus ja weit davon entfernt ist, ein wirklicher Patriotismus zu sein.

Noch erstaunlicher ist, dass Schäuble auch vor übersteigertem Nationalismus warnt. Wo gibt es den in der Bundesrepublik? Er kann doch nicht im Ernst behaupten, dass die 2-3 Prozent, die die NPD wählen, mit ihrem gesteigerten Nationalismus eine Gefahr für die Bundesrepublik und ihre Integrationspolitik darstellen. Wo soll dieser übersteigerte Nationalismus in der Bundesrepublik zu beobachten sein?

Was die Freude über die Koexistenz von Moscheen, Synagogen und christlichen Kirchen angeht, so haben in der Tat unsere muslimischen Mitbürger allen Grund, sich darüber zu freuen, dass über die 800 bereits bestehenden Moscheen hinaus nun auch die größten Moscheen in Duisburg und in Berlin entstehen werden. Nur ist die Existenz von Synagogen in Deutschland kein neues Datum, sondern hat bis zu dem Zeitpunkt, als die Nazis sie niedergebrannt haben, als völlig normal und akzeptiert in Deutschland gegolten und es war für das damals noch christlichere Deutschland ein Segen, dass durch die Existenz der Synagogen an den gemeinsam mit Juden geteilten Glauben an den gleichen Gott erinnert wurde. Anders dürfte das Verhältnis von Moscheen und christlichen Kirchen zu bewerten sein, von denen übrigens keine neuen entstehen, sondern vielmehr bereits bestehende in zunehmendem Maße geschlossen und umgewandelt werden. In den Moscheen aber wird in der Tat ein anderer Gott verehrt als der Gott, an den Juden und Christen glauben.

Alles dies wird begründet mit einer freiheitlichen Ordnung, deren Prinzip es ist, offen zu sein. Die gefährlichste Phrase, die die Deutschen seit Jahrzehnten in die Irre führt, ist dieses ständige diffuse Gerede von der Offenheit. Freiheit ist ein hohes Gut, aber Freiheit konstituiert nichts. Wenn ich dagegen eine Ordnung offen nenne, dann kommt es nicht darauf an, emphatisch die Offenheit zu beschwören, sondern zu erklären, was dann überhaupt noch Ordnung heißt. Denn durch Ordnung wird ja gerade notwendiger Weise eine Ab- und eine Eingrenzung vollzogen und wenn diese Grenze nicht auch gegen alle Ambitionen nach weiterer Öffnung verteidigt wird, hört diese Ordnung eben auf zu existieren.

Wir sind relativ ausführlich auf diese Proklamation unseres Innenministers eingegangen, weil sie zeigt, dass anstelle der einstmals von der CDU geforderten geistigen Führung und der damals auch von Schäuble bedachten Frage, welche Kräfte denn eigentlich diese Gesellschaft noch zusammenhalten, wenig, um genauer zu sein, nichts übrig geblieben ist. Das bedeutet für die Demokratie und ihre Entwicklung in Deutschland aber, dass wir gegenwärtig ein Parteienspektrum haben, in dem der gesamte Bereich der rechten Mitte freigegeben ist und es nur noch liberale, links-liberale und links orientierte Kräfte gibt. Ein Tatbestand, der solange andauern wird, bis sich geklärt haben wird, was es mit Kurt Becks Beschwörung der Mitte und Guido Westerwelles Proklamation der FDP als einer Partei, die sich der vergessenen Mitte annehmen wird, auf sich hat.

Da wir offensichtlich bereits in absehbarer Zeit wieder mit der ganzen Gewalt der ungelösten Probleme konfrontiert werden, ist die Frage, die der Innenminister offensichtlich vergessen hat, heute um so dringlicher: Was hält diese Gesellschaft zusammen?

Hier ist es nun außerordentlich aufschlussreich zu beobachten, dass Professor Walter, einer der führenden Wahlforscher der Bundesrepublik, immer größere Bevölkerungsteile von einer Sehnsucht nach konservativen Werten und konservativen Tugenden erfasst sieht. Auch oberflächliche Trendforscher bestätigen, dass gerade in der jüngeren Generation das Bedürfnis nach Wiedergewinnung so genannter alter konservativer Werte und Einstellungen größer ist, als es je zu einem früheren Zeitpunkt der Fall war.

Wir erleben also gegenwärtig das Paradox, dass sich der größte Teil des politischen Systems in eine den dringendsten Wünschen und Bedürfnissen der Bevölkerung entgegengesetzte Richtung bewegt. Dieser höchst gefährliche, auf die Dauer brisante Sachverhalt, hängt natürlich damit zusammen, dass der Begriff des Konservativen ideologiepolitisch abgewertet, zerstört und in einer einseitigen bis unzulässigen Weise mit der Genese des Nationalsozialismus verbunden wurde.

Wie Sie wissen, ist unsere Gesellschaft für Kulturwissenschaft seit 20 Jahren darum bemüht, diese Verzerrung zu überwinden und wieder ein unserer gegenwärtigen, so genannten modernen Situation angemessenes Verständnis von konservativ zu entwickeln.

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