Zur Lage - 6. Februar 2008


Als vor zwei Jahren die große Koalition in Berlin gebildet wurde, hat man sie mit dem Argument gerechtfertigt, dass allein sie in der Lage sei, die neuen großen Herausforderungen, die die Globalisierung und der Geburtenrückgang für die Bundesrepublik Deutschland darstellen, lösen könne. Diese Herausforderung bedeutete konkret, den deutschen Sozialstaat so zu reformieren, dass er an die neuen Bedingungen, von denen man ausgehen muss, dass sie langfristig Geltung haben werden, angepasst wird. Von der Erhaltung des Sozialstaates hängt, wie wir im Blick auf die vergangenen Jahrzehnte der Geschichte der Bundesrepublik überzeugt sein können, letztlich auch die innere Stabilität der Demokratie in Deutschland ab. Es war nach den bisherigen Erfahrungen evident, dass dieses große säkulare Reformwerk, wenn wir es so nennen wollen, nur von einer großen Koalition bewältigt werden kann. In jeder anderen Koalition wäre das Scheitern eines solchen Versuches absehbar gewesen.

Wenn man nun nach zwei Jahren eine Bilanz ziehen sollte, dann wird man zunächst feststellen müssen, dass die Koalition durchaus einige wichtige Projekte im Sinne einer solchen Reform auf den Weg gebracht hat. Extrem begünstigt durch die Weltkonjunktur sind entscheidende Verbesserungen des Arbeitsmarktes gelungen, ja sogar Schritte zur Dezimierung der Schuldenaufnahme für den Staatshaushalt konnten eingeleitet werden. Nun ist natürlich die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und des Arbeitsmarktes nicht allein auf die Reformfreudigkeit der großen Koalition zurückzuführen, sondern in erster Linie eine Auswirkung des Reformwerkes des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder und der schon genannten guten und länger anhaltenden Weltkonjunktur. Entscheidend ist das aber ermöglicht worden durch Anstrengungen, die die deutsche, vor allen Dingen die mittelständische Wirtschaft an Strukturveränderungen geleistet hat. Aber wenn man auf dem Wege ist, ist man noch lange nicht am Ziel angekommen.

Niemand weiß, wie lange die Weltkonjunktur andauern wird, zumal sich die Daten gegenwärtig bedrohlich zu verdüstern beginnen. Ob China und Indien allein im Stande sein werden, die zu erwartenden Entwicklungen für Deutschland zu kompensieren, ist eine völlig offene Frage und kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beantwortet werden.

Vor diesem Hintergrund kommt der Debatte, die wir gegenwärtig in der Bundesrepublik um die Frage führen, wie man mit dem Phänomen jugendlicher Gewalttäter umgehen soll, doch ein erheblicher Erkenntniswert zu. Hier handelt es sich, wie die Debatte inzwischen unbestritten bewiesen hat, keineswegs um ein Randphänomen, sondern um eine zentrale sicherheitspolitische Herausforderung. Es lohnt sich nicht, auf die in dieser Debatte von den unterschiedlichen Kombattanten ausgetauschten Argumente einzugehen, denn in Wahrheit geht es ja nicht um die Frage was man tun könnte, um diesem Phänomen und auch dem disproportionalen Anteil, den Jungendliche mit sogenanntem Imigrantenhintergrund daran haben, auf gesetzgeberischem, sozialtherapeutischem oder pädagogischem Wege gerecht zu werden, sondern es geht konkret um den Ausgang der Wahlen in Hessen und die Rolle, die der hessische Ministerpräsident in dieser Debatte gespielt hat. Wenn man mit einer gewissen Distanz den bisherigen Verlauf der Debatte zusammenfassen soll, dann hat man den Eindruck, dass die uralte Konstellation eines dramatischen Kampfes zwischen rechts und links sich wieder hergestellt hat, und dass es darum geht, einen ruchlosen Anschlag von rechts gegen unsere liberale Demokratie abzuwehren. Diese Reideologisierung bei der Diskussion eines sachlichen Problems hat einen beunruhigenden Aspekt. Man kann sich nach der vor allen Dingen von sozialdemokratischer Seite geführten Kampagne nur schwer vorstellen, dass diese Koalition für den Rest ihrer Laufzeit noch im Stande wäre, die großen Reformen weiter oder gar zu einem befriedigenden Ende zu führen. Es spricht vielmehr alles dafür, dass die Koalition am Ende ihrer gemeinsamen Handlungsfähigkeit angekommen ist und sich damit die große Erwartung, dass ein für die Zukunft der Bundesrepublik entscheidendes Problem mit ihr gelöst werden könnte, keine Erfüllung finden wird. Diese große Koalition wird nicht mehr in der Lage sein, die von einer veränderten Weltlage geschaffene Herausforderung zu beantworten.

Von welcher Dreier-Koalition könnte man sich dann vorstellen, dass sie im Stande sein könnte, das Problem zu lösen, an dem die große Koalition versagt hat? Auch bei optimistischer Betrachtung wird man zu einem auf der ganzen Linie negativen Ergebnis kommen. Wenn das apostrophierte innere Reformproblem durch keine der denkbaren Parteienkonstellationen in der Regierung gelöst werden kann, von dessen Lösung aber die Stabilität und die Zukunft der Demokratie in Deutschland abhängen, dann ist es kein verwegener Gedanke sich vorzustellen, dass wir gegenwärtig hinter der vordergründigen Kulisse einer noch positiven Konjunktur einen wesentlichen Schritt auf dem Weg in die innere Destabilisierung unserer Demokratie erleben. Offensichtlich bedarf es nicht 20 oder 30 Parteien, um die parteipolitische Lähmung der Demokratie herbeizuführen, sondern es genügt ein realistischer Blick auf die Möglichkeiten der gegenwärtigen Parteien, miteinander nicht eine an ihren parteipolitischen Zielen primär orientierte, sondern eine an dem Ziel der Stabilisierung der Demokratie orientierte Politik zu machen.

Dieser offensichtliche innere Progress auf dem Weg der Destabilisierung der Demokratie und der gesellschaftspolitischen Konstellation in Deutschland wäre aber nicht zu verstehen, ohne der neuen Linkspartei die nötige Beachtung zu schenken. In der Tat ist es wohl in erster Linie Oskar Lafontaine gelungen, die Schleusen in Richtung einer progressiven Erosion unserer Demokratie zu öffnen. Denn auf andere Weise wäre der dramatische Rückgang in der Zustimmung zur SPD nicht zu erklären und es wäre auch nicht denkbar gewesen, dass die SPD, um ihre schwindenden Wahlchancen zu verbessern, sich gegen ihre eigene, unter Schröder erfolgreich in Gang gesetzte Politik wenden würde und ihr auf diesem Weg auch die CDU, durch das was man ihre „Sozialdemokratisierung“ nennen könnte, gefolgt wäre. Konkret gibt es in Deutschland heute nur Parteien, die in der Mitte-links und links stehen. Auf der anderen Seite steht allein die FDP, die im günstigsten Fall zwischen 8 und 9 Prozent Wählerzustimmung erringen kann. Dieser Ausfall politisch organisierter Kräfte in der Mitte-rechts und rechts von der Mitte kann sich aber auf die Zukunft der Demokratie nur verhängnisvoll auswirken. Denn der allgemein diskutierte und wohl auch in der Regel bejahte Linkstrend, den fast das gesamte deutsche Parteiensystem inzwischen vollzogen hat, hat natürlich auch die Konsequenz, dass die Gruppen, die man die eigentlichen Leistungsträger der Gesellschaft nennt, früher hätte man von der bürgerlichen Mitte gesprochen, von diesem Trend negativ betroffen sind und keine politische Kraft mehr entdecken können, von der sie überzeugt sein könnten, dass sie entschlossen auch ihre Interessen wahrnimmt. Hier ist ein Ungleichgewicht eingetreten, das auf die Folgen von Prozessen zurückzuführen ist, die schon seit vielen Jahren die politische Entwicklung in Deutschland bestimmen.

Zu diesem Gesamttrend, den man in dem politischen System der Bundesrepublik erkennen kann, steht in einem merkwürdigen Widerspruch ein Prozess der inneren Neu- und Umorientierung der ehemals bürgerlich genannten Gruppen und Schichten unserer Gesellschaft, besonders der heranwachsenden Generationen. Der Trend geht eindeutig in Richtung der Wiederentdeckung konservativer Einstellungen und Muster, also sogenannter Werte und Prinzipien. Dies könnte man als ein Zeichen der Hoffnung interpretieren, wenn diese Sicht der Gesellschaft, diese sich langsam aber offensichtlich herausbildende Strömung auch zu einer politischen Kraft würde. Ob uns die Geschichte aber dazu die Zeit lassen wird, das ist die eigentliche offene Frage, mit der wir es gegenwärtig zu tun haben.

Man staunt immer wieder, wie völlig entgegengesetzt sich wichtige Länder um uns herum bewegen und entwickeln. Von größter Bedeutung wird, auch das ist eine These, die wir in den vergangenen Jahren immer schon vertreten haben, das Verhältnis Deutschlands zu Russland sein. Zum Jahreswechsel konnte man ein Interview nachlesen, das der SPIEGEL mit einem Vertreter der orthodoxen Kirche geführt hat, der dort die Funktion einer Art Außenministers wahrnimmt. Natürlich hat der SPIEGEL zunächst nach dem Verhältnis der orthodoxen Kirche zu der Homosexualität im allgemeinen gefragt und kritisch festgestellt, dass die orthodoxe Kirche sich diesem Phänomen gegenüber anders verhält als wir das von den Kirchen in Deutschland gewohnt sind. Die Antwort, die der Vertreter der orthodoxen Kirche in Russland gab lautete, dass Homosexualität nach ihrer Überzeugung Unzucht und Sünde sei, und dass die Kirche verpflichtet sei, das was eine Sünde ist, auch als solche zu nennen. Und sie könne nicht die öffentliche Propaganda für Sünde und Unzucht unterstützen, denn diese Propaganda führe zur Zersetzung der öffentlichen Moral. Warum ist diese Antwort so bemerkenswert? Weil sie die tiefe Kluft erkennbar macht, die uns inzwischen von der Entwicklung in Russland trennt. Der Vertreter der Orthodoxie fügte seinen Ausführungen noch hinzu, dass die Kirche, wenn sie Sünde nicht Sünde nennt überflüssig sei und man sie nicht gebrauchen könne. Diese Sätze sind für uns von einer provozierenden Klarheit und Eindeutigkeit und ich erwähne dieses Zitat nur, weil diese Ausführungen des orthodoxen Vertreters vielleicht auch für uns ein Hinweis darauf sein könnten, dass die Voraussetzung für jede Erneuerung die Klarheit der Begriffe und die Übereinstimmung der Sprache mit der Wirklichkeit ist. Das was an der Debatte, die um die Bestrafung jungendlicher Gewalttäter geführt wird, augenblicklich am meisten erschreckt, ist der Eindruck, dass in Deutschland in der politischen Öffentlichkeit Dinge nicht mehr benannt und angesprochen werden als die, die sie wirklich sind. Die Wirklichkeit, und zwar die gesellschaftliche reale Wirklichkeit, so wie sie die Menschen in diesem Lande erleben, scheint immer mehr in einer Nebelbank zu verschwinden und an deren Stelle tritt der Austrag ideologischer Schlachten von gestern und vorgestern. Dies ist eines der beunruhigendsten Signale, das uns am Anfang des neuen Jahres erreicht und es wäre schon ein großer Schritt nach vorne, wenn wir die Wirklichkeit unseres Landes auch wieder als die benennen dürften, die sie wirklich ist. Die Rückkehr zur Wirklichkeit ist die Voraussetzung für jede sinnvolle erneuernde Veränderung.
==========

© 2008 Gesellschaft für Kulturwissenschaft e.V., D-76467 Bietigheim/Baden

* Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Gesellschaft für Kulturwissenschaft e.V.