Leitthema - 29. November 2007

Günter Rohrmoser
Der Philosoph wird 80 *


Wenn ein Philosoph ein biblisches Alter erreicht, stellt sich die Frage, wie man dieses Ereignis gebührend würdigen kann. Eine Lebensspanne von 80 Jahren ist eigentlich nur ein biologischer Tatbestand. Deshalb ist ein solches Datum sinnentleert, wenn es nicht zum Anlass genommen wird, das Wirken der betreffenden Person zu betrachten. Und da entsteht bei Günter Rohrmoser eine nahezu unüberwindliche Schwierigkeit: Welcher Gratulierende könnte die Lebensarbeit, das Wissen und die Fähigkeiten dieses mit Abstand markantesten Vertreters der Münsteraner Ritterschule ermessen, durchdringen und solcherart angeeignet in Bezug setzen zum Kulturerbe unseres Volkes? Nur so könnte eine Würdigung, die den Namen verdient und nicht nur eine höfliche Eloge ist, das zusammenfassend offenlegen, was dem Jubilar seine Würde verleiht. Wir wollen statt dessen die Wechselbeziehungen Günter Rohrmosers zu seiner Zeit und seiner Zeit zu ihm an einigen Beispielen darstellen.

Obwohl seine Bücher u.a. in russischen, tschechischen, polnischen, amerikanischen, israelischen und chinesischen Universitätsbibliotheken stehen, lebt er in Deutschland weitgehend unbeachtet und von der öffentlichen Debatte ausgegrenzt. Die noch herrschende linksliberale Hegemonie hat ein eher gespaltenes Verhältnis zu ihm, vielleicht weil er ihre Theorie besser beherrscht und auslegen kann als ihre prominentesten Chefideologen. Gebildete Linke, die ihn zunehmend lesen, halten ihn für einen Gegner des Sozialismus. Denn Rohrmoser besteht darauf, dass die Linke und die Linksliberalen nach fast 40 Jahren geistig-kultureller Hegemonie endlich die Verantwortung für das übernehmen, was sie auch ungewollt hervorgebracht haben. Ohne eine solche Verantwortungsübernahme gibt es, frei nach Rohrmoser, keine Möglichkeit, die Korrekturen vorzunehmen, die diese Bewegung, mit ihrem Anspruch Gerechtigkeit zu schaffen, vor einem schmählichen Untergang bewahren könnte. Das hat keinesfalls etwas mit Feindschaft zu tun.

Sehr viel heikler sind Rohrmosers Beziehungen zu den zerstreuten Resten des deutschen Bürgertums. Den protestantischen Teil hält er wohl für einen hoffnungslosen Fall, weil er die schlimmsten Befürchtungen des preußischen Kulturstaatssekretärs Troeltsch über den Wandel der Kirche, die sich auf Martin Luther beruft, zu einer moralisierenden Sozialreligion nicht nur eingetreten, sondern noch übertroffen sieht. Der Lutheraner Rohrmoser hat andererseits eine gewisse Affinität zur Katholischen Kirche, die er als eine Institution anerkennt, in der durch das Festhalten an den Geboten Gottes die willkürliche Triebhaftigkeit eines ins Anarchistische umschlagenden Freiheitsbegriffes noch nicht die Macht übernommen hat. Er wurde auch von Papst Johannes Paul II. in Privataudienz empfangen.

Einerseits ist er scharfer Kritiker der Demokratie, andererseits leidenschaftlicher Demokrat. Dieser scheinbare Widerspruch begründet sich in Rohrmosers Überzeugung, dass Demokraten nicht vom Himmel fallen, sondern erzogen, vielleicht sogar ausgebildet werden müssen. Diese Ausbildung zur Demokratie und die Vermittlung ihrer unverzichtbaren Grundlagen vermisst Rohrmoser in unserem moralisierenden Politikbetrieb. Seine größte Sorge ist, dass daran die Demokratie nicht nur in Deutschland, sondern auch darüber hinaus scheitern könnte.

Es ist viel gerätselt worden, wessen Feind der Jubilar sei und wessen Geschäft er betreibe. Pauschal kann man sagen, dass das dazu Geäußerte, wenn nicht blanker Unsinn, so doch von taktischen Feindschaftsverhältnissen bestimmt ist. Neben der Verantwortungszuweisung an den aus der Aufklärung hervorgegangenen Sozialismus gibt es eine weitere. Diese richtet sich an die Adresse des deutschen Bürgertums, das nach seiner Ansicht die Lehre Christi zunächst verniedlichend entschärfte, um nach dem Ausrinnen seiner Substanz davon abzufallen, wodurch wir abholbar wurden für charismatische Demagogen und ihre Untaten. Auch die Verwüstung der abendländischen Kultur in die herrschende Diktatur des Relativismus, der jetzt dem Islam Tür und Tor zur gewaltlosen Durchdringung öffnet, also kapituliert, als wenn es nichts gäbe, das sich lohnte, behauptet und festgehalten zu werden, hat nach Rohrmoser dort ihre Ursache.

Am Rande seiner aktuellen, vor vollen Hörsäalen nach wie vor frei gehaltenen Vorlesungen behandelte der Jubilar den Rückgriff von Jürgen Habermas auf das Christentum. Als Jürgen Habermas, wohl auch in seiner Richtung gemünzt, forderte, die Christen wieder zur öffentlichen Debatte zuzulassen, wodurch er zugab, dass sie zuvor ausgeschlossen waren, veranlasste Rohrmoser zu der Feststellung, dass ganz andere Leute beschlossen hätten, ihn nicht an der öffentlichen Debatte teilnehmen zu lassen.

Die Deutschen, die vehement die Menschenrechte zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten thematisieren und geradezu rigoros darauf bestehen, dass ihr Kollektiv, das deutsche Volk, auf Dauer ohne diese Würde zu leben habe, hält er wohl für schwer pathologisch.

Rohrmoser äußerte einmal, dass man an der Inkonsequenz und dem Widerspruch den Weisen erkenne, denn konsequent seien nur Kleingeister. Christ und doch schärfster Kritiker des bourgeoisen Christentums, Respekt vor dem Sozialismus und doch sein unbestechlichster Analyst, Verfechter der Demokratie und doch entschlossenster Kritiker ihrer Dekadenz, allein in diesen Inkonsequenzen und Spannungsfeldern steckt der Stoff für mehr als einen Weisen.

Seine Gelehrsamkeit und umfassende Kenntnis unserer Geistesgeschichte macht Günter Rohrmoser zum lebenden Gedächtnis unserer suspendierten Kultur. Aus deren Fülle heraus ist er zu Analysen fähig, die seine umfassende Urteilskraft belegen. So nimmt es nicht wunder, dass ihn in einer Art merkwürdiger Übereinstimmung das Bürgertum ebenso wie das ehemals fortschrittliche Lager für genial hält. Die Absicht ist unverkennbar, Rohrmoser als eine Art Sondertalent, der gar nicht anders könne als dieser seiner Besonderheit zu folgen, auszugrenzen. Damit wäre seine Arbeit nur eine Funktion dieser Besonderheit, über die andere eben nicht verfügen.

Die Bedingung für sein Werk ist seine strenge Disziplin und ein unstillbarer Wissensdurst, die ihn motivieren alles zu lesen, was hervorgebracht wurde und was diese Zeit hervorbringt. Täglich liest er die fünf bis sechs wichtigsten Zeitungen, die verbreitetsten Illustrierten, verfolgt die Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt, sieht die anspruchsvolleren Talkshows und bereitet sich darüberhinaus penibel auf seine Vorlesungen vor. Diesem Höchstmaß des suchenden sich Abarbeitens entspricht das Übermaß an Einsicht und Erkenntnis und die daraus resultierende unbestechliche Urteilskraft.

Für die Bürgerlichen beweist er in Tat und Wahrheit, dass unsere Kultur leben könnte. Für die Linken verkörpert er die christliche Kultur, die sie zerstören wollen, deren Reichtum und Großartigkeit aber weit über ihre idealistischen Vorstellungen von einer neuen Welt, die nicht kommen will, hinausgeht. Zusammenfassend kann man sagen, ein überaus gebildeter Vertreter unseres Volkes, der in den Überresten unserer Kultur und der Moderne zwar keine Heimat hat, aber deshalb um so mehr deren wahrer Interpret ist.

Sein Werk ist nicht in einem Satz widerlegt worden! Dazu hätte man sich mit diesem Werk zuvor auseinandersetzen müssen, das aber wollen oder können die nicht, die ihn mit dem Bann belegt haben. Damit dürfte absehbar sein, dass das Werk des solchermaßen Geächteten zum Prüfstein wird für die dafür Verantwortlichen. Seine umfassende Gelehrsamkeit, das profunde geistesgeschichtliche Wissen, seine scharfsinnigen Analysen, sein völliger Verzicht auf Einseitigkeit haben weitgehend unbemerkt die Tür zu einem neuen Zeitalter aufgestoßen. Um dem zu erwartenden Einspruch des Jubilars zu begegnen, der mit Sicherheit Hegel und Shakespeare dafür benennen wird, sei festgestellt, dass diese wohl die Tür geöffnet haben, aber Rohrmoser hat sie am Ende der Moderne weit aufgestossen, so dass eine Epoche hindurchgehen könnte. In dieser neuen Epoche fände die Moderne wieder zu ihren Wurzeln im Christentum und könnte Gott im Geist und der Wahrheit verehren. Bleibt schlussendlich festzustellen, niemand bemerkt diese offene Tür, weil offensichtlich die Not, die damit gewendet werden könnte, noch nicht ganz da ist, – aber es wird ja fleißig daran gearbeitet.

Vorstand und Mitglieder der Gesellschaft für Kulturwissenschaft wünschen dem begnadeten Philosophen Günter Rohrmoser den reichen Segen des Geistes, den er so unvergleichlich bezeugt, Gesundheit und ungebrochene Schaffenskraft.
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© 2007 Gesellschaft für Kulturwissenschaft e.V., D-76467 Bietigheim/Baden

* Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Gesellschaft für Kulturwissenschaft e.V.