Leitthema - 15. November 2009

Kommen wir so aus der Krise


Albert Wieland


Jüngst befasste sich der SPIEGEL mit der geistigen Lage in Deutschland. Einige Verwerfungen und Erosionserscheinungen der vorgegebenen Meinungsherrschaft wurden aufgeführt, aber das war – mit der gebotenen Zurückhaltung natürlich – auch schon Thema von Zeitungsartikeln und Fernsehbeiträgen. Verblüffend war jedoch, dass der Journalist feststellte, dass Peter Sloterdijk nun der neue Oberdenker Deutschlands sei. Es mag ja der so Geehrte durchaus Fähigkeiten besitzen, die ihn zu einem Oberdenker machen, aber wie viele deutsche Denker der SPIEGEL im Hinblick auf Fähigkeiten zum Oberdenker prüfte und welche Kriterien schließlich zu der Feststellung führten, Peter Sloterdijk sei derjenige, ist nicht bekannt.

Davon unberührt veröffentlichte DIE WELT am SONNTAG (Nr. 28 vom 12. Juli 2009) danach ein zweiseitiges Interview mit Sloterdijk. Wie nicht anders zu erwarten war, ging der neue „Oberdenker“ mit dem alten „Oberdenker“ ins Gericht. Summa summarum lief das Verfahren, dem Jürgen Habermas unterzogen wurde, auf nichts anderes hinaus als auf eine Demontage, die darin gipfelte, dass er ein lokales Ereignis gewesen sei. Nun könnte man zu Habermas vieles sagen, aber dass seine Version der Frankfurter Sozialphilosophie, insbesondere seine Kommunikationstheorie, jahrzehntelang bei uns eine Art designierte säkulare Staatsreligion war, die auch weltweit Aufmerksamkeit erregte, ist doch unbestritten.

Dann allerdings griff Sloterdijk ein Thema auf, um das die meinungsführenden Medien bisher einen großen Bogen gemacht haben: Der Fall des Berliner Polizeibeamten Kurras, der Benno Ohnesorg erschossen hatte. Dessen geheime SED-Mitgliedschaft war erst vor kurzem von der Birthler-Behörde bekannt gegeben worden. Bemerkenswert unerschrocken bezog Sloterdijk Stellung, dass dieser Tod wohl im Auftrag und auf Veranlassung herbeigeführt wurde, um die Studentenunruhen anzuheizen, die zu der Zeit abzuflauen begannen.

Das ist ja auch in einem kaum vorstellbaren Ausmaß gelungen. Die später so genannten 68er rangen das bürgerliche Establishment der Bundesrepublik Deutschland nieder, dem sie den Mord an ihrem Kommilitonen Ohnesorg anlasteten. Anschließend zerstörten sie eine über 1000jährige christlich-bürgerliche Kultur, die allerdings bereits erodiert und im deutschen Bürgertum nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Der Interviewte und der Journalist waren sich schließlich einig, dass es für die 68er schrecklich sein müsse, wenn sie durch eine Machenschaft der Stasi, also letztlich des KGB, „verclownt“ worden wären.

Heute holen uns die Folgen der Verwüstungen unserer Kultur ein, ein fast völliger Geschichtsabbruch, die Diskreditierung unserer Herkunftsreligion, die Durchsetzung der Abtreibung, der Einzug des Klassenkampfes in die deutschen Schlafzimmer durch die Emanzipationsbewegung, die Zerrüttung der Familien und der Generationenfolge durch antiautoritäre Erziehung als Überbau für Nichterziehung, bis zu den denunziatorischen Selbstbezichtigungsritualen usw. Die Reihe könnte endlos fortgesetzt werden, bis zu der Relativierung und Entmachtung der Institutionen und des daraus folgenden Zustandes, in dem wir heute, das einst reichste Land Europas am Rande des Bankrotts dahintaumeln. Im Hinblick auf diese „Erfolge“ einer weiteren Generation junger Deutscher, die sich trotz der allgegenwärtigen Vorhaltungen der Erfahrungen im Dritten Reich wieder zu willigen Helfershelfern einer totalitären Ideologie machen ließen, bleibt das Mitgefühl von Sloterdijk mit den gekränkten Selbstwertgefühlen der 68er, als sie erkannten, dass sie – in ihrem eigenen Jargon ausgedrückt – nur nützliche Idioten gewesen waren, wohl nur wenigen nachvollziehbar. Von keinem der Beteiligten, mit Ausnahme von Bernd Rabehl, der deswegen ins politische Abseits verbannt wurde, war bisher ein Wort des Bedauerns zu hören. Ganz im Gegenteil, die Weihefeiern, bei denen die 68er sich selbst auf die Schultern klopfen und ihre Errungenschaften rühmen, wollen nicht abreißen.

Weitere Äußerungen von Sloterdijk befassten sich kritisch mit dem herrschenden linken Meinungsmonopol. Prompt erschien kurze Zeit später ein Artikel mit einer Photogalerie von illustren linken Persönlichkeiten, angeführt von Prandl von der Süddeutschen Zeitung, über den Dramatiker Hochhuth bis zu Staeck, die dem erstaunten Leser erklärten, dass sie alles andere als links seien. Sie verstiegen sich sogar zu der Behauptung, dass sie sich selbstverständlich bereitwillig, sogar gerne mit konservativen Positionen befasst hätten, aber die gäbe es leider nicht. Wenn man bedenkt, wie in den letzten 30 Jahren konservative Autoren von vorn herein unter Faschismusverdacht genommen, gedemütigt, aus Ämtern gejagt und aus der öffentlichen Debatte ausgegrenzt wurden, ist das doch kein Wunder. Unvergessen ist doch der Stil und die Art und Weise, mit der diese Neu-Nichtlinken sich mit konservativen Beiträgen auseinandersetzten, die sie jetzt so bedauerlich entbehren müssen.

Unbestreitbar ist doch, dass aus diesen Kreisen die kulturrevolutionäre linke Bewegung der Frankfurter Schule schöngeredet und damit flankierend gedeckt und unterstützt wurde. Dass sie das in Zeiten der Entthronung von Jürgen Habermas nicht mehr gewesen sein wollen, ist in Deutschland kein ganz unbekannter Vorgang. Selbstverständlich sind die dort Auftretenden nicht mehr links, denn alle Revolutionäre wollen nach ihrem Sieg irgendwann in Behaglichkeit ihre Beute genießen und dabei in Ruhe gelassen werden. Das was sich uns heute darbietet, ist ein saturiertes schwerreiches neues Establishment von Intellektuellen, gestützt auf die fast unbegrenzte Manipulationsmacht, der von ihnen beherrschten Medien. Auszeichnungen, Würdigungen und Huldigungen sollen die ehemaligen, nun als ferngesteuert erscheinenden Revolutionäre hoffähig machen, womit sie fast alle der einst bitter bekämpften Merkmale des bürgerlichen Establishments übernommen haben. Das Ganze erscheint als ein einziger Versuch, die jüngere Geschichte Deutschlands und die Protagonisten als etwas anderes erscheinen zu lassen als das, was sie sind. Also eine Produktion von Schein, die nichts mit einer rückhaltlosen Bilanz unserer Lage und wie sie geworden ist, zu tun hat. Das aber wäre die unverzichtbare Voraussetzung für eine Um- und Neuorientierung, falls es dazu nicht schon zu spät sein sollte.

Den Sieg der 68er und der Frankfurter Schule hielt der Stuttgarter Sozialphilosoph Rohrmoser für ebenso unvermeidlich wie vergeblich. Unvermeidlich wegen der Kampagnenunfähigkeit des damaligen bürgerlichen Lagers und vergeblich wegen der gravierenden Theoriemängel der Frankfurter Schule. Diese nun einsetzende Erosion hätte Rohrmoser nicht überrascht, denn in seinem Werk wies er sehr früh schon nach, dass die in der Aufklärung wurzelnde Frankfurter Sozialphilosophie in der Konsequenz nihilistisch und anarchistisch ist. Von „Emanzipation oder Freiheit“, (1970, Neuauflage 1995), „Zäsur – Wandel des Bewußtseins“, (1980), „Der Ernstfall – Die Krise unser liberalen Republik“, (1994), bis zu „Konservatives Denken im Kontext der Moderne (2006)“ mahnte und klärte er genau darüber auf. Warnend wies er übrigens auch darauf hin, dass nach dem zu erwartenden Niedergang der Frankfurter Schule eine reaktionäre rechtsextreme Gegenbewegung drohen könne, wenn man die Entwicklung der Eigendynamik der Geschichte überlässt. Nur in einer konservativen, gemäßigt nationalen und christlichen Erneuerung sah er einen Ausweg aus diesem Dilemma. Für die Bilanz der Epoche liegt alles bereit, aber es hängt immer noch davon ab, ob die politische Kaste der Bundesrepublik Deutschland den Schweigebann über Rohrmoser weiter gegen die Realität und die geschichtliche Notwendigkeit durchsetzen kann.

In der hellenistisch-christlich-abendländischen Kultur ist seit Sokrates bekannt, dass zwischen der Qualität des Bürgers und der Qualität des Gemeinwesens ein unauflösbarer Zusammenhang besteht. Danach kann der Bürger nur gedeihen in einem auf Gerechtigkeit angelegten Staat und dieser gerechte Staat wiederum kann nur aufgrund der Sittlichkeit seiner Bürger entstehen. Platon war der Meinung, dass eine Politik, die sich an dem „Guten an sich“ orientiert, das Gemeinwesen und seine Bürger diesem Ziel so nahe bringen kann, wie es Menschen überhaupt möglich ist. Der Beitrag der Christen zu diesem Thema war, wenn man so will, dass sie dieses bei Platon „das Gute an sich“ Genannte Gott nannten.

Gegen die Manipulationsmacht der Medien setzt sich in der jüngeren Generation und einer wachsenden Zahl von Autoren die Erkenntnis durch, dass eine Wiederaneignung unserer suspendierten Herkunftskultur einschließlich ihrer Stiftungsreligion wahrscheinlich zu einem Überlebensimperativ wird. Verstärkt wird diese Entwicklung durch die seit über 30 Jahren schwelende Krise von Wirtschaft und Sozialstaat, die nach wie vor mit Finanztransfers und Schulden behandelt wird. Selbst der Donnerschlag der Banken- und Finanzkrise, der eigentlich dieser Politik die Mittel entzogen hat, bewirkt nicht die naheliegende Einsicht, dass wir es nicht mit Einzelerscheinungen, sondern mit einer zusammenhängenden und eskalierenden Niedergangsbewegung, insbesondere des Sozialstaates, zu tun haben. Mit der rücksichtslos konkurrenzlos gemachten Deutungshoheit der Frankfurter Sozialphilosophie konnten die schicksalhaften Herausforderungen und Aufgaben der Geschichte nicht vollständig begriffen und deswegen auch nur unvollständig gelöst werden. Die Philosophie, mit der wir in die Krise geraten sind, kann die Krise zwar verstärken, aber es wäre paradox von ihr einen Ausweg zu erwarten. Wir brauchen nichts weniger und nötiger als eine neue Philosophie. Vielleicht wird der 2008 verstorbene Philosoph Günter Rohrmoser doch noch bestätigt, denn er hatte einmal ausgeführt, dass in der Geschichte Situationen eintreten können, in denen man ein Stück zurück muss, um weiterzukommen.
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