Zur Lage - Jahreswechsel 2005 / 2006


Die große Koalition hat, nachdem sie eigentlich ohne erhebliche Geburtswehen gebildet wurde, ihre Arbeit aufgenommen und erfreut sich allgemein einer wachsenden Zustimmung. Selbst die Forderung der Kanzlerin, die Bürger mögen mit Zuversicht und Optimismus in die Zukunft schauen, scheint anzukommen. Nun hat die große Koalition noch keine Taten vollbracht, um sie an ihren Leistungen messen zu können - und dazu hatte sie ja auch noch keine Zeit. Erstaunlich ist vielmehr der große Vorschuss, den man ihr in einer so nicht zu erwartenden Weise zuteil werden lässt.

Im Grunde genommen aber ist es doch so, dass, wenn es zu dieser Koalitionsbildung bereits vor 20 Jahren gekommen wäre, sich Deutschland heute in einer anderen Situation befände. Es ist schwer zu verstehen oder eigentlich unbegreiflich, dass mit einer solchen Einhelligkeit und Hartnäckigkeit der Gedanke einer großen Koalition vor den Wahlen und auch noch kurz danach zurückgewiesen wurde. Diese Hartnäckigkeit steht im Widerspruch zu der eigentlich evidenten Tatsache, dass eine Reform der Sozialsysteme - sei es nun ein Umbau oder ein Abbau - nur durch eine große Koalition möglich ist. Dies ist nicht eine Erkenntnis von heute, sondern sie gilt mindestens schon seit einem Vierteljahrhundert. Denn wenn eine der beiden großen Volksparteien allein einen solchen Versuch unternommen hätte, dann hätte sie das nur mit der Gewissheit tun können, nicht wiedergewählt zu werden.

Eine eindringliche, aber auch makabere Veranschaulichung dieses Tatbestandes hatte ja gerade der Wahlkampf noch geliefert, der ja seitenverkehrt geführt wurde. Der Bundeskanzler kämpfte mit einer ungewöhnlichen Härte wie einer, der aus der Opposition in die Regierung drängt, während umgekehrt die Opposition von ihm behandelt wurde, als ob sie für die Ergebnisse der 7-jährigen Herrschaft der SPD und der Grünen verantwortlich sei. Und dieser Kampf wurde ja von Gerhard Schröder bis fast zum Sieg geführt. Nur ein minimaler, einziger Punkt trennte Schröder von der Chance, als Bundeskanzler seine Regierungstätigkeit fortzusetzen. Wie ist ihm das gelungen? Er hat die offensichtlichen Schwächen und Defizite der Wahlkampfstrategie der CDU ausnutzend den sozialen Mythos beschworen und, woran man sich noch gut erinnern kann, erklärt, dass ein Sieg von CDU und FDP die Zerstörung des Sozialstaates und das Ende aller Sicherheit und aller Arbeitnehmerrechte in der Bundesrepublik bedeuten würde. Dieser Argumentation, wenn man sie denn überhaupt als eine in einer Demokratie zulässige bezeichnen will, hatte die CDU/CSU unter der Führung von Frau Merkel nichts entgegenzusetzen. Man vergisst heute angesichts des großen Beifalls, der die Anfänge der Regierung Merkel begleitet, dass Frau Merkel die CDU in eine der katastrophalsten Wahlniederlagen ihrer Geschichte geführt hat, und das unter Bedingungen, die sie wie nie zuvor einzigartig begünstigt hatten. Wenn man das Wahlergebnis als maßgebendes Kriterium und Orientierung für die zukünftige Regierungstätigkeit bewerten soll, dann kann man den Ausgang der Wahlen nur so interpretieren, dass offensichtlich eine Mehrheit des Volkes fast um jeden Preis für die Entfaltung einer wirtschaftlichen Dynamik, also für mehr Wachstum und durch mehr Wachstum für mehr Arbeitsplätze und für mehr Sozialsicherungsleistungen, optiert hat. Die strukturellen Probleme, die die Parteien in unterschiedlichem Maße bis zur völligen Leugnung versucht haben dem Volke nahe zu bringen, haben kein Echo gefunden.

So scheint es der Mehrheit des Volkes völlig gleichgültig zu sein, wie die Pleite, in der sich der Staat der Bundesrepublik ja tatsächlich befindet, überwunden werden kann. Die Billionen, die noch die Ur- und Ururenkel zurückzahlen müssen, interessieren das Wahlvolk offensichtlich nicht. Aus dem Koalitionsvertrag geht ja auch hervor, dass die Koalitionäre diesen Willen des Volkes verstanden und weitgehend auf strukturelle Reformen verzichtet haben. Es mag daher eine konjunkturelle Besserung geben, aber solange nicht die tief und weit zurückliegenden Versäumnisse an Strukturveränderungen vorgenommen werden, wird sich im Prinzip in Deutschland auf mittlere und längere Sicht nichts ändern. Konkret bedeutet das, diese Regierung muss in gut einem Jahr mindestens 1 Million oder mehr neue Arbeitsplätze schaffen. Sollte dieses Ziel, aus welchen Gründen auch immer, nicht erreicht werden, dann wird es in der Bundesrepublik Deutschland um mehr gehen, als um ein bloßes Scheitern der Koalition. Dann dürfte jedem das offensichtlich werden, was man bereits dem Ergebnis der letzten Bundestagswahl entnehmen konnte, nämlich das Ende der beiden großen traditionellen Volksparteien CDU und SPD. Die CDU hat von allen wahlberechtigten Bürgern bei den Wahlen gerade noch 27 % der Stimmen erreicht und die SPD hätte ohne den demagogischen Wahlkampf von Schröder auch nicht mehr als 30 % erreichen können. Nach den üblichen Kriterien bedeutet das aber de facto, dass beide Parteien eigentlich nicht mehr den Anspruch erheben können, Volksparteien im traditionellen Sinne zu sein. Erst wenn das einsichtig wird, werden wir die dann aus dieser Situation heraus erfolgende Wahl so nennen können, wie es Frau Merkel bereits vor der letzten Wahl getan hat, nämlich in des Wortes wahrer Bedeutung eine Schicksalswahl.

Man kann aber diese große Koalition auch ganz anders sehen und anders bewerten als aufgrund einer rein funktionalen pragmatischen Analyse. So antwortete der ehemalige sozialdemokratische Finanz- und Verteidigungsminister Hans Apel auf die Frage, wie er die große Koalition beurteile, mit den ebenso schlichten wie präzisen Worten: ein ethisch-moralisches Nichts. Ethisch-moralisches Nichts, dies scheint ein hartes und vielleicht auch etwas überzogenes und damit nicht ganz angemessenes Wort zu sein. Aber bei nüchterner Beurteilung der Koalition kommt man an dem Urteil nicht vorbei, dass diese Koalition in der Tat nur existiert, um ganz bestimmte Sachprobleme, wie die Föderalismusreform, die Konsolidierung der Staatsfinanzen, die Gesundheitsreform und die Bürokratiereform, also rein sozial-technisch zu definierende Probleme zu lösen. Darüber hinaus ist von den länger und tiefer zurückliegenden Ursachen, die zu der großen Koalition geführt haben, mit keinem Wort die Rede.

So hat es auch in beiden Parteien keine, geschweige denn öffentliche Diskussion um die Ursachen des doch für beide wenig befriedigenden Wahlausgangs gegeben. Es war eine Meisterleistung von Frau Merkel, dass sie die Umstände der Koalitionsverhandlungen geschickt dazu benutzt hat, jeden analytischen Ansatz einer Ursachenerforschung des Wahlergebnisses im Keime zu ersticken.

Viel schwungvoller ging die SPD vor. Ihr ist es gelungen, und dies zum Teil unter dem Beifall der CDU, die 7-jährige Regierungszeit der SPD als eine außerordentlich erfolgreiche, geradezu historisch zu nennende Epoche zu feiern und Bundeskanzler Gerhard Schröder in die Reihe der großen Kanzler der SPD zu stellen. Gerade wird er noch von einer amerikanischen Agentur als Weltstaatsmann zu einer Veranstaltung eingeladen, und wenn es bei dieser Bewertung bleiben sollte, wird er wohl auch morgen für die Deutschen als ein solcher gelten. Die Tatsachen, dass er einen total zerrütteten Staatshaushalt, über 5 Millionen Arbeitslose, von anderen Problemen ganz zu schweigen, zurückgelassen hat und indirekt die Gründung einer Nachfolgepartei der SED, die nunmehr auch nach Westdeutschland ausgegriffen hat, verursachte, alles dies wird hinter der Propaganda verschwinden, die das Wirken von Gerhard Schröder als das eines Weltstaatsmannes preist.

Da diese Analyse nicht Teil der politischen Debatte in Deutschland wurde, werden wir in Zukunft bemüht sein, diese mindestens 20, wenn nicht gar 30 Jahre zurückliegenden Prozesse zu rekonstruieren, in die Erinnerung zurückzurufen, damit vor allem eins erkannt wird, dass eine der entscheidenden Ursachen für die Misere in Deutschland gerade das erreichte Wohlstandsniveau und der einzigartige Ausbau der sozialen Sicherheitssysteme war.

Im Umkehrschluss könnte und müsste man daraus folgern, dass, selbst wenn es gelänge, das Wohlstandsniveau wieder herzustellen und die soziale Sicherung wieder auf das einmal erreichte Niveau anzuheben, sich im Prinzip an der Entwicklung Deutschlands nichts ändern würde.

Zu den Fragen, die immer wieder mit dieser Entwicklung verbunden wurden, gehört die auch vom Bundestagspräsidenten erhobene Forderung nach einer erneuten Debatte über die Leitkultur. Warum wird nach den vergeblichen Anläufen erneut die Frage nach der deutschen Leitkultur gestellt? Die Antwort ist denkbar einfach. Nachdem der soziale Kitt, der bisher die Gesellschaft zusammengehalten hat, dramatisch schwindet und gefährliche Konfliktstoffe und Antagonismen auftreten, stellt sich mehr denn je die Frage, was denn nun eigentlich diese Gesellschaft noch zusammenhalten könnte und was der Grund für die größere Anfälligkeit für Erosionsprozesse ist - vor allem im Vergleich mit anderen Staaten, die sich ihrer nationalen Identität bewußt sind, oder sich gerade aus ihrem Identitätsbewusstsein einen neuen Staat geschaffen haben.

Nun hat die neue Vorsitzende der Grünen, Frau Künast, in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung (Freitag, 23.12.2005, Seite 14) in einer außerordentlich erhellenden, sachlichen und klugen Weise zu dieser Leitkulturdebatte Stellung genommen. Natürlich lehnt sie, wie das die Grünen immer getan haben, eine deutsche Leitkultur ab. Aber sie erkennt an, dass es auch in einer Demokratie über die Regeln, denen alle unterworfen sind hinaus, so etwas wie gemeinsame Überzeugungen geben müsse. Leider sagt sie nicht, welcher Art diese Überzeugungen denn sein müssten. Sie erläutert das von ihr Gemeinte aber daran, dass die Deutschen nicht hinnehmen könnten, auf welche Art und Weise die Türken mit ihren Frauen umgehen, die sie zum Teil einem von uns als barbarisch atavistisch empfundenen Ehrenkodex unterwerfen. Frau Künast wird vermutlich den Versuch machen, mit der Verfassung zu antworten und an diesem Punkte feststellen müssen, dass auch die gemeinsame Unterordnung unter die in der Verfassung festgestellten Regelungen alles andere als bloße Regelungen sind, sondern dass diese Verfassung, wie jede vergleichbare Verfassung in anderen Ländern auch, das Produkt einer langen und auch immer tief national bestimmten Geschichte ist und ohne einen Anteil an dieser Geschichte dürfte auch schwerlich ein sogenannter ausländischer Mitbürger imstande sein, den Sinn der Überzeugungen zu erkennen und zu teilen, die Frau Künast ihm vorschreiben möchte. Frau Künast analysiert auch sehr kühl und sicherlich treffend, dass die CDU durch eine erneute Leitkulturdebatte von ihrer sozialen Inkompetenz und den sozialen Schwierigkeiten überhaupt ablenken will und sie der Meinung sei, dass soziale Defizite durch eine Betonung des Nationalen kompensiert werden sollen.

Nun wird eine so ausgerufene nationale Leitkulturdebatte sicherlich nicht zu dem gewünschten Erfolg führen. Da mag sie Recht haben. Aber was schlägt Frau Künast vor? Frau Künast schlägt vor, dass über die Aufnahme aller ausländischen Mitbürger in die Rechtsgemeinschaft der Deutschen hinaus ihnen auch, wie jedem deutschen Bürger, die gleiche soziale Teilhabe gewährt werden müsse. Um aber jedem der Millionen Ausländer, die in unserem Lande leben die gleiche soziale Teilhabe zubilligen zu können, müsste erst die ökonomisch-soziale Krise in der Bundesrepublik überwunden werden. Während doch auf der anderen Seite die CDU der Meinung ist, dass ohne eine Mobilisierung der nationalen Kräfte eine langfristig wirksame Überwindung der Krise, in der sich die Bundesrepublik gegenwärtig befindet, nicht möglich ist. Das durchschlagendste Argument aber, das Frau Künast gebraucht, ist die zutreffende Feststellung, dass man keinen in die deutsche Kultur integrieren könne, wenn es eine solche deutsche Kultur nicht gibt und sie stellt sicher zu Recht fest, dass wir etwas Eigenes nicht mehr haben. Sie vergisst nur hinzuzufügen, dass die Grünen einen erheblichen Anteil daran haben, dass wir keine deutsche Kultur mehr haben und damit auch nichts Eigenes, in das wir andere integrieren könnten.

Nun muss aber diese Feststellung, dass sich inzwischen das, was einmal die deutsche Kultur war, weitgehend ins Nichts verflüchtigt hat, nicht das Ende dieser Debatte bedeuten. Wenn wir die Geschichte zu Rate ziehen, dann erkennen wir, dass es zwei Möglichkeiten gibt, auf einen solchen Zustand nationaler Auflösung und Selbstvergessenheit zu reagieren. Denken wir an die Zeiten Napoleons, da war es Fichte, der in seinen berühmten Reden an die deutsche Nation versucht hat, den Gedanken der Nation philosophisch zu konstituieren mit der für uns heute etwas eigenartig klingenden Begründung, dass es der Auftrag der Deutschen sei, den abgerissenen Zusammenhang mit der Kontinuität der europäisch-christlichen Geschichte wieder herzustellen. Der durch die Revolutionsereignisse und die Aufklärung entstandene Verlust von Wahrheit und sittlicher Bildung sei zu überwinden, um so durch die Erfüllung dieses Auftrages Europa in der Kontinuität europäisch-christlicher Geschichte zu halten. Man könnte sicher den Gedanken der Notwendigkeit eines nationalen Bewusstseins so oder ähnlich begründen, wie es Fichte getan hat, aber man würde damit heute keinen Erfolg mehr haben.

Eine andere Möglichkeit ist die, dass man eben die Geschichte als den Ort der Herkunft, des Werdens und das in dieser Geschichte enthaltene geistige, kulturelle und religiöse Erbe wieder erweckt, in das kollektive Gedächtnis aufnimmt und aus dem Bewusstsein einer solchen Wiedergewinnung der Geschichte die Kraft findet, wieder eine eigene nationale Identität zu bilden. Wie dem auch sei, nicht nur die Frage der Nation, sondern auch die Debatte über die Kultur überhaupt wird für den Ausgang der Krise in Deutschland eine entscheidende Rolle spielen, so wie wir das ja in allen unseren bisher verfassten Kurzkommentaren direkt oder indirekt versucht haben zu formulieren.

Wenn man sich aber der Frage der neuen grundlegenden Bedeutung der Kultur zuwendet, dann kommt man an der Religion, und das heißt für uns konkret am Christentum, nicht vorbei. Es gibt untrügliche Zeichen dafür, dass gegenwärtig in Deutschland aus der Mitte und der Tiefe der deutschen Gesellschaft heraus sich die ersten erkennbaren Bewegungen einer Wiederentdeckung und Rückgewinnung der einstmal besessenen aber verlorenen Religion abzuzeichnen beginnen. Dazu gehört nicht nur die vielleicht zum ersten Mal als dringlich empfundene Frage nach der eigenen nationalen Identität, sondern dazu gehört auch, wie Bischof Huber von Berlin anlässlich des Weltjugendtages in Köln formuliert hat: Das Christentum kehrt wieder in die Mitte der Gesellschaft zurück. Dies ist ein weites Feld, das uns auch in dem gerade begonnenen Jahr wiederholt beschäftigen wird. Angesichts dieser Entwicklungen fragt man sich erstaunt, wie es möglich ist, dass in Deutschland eine sich christlich nennende Partei sich in eine Richtung bewegt, die dem genau entgegengesetzt ist, was vielleicht morgen bereits einen Haupttrend in der Bewusstseinsbildung der Deutschen ausmachen wird.

In einem Gespräch, das jüngst stattfand über den geistigen Standort der wichtigsten deutschen Publikationsorgane, konnte im Ernst und ohne Widerspruch behauptet werden, der SPIEGEL sei neokonservativ. Nun, man wird über Frau Merkel alles sagen können, aber man wird nicht von ihr sagen können, dass sie konservativ ist, im Gegenteil, sie hat den letzten Anker, der diese Partei mit ihrer konservativen Mentalität und Grundlage verband, gekappt und nun treibt die CDU wie eine vom Anker gelöste Boje von den Wellen getrieben kompass- und steuerlos dahin. In der Wirtschafts- und Finanzpolitik tendiert sie zur FDP, in der Sozialpolitik vereinigt sie sich mit der SPD und in der Kultur- und Gesellschaftspolitik versucht sie sich den Grünen als möglichen Koalitionspartner zu empfehlen. Unter Frau Merkel hat sich die CDU, die einmal die stabilste und verlässlichste politische Kraft in der Bundesrepublik Deutschland war, zu einer Art Phantom-Partei entwickelt.

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