30. September 2005

Medizin und Ideologie
Informationsblatt der Europäischen Ärzteaktion
Medizin und Ideologie
Günter Rohrmoser
Europa in der Krise


Vortrag von Prof. Dr. Günter Rohrmoser,
gehalten beim Jubiläumskongreß der Europäischen Ärzteaktion in Salzburg, 30. 09. 2005

Einerseits ist es sehr schwer, über die Krise Europas zu reden, aber andererseits auch sehr leicht, weil jeder Tag Zeugnisse dafür hervorbringt, die erstaunen lassen, aber auch verwirren und ahnen lassen, wie tief die Krise ist, in der sich Europa befindet. So hat selbst dieser Kongreß, ehe er überhaupt stattgefunden hat, ein solches Zeugnis der geistigen Krise Europas hervorgebracht. In der Regionalzeitung wurde der Kongreß, wohlgemerkt bevor er überhaupt begonnen hat, bereits in Grund und Boden kritisiert. Die Teilnehmer wurden als „ewig Gestrige“ denunziert und als offenbar unerträgliche Störfaktoren auf dem Weg in ein neues Europa diffamiert. Als philosophische Grundlage beruft man sich auf die Aufklärung. Europa bekennt sich nur zur Aufklärung, also einem Teil seines geistig kulturellen Erbes. Wenn man aber Kant nachliest, so erfährt man, daß derjenige, der das Recht zur öffentlichen Meinungsäußerung verwehrt oder gar unterdrückt, das Denken selber zerstört. Das Heiligste, worauf eine liberale Demokratie, ein liberales Europa verpflichtet sein müßten, das Recht zum freien Denken und zur freien Äußerung dieses Denkens, scheint im Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht zum ersten Mal verloren zu gehen. Man kann fragen: was ist so ein Europa noch wert? Ist das überhaupt noch Europa, in dem sich erfüllen könnte, was Friedrich Schiller in seinen ästhetischen Briefen im Blick auf die unlösbaren Aporien, die die französische Revolution hinterlassen hat, schreibt: „So sehe ich den Tag kommen, in dem man im Neger die Menschheit ehren und den europäischen Denker unterdrücken und verfolgen wird.“ Ich würde gar nicht wagen, ein solches Wort zu formulieren, wenn ich nicht die große Autorität Schillers dafür in Anspruch nehmen könnte.

Vor einigen Tagen hörte ich eine Diskussion zwischen Daniel Cohn-Bendit und Elmar Brok von den Christdemokraten, über die Frage, ob man sich in dem Gespräch um die Zukunft Europas und dem Beitritt der Türkei noch auf christliche Argumente berufen kann. Der türkische Ministerpräsident hat ja erklärt, Europa sei kein christlicher Club. Wenn er damit meint, daß hier inzwischen 15 Millionen Moslems leben, hat er natürlich statistisch gesehen Recht. In diesem Gespräch erklärt der Grüne unmißverständlich, daß der, der christliche Argumente in die Diskussion um Europa einbringt, eigentlich ein Rassist ist. Ein anderer „Hohepriester der Aufklärung“ stellt die Frage, ob Christen überhaupt noch zum demokratischen Prozeß gleichberechtigt zugelassen werden dürfen, denn sie vertreten einen absoluten Wahrheitsanspruch und der sei mit der Demokratie unvereinbar. Diese Vorgänge sind in gewisser Weise durch die europäische Verfassung legitimiert, die durch das französische und niederländische Volk verhindert wurde. In dieser gescheiterten Verfassung fehlt auch der Gottesbezug und eine ausdrückliche Bestimmung des christlichen Erbes als eines unverzichtbaren Teils der europäischen Identität, so dass das Kernproblem Europas in der Krise, die sich jetzt manifestiert, darin besteht, daß Europa sich von seinen Bürgern entfernt hat. Die Ablehnung der Verfassung in Frankreich und Holland war ein Ausdruck tiefer Entfremdung der Bürger von einem Europa, das eigentlich für sie da sein wollte. Es breitet sich Indifferenz aus und Besorgnis ergreift die Menschen. Viele sehen mit Schrecken, was schon alles aus Europa gekommen ist und noch kommen könnte, weil sie sich anonymen, demokratisch nicht legitimierten Apparaten und Gremien ausgesetzt sehen, die inzwischen ein dicht geflochtenes Netz von bürokratischen Regelungen über die europäischen Länder zu knüpfen beginnen, so dass zum Beispiel in Deutschland über 60 % aller Gesetze auf die anonyme europäische Bürokratie zurückzuführen sind. Angesichts dieses beklemmenden Zustandes ist es wichtig, sich noch einmal daran zu erinnern, mit welchen geradezu euphorischen Hoffnungen die Völker, und an der Spitze das deutsche Volk, an dem Beginn des Werkes der Einigung Europas entgegen gesehen haben. Wenn es diese Einheit gäbe, wäre dies zweifellos ein welthistorisches Ereignis, dessen Tragweite man nicht hinreichend genug würdigen und zustimmen kann. Der Entschluß ist aus der Erfahrung zweier Weltkriege gewachsen, Europa so zu einigen, daß es nie wieder zu einem Krieg zwischen europäischen Völkern kommen kann. Wir dürfen heute voller Dankbarkeit sagen, daß alles dafür spricht, daß dieses große Ziel erreicht ist. Es ist in der Tat nicht mehr vorstellbar, daß es zum Krieg zwischen europäischen Nationen kommen könnte.

Aber wird Europa sich in einer globalisierten Welt und dem sich abzeichnenden Aufstieg von neuen hegemonialen Weltmächten – ob Indien, China oder wer auch immer – wenn es gespalten bleibt, überhaupt behaupten können? Wir dürfen bei aller berechtigten Kritik an Europa aber keine Sekunde vergessen, daß Einheit die ganz unverzichtbare und notwendige Bedingung einer möglichen Selbstbehauptung Europas in einer neuen, sich globalisierenden Welt ist. Ohne dieses Europa, auch ohne das, was bereits an Klammern geschaffen ist, hätte keine Nation für sich alleine die geringste Chance, sich in diesem neuen Säkulum noch zu behaupten.

Aber die Frage ist: Hat Europa einen Weg eingeschlagen, von dem wir feststellen können, daß wir auf dem richtigen Weg sind, und ihn nur entschlossen und noch zielgerichteter fortsetzen müssen. Andernfalls wird man auf diese entscheidende Frage, was das Ziel Europas ist, keine positive Antwort geben können. Wir arbeiten an dem Prozeß der Einigung Europas und wir müssen uns entscheiden, ob wir diesen Prozeß als einen unendlichen, das heißt endlosen ansehen, bei dem niemand weiß, wo er enden wird und wohin er Europa führen wird. Was ist der Endpunkt? Was ist der Zielpunkt? Was muß geschehen und abgeschlossen sein, daß man sagen kann: jawohl, jetzt haben wir das Europa, das wir gemeint und das wir gewollt haben. Die wichtigste Frage, die damit verbunden und auch noch ungeklärt ist, ist die Frage nach dem Verhältnis der geschichtlichen europäischen Nationen zu dem Gebilde Europa, für das wir noch keinen Begriff haben. Es wird kein Staatenbund und kein Bundesstaat sein, es wird eine supranationale Einheit sein, die man sich ohne Souveränität nicht denken kann. Aber dann ist die Frage, was und wieviel die europäischen Nationen an diese supranationale Souveränität abgeben werden. Es gibt keine Diskussion, die den Punkt bestimmt, an dem die Quantität der abgegebenen Souveränität in eine Qualität umschlägt, nämlich in einen Verlust und eine Zerstörung nationaler Souveränität mit allem was traditionell an den Nationalstaaten gehangen hat. Das bedeutet, ohne den Rahmen des Nationalstaates wird es einen Sozialstaat, vielleicht nicht einmal mehr einen Rechtsstaat, oder gar das, was wir unter Demokratie verstehen, noch geben können. Das ist unvorstellbar. Ein europäisches Volk gibt es nicht, eine europäische Sprache gibt es nicht, eine europäische Öffentlichkeit gibt es nicht. Wie wird das Verhältnis der Nationen zu dieser supranationalen Souveränität sein? Alles ist denkbar, angefangen von de Gaulles Europa der Vaterländer bis zum Verschwinden Europas in einen Handelsmarkt. Denn wenn Europas nationale Souveränitäten sich in Europa vereinigen und integrieren sollen, muß ja die Antwort gegeben werden, in was sie sich eigentlich integrieren sollen. In ein Bürokratiegeflecht? In einen Handelsmarkt? In einen Industriestandort? Was ist das für ein Gebilde, das man so nur als „sui generis“ bezeichnen kann, in das sich die Nationen hinein entwickeln, oder nicht.

Das Zweite, was eng damit zusammenhängt, ist die Spaltung der nationalen Souveränität, da die Nationalstaaten einen immer größeren Bereich ihrer Möglichkeiten einer Nationen bezogenen Wirtschaftspolitik an die europäische Bürokratie delegiert haben. Der europäische Einheitsmarkt wird organisiert, geplant und hergestellt durch bürokratische Gremien. Je mehr sie greifen, mit ihren 60.000 Bestimmungen, die die sozialen und wirtschaftlichen Tatbestände im Blick auf den europäischen Einheitsmarkt regeln, um so mehr entgleiten den Nationalstaaten die Möglichkeiten, mit den sich aus dieser Wirtschaftspolitik ergebenden Konsequenzen für den Sozialstaat fertig zu werden. Ich brauche jetzt nicht auf Einzelheiten einzugehen, wie z.B. der Unfinanzierbarkeit des Sozialstaates in Deutschland, mit dem der Kitt, der die Gesellschaft zusammen hält, zerfällt, weil wir alles andere eliminiert haben, und das wird uns noch mit Erscheinungen konfrontieren, daß uns Hören und Sehen vergeht.

Angesichts dieser Entwicklung gewinnt man immer mehr Verständnis für die Überzeugung des großen französischen Gründervaters Monet, der gesagt hat, wenn er es noch einmal zu tun hätte mit der Neu-Gründung und dem Aufbau Europas, würde er mit der Kultur beginnen. Nicht mit der Wirtschaft, sondern mit der Kultur. Denn Europa, wenn es etwas anderes ist als eine geographische Einheit, wird als eine kulturelle Einheit begriffen oder man redet überhaupt nicht von Europa. Selbst der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl wußte das sehr gut. Er wußte: erst die politische Einheit, dann die wirtschaftliche. Die Ereignisse und andere Faktoren haben bewirkt, daß es umgekehrt geschieht und mit der Nichtthematisierung dessen, was die mögliche kulturelle Gemeinsamkeit in Europa sein wird, wird auch die Frage nach der europäischen Identität unbeantwortet bleiben. Damit stehen wir vor dem schwierigsten Problem, denn die europäische Kultur gibt es nur in der Vielfalt ihrer nationalen Ausprägungen und Gestalten. Darum kann es in Europa nur die Maxime geben: so viel Vielfalt wie möglich und so wenig Einheit wie nötig. Aber es muß Vielfalt in der Einheit und es muß die Einheit der Vielfalt sein. Das ist das große zu lösende kulturelle Problem. Denn alle diese europäischen Nationalkulturen sind Nationalkulturen geworden auf einem ihnen eigenen, voneinander sehr unterschiedenen Weg, auf dem sie aus ihrer christlichen Herkunft heraus – mit ihrem christlichen Erbe, teilweise mit dessen Verlust, manchmal gegen das christliche Erbe, aber auf jeden Fall nicht ohne das christliche Erbe – zu ihren geistigen-kulturellen Grundlagen gefunden haben. Wenn ich die christliche Herkunft, die christliche Bestimmtheit und Geprägtheit der Vielfalt der europäischen Nationalkulturen leugne, zerstöre ich damit das einzig denkbare Band, das bei allen Differenzen und Unterschiedenheiten, die großen und die kleinen Kulturen und Nationen gemeinsam haben. Es gibt zwei geistige Formen der kulturellen Gemeinsamkeit. Die fundamentale, stiftende und gründende und in der gründenden Bedeutung auch bleibende Form ist das Christentum, und es ist zum anderen die aus dem Christentum hervorgegangene, sich zum Teil gegen das Christentum wendende, aber es auch für die Neuzeit in Formen bewahrende Aufklärung.

Alles hängt davon ab, ob es eine Antwort auf die Frage nach der europäischen Identität geben kann. Was die kulturelle, geistige Gemeinsamkeit angeht, die wird sich entscheiden an der Art und Weise, wie wir den christlichen Glauben und die Vernunft, einschließlich ihrer aufgeklärten Gestalt, miteinander verbinden. Wenn man die Worte des Papstes Benedikt XVI richtig verstanden hat, dann betrifft diese Bestimmung des Verhältnisses von Glauben und Vernunft das Zentrum seines ganzen Selbstverständnisses. Das heißt natürlich auch, daß das Christentum es nicht nötig hat, sich gegen die Errungenschaften der Aufklärung zu wenden. Angesichts der Krise, in der sich die Aufklärung in der Gegenwart selber befindet, ist die Erhaltung ihrer besten Resultate und großen Leistungen an die Gegenwart und die dynamische Kraft des christlichen Glaubens gebunden. Eine sich total und radikal von diesem christlichen Grund entfernende Aufklärung würde sich selbst zerstören und damit die moderne Welt. Dieser Kampf gegen die offensichtlichen Prozesse der Selbstzerstörung ist der eigentliche Auftrag, den wir in der Gegenwart haben. Nehmen wir nur einen ganz paradoxen Tatbestand, den Kampf, der gegenwärtig in Deutschland darum geführt wird, ob ein christlicher Religionsunterricht noch obligatorisch in der Schule angeboten werden kann. Die Schüler sollen wählen können zwischen einem dann natürlich islamisch konsequent am Koran orientierten Religionsunterricht und einem Werteunterricht, in dem aus allen Religionen und Philosophien die Werte wie aus einer Zitrone heraus gepreßt und destilliert werden und die Schüler angehalten werden sollen, sich daraus einen Werte-Cocktail selber zusammenzubrauen. Und die sollen dann fähig sein zu dem, was wir von allen Dächern zugerufen bekommen, zum Dialog mit dem Islam? Wie will der, der seine eigene Religion nicht kennt, fähig sein, einen Dialog mit einem glaubensstarken, zeugniswilligen jungen Moslem zu führen, der weiß wovon er redet, wenn er von Gott redet und wenn er von Religion redet? Wie soll dieser Gespensterdialog, an den man nur mit Schaudern denken kann, eigentlich über die Bühne gehen? Selbst diejenigen, die keine glaubensfrommen und zeugnisstarken Christen sind, müssen begreifen, wenn sie Europäer bleiben und an dem partizipieren wollen, was die Errungenschaften der europäischen Kultur sind, wie z.B. die Anerkennung der Würde des Menschen, die Berufung des Menschen zur Freiheit und alles, was an Sozial- und Rechtsstaat dazugehört, muß heute, ob er will oder nicht mit denen zusammen kämpfen und streiten, die überzeugt sind, es gibt nur ein in seiner Identität auch christlich bestimmtes Europa – oder es gibt kein Europa.

Es gibt nur die Wahl zwischen diesen beiden Extremen. Und dann kann man nur mit Schaudern und gleichzeitig mit Trauer lesen, wenn führende Politiker sagen: das hat ja auch seinen Niederschlag in der EU-Verfassung gefunden, in der sich Europa zur Aufklärung bekennt und von der Antike ist wenig und vom Christentum ist praktisch gar nicht die Rede. Bekennt sich dieses Europa wirklich zur Aufklärung? Ich bin glücklich, lieber Herr Buttiglione, daß Sie mitten unter uns sind. Die historische Dimension des Falls Buttiglione besteht nicht darin, daß man eine christliche Gesinnung und Auffassung nicht ertragen konnte, sondern darin, daß man ihm nicht erlauben wollte, zwischen seiner persönlichen Gesinnung und der Anerkennung der Legalität zu unterscheiden. Die Aufklärung lebt von der kantischen Trennung von Moralität und Legalität. Diese Unterscheidung ist an diesem Fall für jeden sichtbar aufgehoben und beseitigt worden und damit hat Europa aufgehört, eine Rechtsgemeinschaft zu sein und ist zu einer Gesinnungsgemeinschaft geworden. Gesinnungsgemeinschaften sind aber mit den freiheitlichen Prinzipien unseres Staates und der Demokratie grundsätzlich unvereinbar. Das heißt, wenn wir um die wahren Prinzipien der Aufklärung kämpfen, dann kämpfen wir um das Recht des Christen, an der politischen Gestaltung unseres Kontinents teilzunehmen und dann bewahren wir Europa vor einer Diktatur der Gesinnung und dem daraus resultierenden Totalrelativismus der Werte, so hat sich Benedikt XVI ausgedrückt, daß wir quasi in eine neue totalitäre Welt hineingleiten, um eines Tages wachzuwerden und nicht mehr zu wissen, wo unsere Freiheit geblieben ist. Nur wenn diese Trennung aufgehoben wird, kann man eine Veranstaltung, die noch gar nicht stattgefunden hat, in Grund und Boden verurteilen und die Teilnehmer als ewig Gestrige, als Unaufgeklärte und Unerleuchtete bezeichnen. Natürlich läuft das letzten Endes auf die zentrale Frage hinaus, was wir unter Wahrheit und unter Vernunft verstehen. Zum Abschluß soll noch dezidiert an das antikchristliche Erbe und seine innere konstituierende Bedeutung für jedes Selbstverständnis Europas erinnert werden, auf das die geplante EUVerfassung noch verzichtet.

Die europäische Philosophie beginnt nicht mit der Antwort, die in der griechischen Philosophie, geschweige denn von den Vorsokratikern gegeben wurde, sondern sie wird konstituiert und mit ihr das geistige Europa durch eine neue Frage. Und zwar durch die Frage, die Aristoteles bestimmt hat als die Frage nach der „Arche“, das heißt die Frage nach dem Ursprung und nach dem Grund von allem, was ist. Von Anfang an greift diese „Arche“- Frage, aus der später die Frage des Prinzips geworden ist, aus auf alles. Das Thema der Vernunft ist das Ganze und die Frage nach den Gründen, in denen das Ganze gründet. Diese Vernunft, die sich da empor arbeitet aus den Höhlen des Mythos heraus, ist identisch mit der Freiheit. Es gibt nicht den Gegensatz Vernunft und Freiheit, es wäre antieuropäisch, diese in einen Gegensatz zu bringen, sondern diese werden hineingestellt in die Universalität des Ganzen und der Weite dessen was ist. Wenn wir ein Mittel, ein Therapeutikum gegen Rückfälle in Dogmatismus, in Ideologie oder gar in wissenschaftliche Weltanschauungen finden wollen, dann werden wir diesen Ausweg nicht finden, ohne den Weg, der von der griechischen Philosophie in der Vernunft eröffnet ist. Alles, was hinter dieser Vernunft und der Erhaltung der Weite und Universalität ihres Horizontes zurückbleibt, ist partikular, ein Ausschnitt, ein Teil, ein Endliches, das, wenn es als das Absolute gesetzt wird, zur Vernichtung Europas führt. Das kann eine Ideologie sein, das kann auch die Wissenschaft sein. Der härteste Kampf, der heute erneut zu führen ist, ist der Kampf gegen eine Wissenschaft, die für sich einen Anspruch erhebt, der ihr nicht zukommt, nämlich für das Ganze zuständig zu sein, und absolute und definitive Urteile zu finden. Für den, der den Streit um die moderne Hirnforschung verfolgt, ist das mehr ein belustigendes Stück, weil wir längst über die hier eingenommenen dogmatischen Positionen hinaus waren, aber ständig in der Gefahr stehen, hinter sie zurückzufallen. Eine Wissenschaft, die einen solchen partikularen, einen solchen endlichen Horizont, in dem sie immer steht, für den letzten und das Ganze nimmt, wird damit zur Ideologie. Die wirksamsten Formen der Ideologisierung unseres Bewußtseins gehen heute nicht mehr von den erledigten historischen Ideologien aus, sondern an ihre Stelle sind diese unbegründbaren illegitimen Ausgriffe der Wissenschaft über den Bereich des ihr Möglichen hinaus getreten.

Der zweite Anlauf, der für Europa konstitutiv ist, ist die Frage, die durch Sokrates gestellt ist. Ohne Sokrates gibt es kein Europa. Selbst wenn die ganze Philosophie verloren ginge, würde Sokrates ausreichen, sie wieder zu entdecken und wieder zu entwickeln. Und was ist das Besondere? Es ist die Frage des Sokrates nach dem Vollzug des Menschen in seinem Menschsein, durch den er selber ein guter, ein wahrer Mensch wird. Das heißt die Grundfrage der Ethik. Das was einen Menschen befähigt zu einem Vollzug seines Seins, seines Selbst, ist das, was Platon eine Dynamis nennt, eine Kraft, und diese Kraft nennt er die Arete. Das ganze Unglück besteht darin, daß wir von Werten reden und nicht von der Arete oder Aretei, von den Tugenden als den Tüchtigkeiten, den Kräften, durch die der Mensch sein Leben als ein Guter zu vollziehen vermag. Die besondere Beziehung der Philosophie Platons dazu ist, daß er das Wissen gesucht hat, dessen man bedarf, um zu unterscheiden, zwischen Gut und Schlecht, zwischen Gut und Böse.

Die Katastrophe der Gegenwart ist, daß wir in unserem öffentlichen und politischen Diskurs nicht mehr nach Gut und Böse urteilen. Für uns ist im Grunde genommen nicht der Einzelne, sondern die Gesellschaft schuld, die dann nach jedem Versagen als verbesserungswürdig erklärt wird. Wir haben damit in der öffentlichen Diskussion die Unterscheidung von Gut und Böse beseitigt und sie ist unrettbar verloren, wenn es nicht etwas gibt, was sich der Mensch wieder aneignen kann, das ihn befähigt zu dem Urteil über Gut und Schlecht. Jeden Tag, von morgens bis abends, sprechen Menschen Dinge, andere Menschen und Ereignisse an auf Gut und Schlecht, so dass Goethe sagen konnte: in gewisser Weise ist die Ethik alles. Alles ist Ethik, weil wir nichts ansprechen können, ohne es auch als Gut und Schlecht anzusprechen.

Das Christentum kennen alle – oder auch nicht –, aber worin besteht nun die Einzigartigkeit Europas in seiner Verbindung mit dem Christentum? Die Einzigartigkeit Europas besteht darin, daß von diesem Kontinent geschichtliche dynamische Entwicklungen ausgegangen sind, die heute die ganze Welt umspannen und erfasst haben. Sollte es eine einheitliche Welt geben, wird es eine sich durch Europa konstituierende und definierende Welt sein. Die Prozesse der Einheit der Welt werden auch in Wissenschaft und Technik und in vielen anderen Bereichen europäische Prozesse sein. Es gibt keine andere Kultur, die eine ausgreifende expansive Dynamik mit so neuen unvorstellbaren Errungenschaften wie auch Zerstörungsmöglichkeiten entwickelt hat, wie Europa. Und dieses Europa versinkt heute in Apathie und Resignation. Es hat sich fast selbst aufgegeben. Auf jeden Fall ist es nicht mehr bereit, sich geistig zu verteidigen.

Was hat Europa soweit gebracht? Es ist das, was das Christentum einzigartig macht, nämlich dass im Zentrum des Glaubens nicht nur Kreuz, sondern Auferstehung steht, das heißt das, was Hegel deutet, indem er sagt, was hier geschehen ist, ist der Tod des Todes. Ein Hegel’scher Begriff. Das ist etwas Unglaubliches. Hier ist eine Macht gegenwärtig und wirksam geworden, die Tod überwindende Kraft entwickeln kann. Auch die unglaublichen Leichtsinnigkeiten der Europäer hängen mit diesem Glauben zusammen und darum ist der tiefste Kern der geistigen Auseinandersetzung um die Zukunft Europas der Kampf dieser Tod überwindenden Macht des Lebens gegen die andringenden Mächte des Todes und der Destruktion.

Wenn Europa nicht zu diesem Quell, zu dieser Wurzel zurückfindet, dann wird es sein wie ein Haufen Sand, der von den Winden des Zeitgeistes getrieben und von Manipulatoren organisiert wird, die alle Sorgen haben, aber nicht unsere Sorge um die Zukunft Europas teilen.


(Der vorliegende Text wurde in freier Rede vorgetragen und zur Veröffentlichung formal überarbeitet.)