Leitthema - 25. Januar 2008

Laudatio der Russischen Akademie der Wissenschaften
für den Philosophen Günter Rohrmoser *


Laudator: Prof. Dr. Wjatscheslaw Daschitschew


Prof. Dr. habil. Wjatscheslaw Daschitschew wurde 1925 in Moskau geboren. Von 1943 bis 1945 im Fronteinsatz, dann Studium an der Moskauer Universität. Als Leiter der Abteilung für außenpolitische Probleme im Rahmen der Akademie der Wissenschaften und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Konsultativen Beirats im Außenministerium setzte er sich mutig für die Überwindung des Stalinismus und der messianischen Herrschaftspolitik des Kremls ein. Seine Ideen trugen wesentlich zur Aufhebung der sowjetischen Dominanz über Ostmitteleuropa, zur Einstellung des Kalten Krieges und zur Wiedervereinigung Deutschlands bei.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Herr Professor Rohrmoser,
es ist für mich eine große Ehre und ein großes Glück, Sie zu ihrem 80. Geburtstag würdigen zu dürfen. Was sind Sie eigentlich für mich, für meine Kollegen aus der Russischen Akademie und für unsere interessierte Leserschaft in Russland? Kurz gesagt, Sie sind für uns alle eine der ehrwürdigsten und prominentesten geistigen Größen in der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Ihre Ideen und Konzepte gingen für immer in die Schatzkammer des menschlichen Denkens ein. Sie sind ein glänzender Interpret der besten Traditionen der klassischen deutschen Philosophie. Die geistigen Interessen und Leistungen von Ihnen waren erstaunlich vielfältig. Sie promovierten in Philosophie, Theologie, Geschichte, Germanistik und Nationalökonomie. Nicht jedem gelingt es, so viele Fächer sozusagen zu umarmen. 1961 habilitieren Sie an der Universität Köln mit Ihrer Schrift „Subjektivität und Verdinglichung – Theologie und Gesellschaft im Denken des jungen Hegel“. Diese Schrift war ein erstes Herangehen, Ihr erstes Herangehen an die komplizierten Prozesse der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Im weiteren Verlauf Ihres Lebens vereinigten Sie erfolgreich die Erkenntnis der Phänomene unserer materiellen und geistigen Existenz mit der Lehrtätigkeit und Vorlesungen an zahlreichen deutschen Universitäten. Ihnen haben tausende von deutschen und ausländischen Studenten ihre geistige Reife zu verdanken. Sie sorgten für philosophischen Nachwuchs in Deutschland und anderen Ländern. Die Lieblingsobjekte Ihrer Forschungen waren Religionsphilosophie, politische Philosophie, die Theorie der Gesellschaft. Ihre Verdienste in dem Bereich der Neuinterpretierung der Religionsphilosophie veranlassten den Papst Johannes Paul II Sie 1981 zu empfangen. Nicht jeder verdient eine solche Würde. Ist es aber nicht erstaunlich, dass Sie in demselben Jahr von der himmlischen Sphäre auf unsere sündhafte Erde wieder herunterkamen, als Sie von der Bundesregierung in eine Sonderkommission berufen wurden, um die geistigen Ursachen des Terrorismus zu erforschen und zu helfen dieses asoziale Phänomen richtig zu begreifen, um dagegen entsprechende Maßnahmen treffen zu können. Professor Rohrmoser bereicherte die moderne Philosophie mit hervorragenden Werken und Schriften. Unter ihnen sind vor allem folgende zu nennen:

1970, also vor 37 Jahren, erschien das erste fundamentale Werk „Das Elend der kritischen Theorie“. Wir können aus diesem Werk viel schöpfen für unsere russische Gegenwart. Wir haben wirklich die Krise der Theorie – wir haben überhaupt keine Theorie. Wir wissen nicht, wohin wir steuern.

1983 kam ein neues Werk „Die Krise der politischen Kultur“. Die Mängel der politischen Kultur sind zur Zeit enorm groß. Viele deutsche Philosophen, vor allem Kant, haben daran gearbeitet. Im „Europainstitut Klaus Mehnert“ zu Königsberg habe ich als Gastprofessor meine Vorlesungen immer mit dem Nachlass von Kant begonnen. Zweimal war ich Gastprofessor an diesem sehr interessanten deutsch-russischen europäischen Klaus-Mehnert-Institut. In diesem Institut wird der Unterricht in deutscher Sprache für postgraduierte Studenten gehalten. Mehrere Artikel habe ich dem Generaloberst Ludwig Beck gewidmet. Es ist erstaunlich, wie dieser sich für die politische Kultur einsetzte. Er sagte, jede Staatspolitik muss sittlich sein. Unsittlichkeit wird in der Politik bestraft. Aber heute denken alle, Politik ist eine schmutzige Sache. Nein, die Politik, die dem Volke dient, ist eine saubere Sache. Nur, es gibt schmutzige Politiker, die schmutzige Politik betreiben.

1984 erschien eine neue Schrift „Geistige Wende – warum?“. Und immer wieder unterstreichen Sie hervorhebend die geistigen Werte. Also das, was die Grundlage der menschlichen Existenz eigentlich sein muss.

Dann erscheinen auch andere interessante und nicht nur interessante, sondern grundlegend bedeutende Werke: „Der Ernstfall – Die Krise unserer liberalen Republik“, 1994. In Russland erleben wir diese Krise der liberalen Politik aus der Jelzin-Ära. Deswegen liegt dieses Werk uns sehr nahe. Dann kommen „Emanzipation oder Freiheit“, „Christliche Dekadenz in unserer Zeit – Plädoyer für die christliche Vernunft“, „Geistiges Vakuum – Spätfolgen einer Kulturrevolution“. Leider haben wir jetzt in Russland auch ein geistiges Vakuum. Wenn es keine Theorie gibt, keine Erklärung unseres Systems, unserer Staatsordnung, des Modells der gesellschaftlichen Entwicklung, wenn wir also zur Selbsterkenntnis nicht fähig sind, dann kann sich die Gesellschaft nicht im richtigen Sinne entwickeln. Speziell aus dem Werk „Geistiges Vakuum“ können wir viel Nützliches schöpfen.

Dann kommt ein geistig-geschichtliches Werk „Deutschlands Tragödie – Der geistige Weg in den Nationalsozialismus“, erschienen 2002. Dieses Werk ist mir auch sehr nahe. Ich habe ein fundamentales vierbändiges Werk in Russland herausgegeben, „Hitlers Strategie – Ein Weg in die Katastrophe“. Aber ich betrachtete darin nur strategische, genauer militärstrategische Probleme, die Diplomatie und die Wirtschaft, die der Strategie Hitlers eigen waren.

Wie jeden großen Denker kennzeichnet Sie, lieber Herr Professor Rohrmoser, die kritische Wahrnehmung der realen Dinge, der Metamorphosen der Entwicklung der Gesellschaft, des Staates und der Politik. Zweifel ist die Wurzel der Erkenntnis und der Suche nach der Wahrheit. Diese Weisheit ist typisch für Ihr Denken und verkörpert in Ihren Werken. Sehr zahlreich ist die Literatur über Ihre philosophische Erkenntnis. Und das ist wichtig, nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere Länder. Weit bekannt und hoch geschätzt sind Sie auch in Russland. Ihnen wurde ein Kapitel der Russischen Anthologie der größten, ich unterstreiche, der größten politischen Denker der Welt gewidmet. Herausgegeben 1997 in russischer Sprache. Erwähnt werden muss auch die Schrift „Der Ernstfall auch in Rußland – Russische Philosophen diskutieren Günter Rohrmoser“, erschienen 1997. Das belegt, welches Interesse Sie bei den russischen Philosophen, Soziologen und Politologen hervorgerufen haben. Der geistige Nachlass von Professor Rohrmoser ist besonders wertvoll, um den Weg der richtigen sozialpolitischen Entwicklung Russlands herauszufinden. Ich sage das ganz offen, wir erleben den tragischen Zerfall der Geistigkeit, der Sittlichkeit und der Moral als Resultat des Zerfalls unserer staatlichen Ordnung in Russland in den 90iger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Und bis jetzt kann das geistige Vakuum, die Krise der Theorie, die gesellschaftspolitische Orientierungslosigkeit in Russland nicht überwunden werden. Das ist die Folge der zügellosen Herrschaft des Liberalismus, entartet in Russland zum Anarcholiberalismus. Es ist erlaubt, alles zu tun. Es ist verboten, zu verbieten. So war der Slogan unter Jelzin. Deswegen kann die Bedeutung des gesunden Konservatismus von Professor Rohrmoser für die russischen Zustände nicht überschätzt werden.

Lieber Herr Professor Rohrmoser, meine Kollegen und ich aus der russischen Akademie der Wissenschaften wünschen Ihnen viele, viele Jahre guter Gesundheit und unerschöpflicher, unversiegbarer Schaffenskraft. Ich habe gehört, dass Sie uns bald mit einem neuen Werk erfreuen und beglücken werden. Wir sind gespannt und erwarten Ihr neues Buch.


Sein und Schein

Die besondere Art eines Philosophen sich zu bedanken


Meine sehr verehrten Damen und Herren, was soll man dazu sagen? Meine Fähigkeit, mich rhetorisch zu äußern, ist so oft erwähnt worden, verehrter Herr Rektor Liebig, um nicht zu sagen, gerühmt worden, dass ich eigentlich gestehen muss, dass mir zum ersten Mal die Worte fehlen. Ich weiß nicht was ich sagen soll. Wenn ich daran denke als ich zum ersten Mal die Universität betrat, da gab es ein großes Schild, auf dem stand: „Gott schütze unser Haus vor Filbinger, Rohrmoser und Strauß“. Da kann ich heute nur sagen, welch einer unendlichen Güte Gottes habe ich es zu verdanken, dass er dem Willen dieser Studenten nicht gefolgt ist. Es muss also wohl der Wille Gottes gewesen sein, der mich in das Sanctissimo dieser Universität, wenn auch nur inkarniert in der Güte unseres Rektors, geführt hat. Und seit diesem Plakat der Studenten fügen die Journalien dieses Landes, wenn mein Name fällt, das Epiteton hinzu: umstritten. Er ist umstritten. Er mag ja gut sein oder er mag schlecht sein, egal, er ist umstritten. Und wenn ich mir dann diese Festschrift ansehe, meine Damen und Herren, da versagt mir nun vollends meine Phantasie und mein Vorstellungsvermögen. Dass sich einmal zum 80. Geburtstag über die Grenzen alter Ideologien, über die Parteien, über die Teile Deutschlands, über Grenzen hinweg so viele zusammenfinden würden, war nicht vorhersehbar. Vom Kardinal der römisch-katholischen Kirche, der wohlwollend meines 80. Geburtstages gedenkt, bis zum ehemaligen Mitglied des Politbüros der SED und denen, die zu dieser Zeit, lieber Herr Faust, in den Gefängnissen dieses Arbeiter- und Bauernstaates gesessen haben. Ideologische Grenzen überschreiten selbst die Repräsentanten der deutschen Linken, und einer ist eigentlich nur durch Krankheit gehindert worden, nicht auch seinen Beitrag zu leisten, der schon genannte Peter von Oertzen.

Und hier muss ich gestehen, meine Damen und Herren, und das ist eigentlich keine schöne Geschichte, denn wenn in diesen Zeiten des Umstrittenseins Leute auch öffentlich den Mut hatten, sich fair und sachlich zu äußern, dann waren es nicht die Konservativen, sondern es waren Linke. Es war eben ein von Oertzen, der damals in der ZEIT schrieb, und die hatten es schwer, seine Rezension zu veröffentlichen. Es sind Schlachten in der Redaktion vorausgegangen, um zu schreiben, Rohrmoser sei ein leidenschaftlicher Liberaler, ein also in die Freiheit Verliebter, so wie Leidenschaft zu jeder Liebe gehört, und er ist ein überzeugter Konservativer.

Und andere, die ich nicht nennen will, meinen, dass ich mit der Zeit nicht mitgekommen, zu langsam sei im Denken und nun eigentlich verdiente, als ein archaisches Überbleibsel dem verdienten Vergessen, dem Inferno Dantes sozusagen, anheimgestellt zu werden.

Und dann denke ich immer wieder an diese schöne Geschichte, dass zwei zu einem Richter kommen, der eine beklagt sich und bringt sein Anliegen vor und dann sagt der Richter, du hast Recht. Und dann trägt der andere sein Anliegen vor und da sagt der Richter, du hast auch Recht. Darüber ist der andere ganz böse und sagt, aber einer von uns beiden kann doch nur Recht haben. Und da sagt der Richter, du hast auch Recht.

Meine Damen und Herren, wofür ich plädieren möchte, ist das vergessene Recht des Menschen auf Irrtum. Die eigentliche Inhumanität, manchmal bis zur Erbarmungslosigkeit getrieben, ist der Versuch, jemanden auf irgend einen Satz, den er vor 30 Jahren geäußert hat, festzulegen. Ihn aus dem Zusammenhang herauszunehmen, oder wenn man vor 10 Jahren an einem Tisch mit einem gesessen hat, der dann später ein anderer wurde als der, der er zu dem Zeitpunkt war, als er da gesessen hat, dann ist der, der vor 10 Jahren neben ihm gesessen hat, der gleichen Meinung, die der andere heute vertritt. Es ist ein beliebtes Mittel von einem Mann, dessen Namen ich hier nicht nennen will, zu behaupten, dass ich sozusagen in den Orkus gehörte, mich aus der demokratischen Gemeinschaft ausgeschlossen hätte, weil ich einmal lange mit Horst Mahler gesprochen habe. Leider vergisst er immer hinzuzufügen, dass der spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder mit bei der Diskussion war.

Wenn wir alle die, die nicht so denken, wie wir gerne möchten, dass alle denken sollen, wenn wir die verbannen und ausschließen, zerstören wir dann nicht die wichtigste Quelle, aus der die Demokratie quillt? Kant sagte, wenn ich das Recht und die Freiheit zur öffentlichen Rede beschneide, beschneide und zerstöre ich letztenendes das Denken. Die Problematik unserer Demokratie, wie jeder Demokratie, ist, dass im öffentlichen politischen Kampf nicht Irrtum mit Wahrheit ringt, sondern immer Meinungen. Und Meinungen meinen wir doch, seien alle relativ und jeder hätte mit seiner Vorstellung von der Wahrheit eben nur eine Meinung. Wenn das so ist, dann dürfen wir doch keinen von dieser Meinungsbildung ausschließen, denn es könnte ja sein, dass der Ausgeschlossene die richtige Meinung hat, die das Kollektiv, wenn es an die Konsenswahrheit glaubt, nicht haben kann. Wenn wir glauben, das einzige wahrheitsverbürgende Moment sei, dass ein Konsens über irgendetwas zustande gekommen ist, dann vergessen wir die bitterste Erfahrung des 20. Jahrhunderts, dass nicht nur einzelne, sondern ganze Kollektive, nicht nur in Irrtum, sondern in Wahn verfallen können. Die Subjektivität durch die Intersubjektivität zu ersetzen ändert ja nichts daran, dass es eine Subjektivität ist. Wenn wir auch nicht erwarten können, dass die Demokratie sich auf eine Wahrheit verständigen kann – das zu glauben wäre selber ein Wahn – worauf sie sich aber verständigen können muss, ist, dafür zu sorgen, dass es Korrektur gibt für die Irrtümer, die sie begeht. Wir irren uns durch die Irrtümer zur Wahrheit durch, würde unser Freund Odo Marquardt sagen. So wie bei Brecht einer gefragt wird: Was machst du gerade? Der antwortet: Ich bereite meinen nächsten Irrtum vor. Wenn das so ist, dann ist das wichtigste für die Demokratie, dass es eine Korrektur des Irrtums gibt, wenn er erkannt wird. Und wenn uns etwas vereinen sollte in unserer tiefen Sorge um die gegenwärtige Entwicklung, nicht nur unseres Landes, lieber Herr Daschitschew, dann dies, dass wir die Fähigkeit zur Korrektur von Irrtümern verlieren. Und so kann ich eigentlich nur hoffen, dass es später auch mal Historiker gibt, die dann feststellen, er war wirklich leidenschaftlich in die Freiheit verliebt und überzeugter Konservativer und dann sagen, wenn man mehr auf ihn gehört hätte, wäre das vielleicht für die Entwicklung Deutschlands gar nicht das Schlechteste gewesen.

Leider muss ich beklagen, dass wir Deutsche die Fähigkeit zu einer nüchternen Art von Welt- und Realitätsbetrachtung, vorsichtig gesagt, im Begriffe sind zu verlieren. Der Schleier der Provinzialität verengt und verkürzt uns den Blick auf die Welt, auf die scheinbar alles fundamental bestimmende Frage, ob ein Mindestlohn eingeführt werden soll oder nicht, statt in einer geradezu notwendigen und kathartischen Weise die Realität in den Blick zu nehmen. Dieses Problem, das uns seit Jahren beschäftigt, ist eigentlich ein uraltes, nicht einmal primär der Philosophie entstammendes, sondern ein mit dem Selbstbewusstwerden Europas gegebenes, nämlich das Problem von Sein und Schein, von Wirklichkeit und von dem, was man nur meint, dass sie sei. Noch im Angesicht der Katastrophe, die wir gerade hinter uns hatten, schien sich etwas als Möglichkeit abzuzeichnen, was von einer tiefgreifenden Wende und einem Umbruch der Wirklichkeit gezeugt hätte, nämlich das, was die Pariser Charta versprochen hat. Das war ein Augenblick, an dem schien sich Europa einig zu sein, dass man über die traditionelle Nationalstaatenpolitik, über die imperialistischen Strategien hinaus versuchen müsse, eine Lehre zu ziehen aus dem, was man an Katastrophen im 20. Jahrhundert erlebt hatte. Alle Geschichte hat etwas katastrophisches, das braucht man einem Philosophen wie Hegel, den man immer noch einen Idealisten nennt, nicht zu sagen, der sagt, das was die Geschichte als Anblick bietet, ist, dass das Glück der Völker und der Individuen sinnlos hingeschlachtet wird und das, was der Anblick der Geschichte uns hinterlässt ist eine tiefe Trauer. Und etwas von dieser Tiefe der Trauer, aus der auch Erkenntnisse erwachsen können, hatte dieser Augenblick der Pariser Charta. Diese Chance, die uns die Geschichte vielleicht nur einen Augenblick geboten hat, haben wir alle verschlafen, weil wir traditionelle Sichtweisen haben übermächtig werden lassen über die Chance des Neuen. Das Alte hat das Neue noch einmal eingeholt und übermächtigt. Der II. Weltkrieg wurde beendet von Seiten der agierenden Mächte nach den Perspektiven, nach denen sie ihn gewonnen haben. Letztenendes bestimmt von Interessen, die die jeweils obwaltenden Ideologien nahegelegt haben. Und dieser ideologische Schleier, der uns daran hindert, das zu erkennen, was eigentlich unsere wahren und wirklichen, auch den Augenblick überdauernden Interessen sind, verstellt uns den Blick.

Als ich zum ersten Mal die große Freude hatte, in Russland in der Akademie der Wissenschaften mit zwanzig russischen Philosophen und anderen Geisteswissenschaftlern zu diskutieren, machte ich eine einzigartige Erfahrung, denn ein Geist der Freiheit, der unbeschränkten Freiheit, alles nicht nur zu sagen was man denkt, sondern auch zu denken was man bisher eigentlich nicht zu denken vermochte, bestimmte diesen Tag. Eine Erfahrung, die ich sicher so nie in einem vergleichbaren Kreis mit deutschen Intellektuellen, Wissenschaftlern und Philosophen machen könnte. An diesem Tag war der Schleier der Ideologien zerrissen und man tat einen Blick in den Abgrund der Geschichte. Und aus diesem Abgrund stellt sich die Frage ganz fundamental: Wird Europa überleben können? Wird Europa eine Chance haben, oder wird Europa an seinen alten traditionellen Konflikten und Interessen und ideologischen Zuordnungsverhältnissen zu Grunde gehen? Das war die entscheidende Frage. Und wenn man aus dieser Tiefe heraus die Zukunft Europas ins Auge fasst, dann kann jeder, der nur seine Augen öffnet, sehen, dass neue Mächte aufsteigen. Die Rede ist vom asiatischen Jahrhundert. Schon heute richten wir unsere Hoffnung, dass uns die Hypothekenkrise in USA nicht einhole, auf China. Wir hoffen auf China, um diesen Konjunktureinbruch möglicherweise zu überleben. In der zweiten Hälfe dieses 21. Jahrhunderts spätestens wird die von Europa bestimmte Weltgeschichte ein für alle mal zu Ende sein. Das ist eine weltgeschichtliche Zäsur, für die uns die Kategorien fehlen, um sie zu erfassen. Es ist ganz deutlich, auch wenn man das vielleicht nicht denken, geschweige denn sagen darf, wenn Europa überhaupt eine Chance haben soll, dies was auf uns zukommt zu bestehen, wird das nicht gelingen ohne ein in Europa integriertes, auf einem neuen Fundament sich zusammenfindendes Deutschland und Russland und letztenendes einem Amerika, das aus den Erfahrungen, die es jetzt macht, Lehren zieht. Vater Bush hat eine neue Weltordnung verkündet. Aber der Versuch mit dem „American Way of Life“, nach den amerikanischen Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten, diese neue Weltordnung zu schaffen, ist vor unseren Augen zusammengebrochen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Chinesen nicht im Traum daran denken, das was wir als universalistische Menschenrechtspolitik bezeichnen als für sie verbindlich überhaupt auch nur einzusehen. Wir haben, was die Wiedervereinigung angeht, ebenso viel Russland wie den Amerikanern zu verdanken. Nur, was diese nicht sehen, ist, dass dieses letzte Aufbäumen unter amerikanischer Hegemonie und Führung, nach westlichem Denken und Vorstellungen die Welt zu gestalten, den Weltfrieden und die Einheit herbeizuführen, vor unseren Augen zusammenbricht. Wir müssen den Amerikanern zureden wie einem müden Gaul, dass sie ihre wahren Interessen einsehen können. Dieser Versuch, die alte Einkreisungspolitik des II. Weltkrieges gegenüber Russland antagonistisch auszukosten, wird letztenendes auch den Amerikanern selber nur schaden. Die neuen Weltstrukturen stellen die Frage nach dem Überleben des Westens, und Russland gehört zum Westen. Russland ist bei allen politischen und ideologischen Differenzen ein Teil unserer Kultur. Wir haben doch auch in Deutschland eine kulturelle philosophische Symbiose gehabt. Wer möchte denn auf das verzichten was, wie Thomas Mann es genannt hat, die großen Heiligen der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts uns vermittelt haben. In der Endphase des II. Weltkrieges, als der Bombenhagel der alliierten Bomber über Bochum niederging, habe ich in einem Keller gesessen und Dostojewskis „Die Dämonen“ gelesen. Das muss man sich vorstellen, in der Nazizeit liest ein damals durch die Ideologie indoktrinierter, zum eigenen Denken nicht fähiger Junge in einem Luftschutzkeller Dostojewski, während amerikanische Bomber die Stadt zerstören. Dostojewski, der aus der Tiefe seiner christlich-spirituellen Geschichtsschau ein Denker war, der im 20. Jahrhundert in Teilen auf die konservative Revolution einen maßgebenden Einfluss gehabt hat. Auch die nationale Kontinuität und das kulturelle Bewusstsein wäre ohne diesen Beitrag Dostojewskis nicht denkbar, denn Dostojewski stand geradezu für den Begriff einer konservativen Revolution. Wenn man heute hört, dass es in Russland Plakate gibt, auf denen „für Glauben und Vaterland“ steht, dann hält man doch inne und begreift, dass die tiefere Dimension dieser sich am Horizont abzeichnenden neuen Weltordnung nicht durch eine Macht bestimmt sein wird, auch nicht durch zwei, sondern sie wird durch mehrere bestimmt sein und diese transnationalen Zusammenschlüsse bilden ganz neue politische Phänomene, für die uns im postnationalstaatlichen Zeitalter eigentlich die Kategorien fehlen. Der Westen wird ohne Russland und ohne ein im letzten Augenblick zum vernünftigen Erkennen der eigenen Interessen fähiges Amerika, das sich wieder seiner Verantwortung gegenüber dem Überleben des Westens und nicht nur Amerikas als eines Teils dieses Westens bewusst wird, keine Chance haben. Die große Frage ist, ob wir das erkennen? Ob die Vernunft reicht, um Sein und Schein unterscheiden zu können? Eigentlich stehen wir damit wieder bei Platon, dass der Mensch, nachdem ihm durch eine sinnliche Wahrnehmung der Prozess wieder in Gang gesetzt wurde, sich dessen erinnert, was er einmal in einem vorgeburtlichen Zustand gesehen hat, nämlich die Idee. Eine Wahrheit, die nur darum wahr ist, weil sie immer wahr ist. Das was uns von der Antike unterscheidet, ist, dass eine Wahrheit, die sich selbst ändert und dem Wandel unterliegt, überhaupt keine Wahrheit ist. In der „Phänomenologie des Geistes“ im Abschnitt über die sinnliche Erkenntnis schreibt Hegel an die Wand: „Jetzt ist Tag.“ Und da war auch Tag, aber zwölf Stunden später war Nacht und die sinnliche Wahrheit war schal geworden. Dem Erkennen dessen was immer ist, was konstituierend ist, was allein wert ist, wahr genannt zu werden, steht dem Menschen der Schein und der Anschein dessen, was er dann für Wirklichkeit hält entgegen. Europa beginnt mit der herrlichen Darstellung bei Homer, dessen erste Aussage ist, dass die Menschen verstrickt sind in den Schein. Sie erkennen das Wahre und das Sein nicht, es sei denn, es würde ihnen zuteil durch die Kunde der Musen, der Töchter der Mnemosyne, der Erinnerung. Von da an ist Kampf, geistiger Kampf, in Deutschland, der Welt, der Philosophie, ein Kampf gegen das Vergessen. Wir brauchen Philosophie, weil wir ohne die Philosophie vergessen, was wir schon mal gewusst haben.

Das zweite Stadium beginnt bei Hesiod. Was ruft dort die Musen herbei? Ein Unrecht ist geschehen. Die Weltordnung ist erschüttert, denn sein Bruder Perseus hat Hesiod um den ihm zustehenden Erbteil betrogen. Die Weltordnung ist erschüttert, wenn Unrecht geschieht. Alle Revolution in Europa ist entweder eine Revolution zur Durchsetzung des Rechtes, oder sie ist ein Phantasma, wie das, das der französischen Revolution von einem der Philosophie abgeneigten Bürgertum eingegeben worden ist. Diesem Phantasma sind auch die Deutschen und die Russen gefolgt.

Aber der Morgen lichtet sich, der Nebel weicht und die Töchter der Musen kommen. Aber die Musen können Wahres und Falsches sagen und meistens sagen sie das Falsche. Aber wenn sie wollen, können sie auch das Wahre sagen. So sind wir mit unseren Kräften unrettbar verstrickt in die für uns alternativlosen Falsches oder Wahres.

Bei Zenophanes heißt es dann, Sein und Schein sind so durcheinander gemischt, dass wir beides nicht mehr unterscheiden können. Und genau das ist unser derzeitiger Zustand. Das ganze Elend des Verwirkens dieser Chance der Pariser Charta ist, dass wir nicht mehr unterscheiden können zwischen Sein und Schein und damit zu hoffnungslosen Opfern von jedem geworden sind, der die modernen Instrumente beherrscht und weiß wie man manipuliert.

Dann kommt Pamenides und schneidet Sein und Schein auseinander. Er fährt empor zum Olymp und da öffnet die Göttin die Tore und dann sieht er, was nicht der Philosoph produziert, sondern er sieht der Wahrheit wohl gegründetes Herz. Er sieht die Aleteia, die sich ihm entbirgt. Und nur das, was diesem Aleteia-Wesen entspricht, ist das Sein und ist in jeglicher Hinsicht immer dasselbe, sich nicht wandelnd, das erzene wandellose Herz der Wahrheit, das ist die Philosophie.

Die Grundfrage dann bei Platon ist nicht, wie ist Wahrheit möglich, denn die kann man sehen, wenn man sich erinnert, sondern wie ist Irrtum möglich. Aber das heißt, dass der Schein mit dem Sein selbst gegeben ist und der Mensch den Stricken des Irrtums nicht entrinnt. Und an diesem Punkt ist der griechischen Tragödie noch ein Blick tiefer gelungen, denn das, was die Menschen in die Katastrophe stürzt, ist die Verblendung. Sie sind blind. Sie sind verblendet. Sie sind von dem Schein so besessen, dass sie nicht von ihm lassen können. Aber die Ursache dieses Scheins ist der Trug der Gottheit. Für uns ein unglaublicher Gedanke. Der Gott selbst verhängt den Schein. Der Gott selbst ist trügerisch dem gegenüber, den er vernichten will. Dazu gibt es ein christliches Komplement, denn bei Paulus heißt es: „ ... und er hat sie dahin gegeben ihrem Sinn“. Und dahingegeben ihrem Sinn ist Gericht Gottes, denn sie sind sich selbst überlassen und müssen nun versuchen, wieder zu der Kenntnis zu kommen, die erlaubt, zwischen Schein und Sein zu unterscheiden. Und das ist der tiefste philosophische Sinn von Kritik. Man muss scheiden Sein vom Schein. Ohne Philosophie kämpft die Politik vergebens gegen den Schein und die Verblendung.

Es macht mich deshalb glücklich, bei dem zufälligen Anlass meines 80. Geburtstages, was bedeutet das schon, sozusagen ein Votum, eine Demonstration für die Philosophie abgeben zu können. Ich darf mich bei allen, die mich so zahlreich in Form von Briefen, Telefonanrufen und wertvollen Gaben erfreut haben und mir eine solche Woge der Sympathie, des Wohlwollens und wenn man es richtig versteht, auch von etwas Liebe zuteil haben werden lassen, bedanken. Für einen alten Mann, der gebeugt noch die letzten Jahre seines Lebens zu bewältigen hat, ist das eigentlich doch ein großes, so nicht verdientes und erwartetes Geschenk.
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