1. Dezember 2006

Medizin und Ideologie
Informationsblatt der Europäischen Ärzteaktion
Medizin und Ideologie
Günter Rohrmoser
Islam - die unverstandene Herausforderung


Wir können nur verstehen, indem wir vergleichen. Und ich will versuchen aufzuzeigen, was es bedeutet, wenn wir den Islam nur als eine Gesetzesreligion verstehen, völlig abgesehen von der gegenwärtigen Diskussion um den Islam in der Welt und in Deutschland. Wenn man das tut, dann macht man erstaunliche Entdeckungen, und die Entdekkung, die ich bei der näheren Beschäftigung mit dem Islam gemacht habe, ist, daß dem Islam eine großartige Konzeption zugrunde liegt. Wenn man sich mal auf die Prämissen einläßt, und versucht, seine innere Logik zu begreifen und nachzuvollziehen, ist das eine großartige Konzeption.

Warum ist er aber für uns so wichtig und interessant? Aus einem ganz einfachen Grund. Weil der Islam seit Jahrhunderten mit dem Problem seiner Säkularität, der Säkularisierung befaßt ist. Und von allen großen Religionen hat der Islam das Problem der Säkularisierung am besten bewältigt. Und darum, meine ich, können die Christen eine Menge vom Islam lernen. Nicht das, was uns heute ständig empfohlen wird, sondern wie er diese Bewältigung geschafft hat. Und da müssen wir auf einige Grundbestände zurückgehen, die man im Auge haben muß, um das zu verstehen. Ich darf noch einmal in Erinnerung rufen und fragen, was der eigentliche religiöse Kerngehalt des Islam ist. Was ist eigentlich das religiöse Grundereignis, aus dem sich alles entwickelt hat und entstanden ist, und das im engeren Sinne überhaupt als religiös zu verstehen ist?

Da ist zuerst einmal der Mann Mohammed, der neben Luther, Lenin und Mao zu den großen weltgeschichtlichen Individuen gehört. Man muß sich doch einmal klarmachen, daß dieser Mohammed etwas in die Welt gesetzt und geschaffen hat, dem heute 1,2 bis 1,3 Milliarden Menschen in der Welt folgen. Und das noch nach mehr als einem Jahrtausend. Er gehört zu den ganz großen, einsamen, weltgeschichtlichen und Weltgeschichte bewegenden Individuen.

Und diesem Mohammed ist folgendes passiert. Aus armen Verhältnissen stammend, ein Waise, bringt er es in seinem Leben zu einem beträchtlichen, wenn auch nicht übermäßigen Wohlstand. Und nun passiert folgendes, daß dieser Mohammed dies, was ihm zuteil geworden ist und seinen Lebensweg, der ihn da hingebracht hat, versteht und auslegt als einen Weg unter der Führungsmacht Allahs. Er sagt, dies was ich habe und was ich geworden bin, verdanke ich nur Allah. Das ist die Folge der Führung Gottes. Und das ist der Kern, daß er nun alles und jedes, was einem Menschen zuteil wird, zurückführt auf die Führung Allahs und daraus den Kernsatz des ganzen Islam ableitet. Denn Islam heißt Hingabe, genau übersetzt heißt es die Vollkommenheit als Hingabe. Und diese Vollkommenheit als Hingabe ist die vollkommene Hingabe von allem und seiner selbst an Allah und das Vertrauen in seine Führungsmacht. Das ist der religiöse Kern des Islam.

Und dann kam als zweites hinzu, daß dieser Mohammed Anfälle hatte. Deshalb zog er mit seiner Frau auf einen hohen Berg. Und dort konnte er offenbar auch in Folge eines solchen Anfalls nicht schlafen und in einer monderheIlten Nacht hört er eine Stimme, die ihm sagt, nimm und lies, und ihm das diktiert, was der Urbestandteil des Koran geworden ist. D.h. der Koran und diese Nacht, in der Mohammed das zuteil wurde, was wir eine Offenbarung nennen, ist dieses Diktat durch Allah, der Urzeitpunkt und das Ereignis der Macht. Und was ist der Kern des Islam? Nimm und lies! Worum geht es im Islam? Es geht um Lesen und zu Lesendes. Darum ist der Islam vor allem, ehe man ihn überhaupt eine Gesetzesreligion nennen kann, eine Buchreligion.

Um den morphologischen fundamentalen Unterschied deutlich zu machen, was im Christentum Jesus Christus bedeutet, den gleichen morphologischen Stellenwert nimmt im Islam der Koran ein. Der Koran ist der Mittler und der Träger des Heils und der ist Mohammed diktiert worden.

Danach zog Mohammed nach Mekka und Medina, verwickelte sich in Machtkämpfe und kam in Kontakt mit Juden und Christen, und da ging ihm im Umgang mit diesen beiden Religionen auf, daß Religion mit Weltmächtigkeit zu tun hat. Er übernahm in der Tat erhebliches vom Judentum, besonders von Abraham, den er als den wahren vorausgegangenen Propheten anerkennt. Somit gehört Abraham als die einzige Vätergestalt ins Judentum, den Islam und das Christentum. Er übernahm auch den Gesetzesbegriff, und entwickelte nun aus dieser ‘ganz individuellen persönlichen Erfahrung des Geführt-worden-seins durch Allah mit einer eminenten Konsequenz und einer unglaublichen politischen Kraft und Durchsetzungsfähigkeit den ganzen Islam.

Der dritte Schritt, den man aus dieser Genesis heraus verstehen muß ist, daß der Islam nicht nur eine eminent politische Religion ist, sondern daß Religion und Politik eine Einheit sind. Denn Mohammed gründete mit der Religion des Islam auch den Staat. Die Religionsgründung und die Staatsgründung sind im Islam und bei Mohammed eins. D.h. alles was politisch und relevant ist, der Gesamtkomplex des Sozialen, Wirtschaftlichen und Politischen, dieses ganze Gefüge selber macht den Kern der Religion aus. Das ist das, was die Religion im Auge hat und was sie zu bewältigen hat. Wir werden noch sehen, wie sie sich dann das Bewältigen dieses ganzen Gefüges des Politischen, Wirtschaftlichen und Sozialen vorstellt.

Was Mohammed fertig gebracht hat ist, daß die von ihm hervorgebrachte Religion in relativ kurzer Zeit Konstantinopel bezwang und ganz Nordafrika. Kraft dieser Einheit von Religion und Staatsgründung gehört der Krieg definitionsgemäß zum religiösen Grundbestand und Auftrag des Islam. Der Islam überlegt sich nicht, ob er Krieg führt, sondern das Krieg führen, um alles unter den Gehorsam zu Allah zu zwingen, ist der Kern des Islam. Das ist ja so erstaunlich, wenn unsere säkularisierten Typen uns erzählen, was man denen alles zumuten kann und was die noch alles werden müssen, bis sie bereit und so aufgeklärt und säkularisiert sind wie wir, und man dann bereit ist, mit ihnen zu leben. Das wird ein böses Erwachen werden, weil man nicht versteht und sich nicht darauf einläßt, die fünf Säulen des Islam zu begreifen.

Die erste der fünf Säulen ist das Bekenntnis, daß Allah der Höchste, der einzige Gott ist, und Mohammed sein Prophet. Das ist nicht so ein Bekenntnis wie wir es ablegen, sondern das ist ein politisches Bekenntnis, denn es muß in arabischer Sprache abgelegt werden und es kann nicht mehr zurückgenommen werden. Da kann keiner mehr austreten, wenn er das einmal auf arabisch gesagt und sich selbst an Allah übergeben hat mit den Worten: Allah ist der Höchste und Mohammed ist sein Prophet.

Und das zweite ist das Gebet, fünfmal am Tag. Und da bemerken wir sofort die zweite entscheidende Eigenart des Islam, nämlich das Gebet ist a priori immer gemeinsames Gebet. Es betet nicht der Einzelne, sondern es betet das Kollektiv. Wir kennen das, wie sie fein aufgereiht in Reihen sitzen, gebückt, in Richtung Mekka schauend. Das ist konstitutiv. Und was passiert, wenn sie sich als Kollektiv fünf mal am Tag zum gemeinsamen Gebet zusammenfinden? Sie werden kollektiv eingestimmt in dieses religiöse Grundereignis der Einstimmung in den Willen Allahs.

Das dritte ist das Fasten. Vier Wochen im Jahr muß der Muslim fasten, damit er in Zucht für den Krieg und den Kampf gehalten wird. Das ist doch eine Begründung, daran gibt es gar keinen Zweifel.

Und dann kommt viertens die Wallfahrt. Eine ungeheuere Sache. Jedes Jahr versammeln sich Millionen in Mekka, denn jeder Muslim muß einmal in seinem Leben nach Mekka gepilgert sein. Sie kommen bis aus Westchina, das sich gegenüber dem Rest Chinas hat erwehren können, weil die in Westchina lebenden Muslime fähig waren, solche gewaltigen Unternehmen zu organisieren, wie die Wallfahrt nach Mekka. Die konnten das, die waren im Organisieren solcher Kollektivunternehmen dem Rest Chinas haushoch überlegen.

Und dann kommt fünftens das Seltsamste und für uns Eigentümlichste, das Almosengeben. Das Almosengeben ist eine religiöse Institution, oder anders ausgedrückt, der Bettler in muslimischen Ländern ist selber eine religiöse Institution und kommt unmittelbar nach dem Kadi. Das ist die Lösung, die Mohammed für das soziale Problem vorgeschlagen hat. Er war der Meinung, daß kein Mensch mehr braucht als das, was er zum Unterhalt benötigt, und es eine religiöse Pflicht ist, a1les was über die Befriedigung des Lebensunterhaltes hinausgeht, dem Bettler zu geben. Diese Bettler waren zum Teil steinreiche Leute. Nur das interessierte keinen Menschen, aber genau das war der Grund, den Anspruch zu erheben, der Islam habe den wahren dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus gefunden. Er löse die Probleme des Kommunismus und verhindere den Weg zum Staatskommunismus. Eine faszinierende Vorstellung. Und wir wissen noch gar nicht wie der große Kampf, der das 21. Jahrhundert erfüllen wird, ausgehen wird. Das sind die fünf Institutionen des Islam.

Und daran anschließend die Scharia. Die Scharia ist der Totalzusammenhang aller gesetzlichen Bestimmungen, und diese sind nicht geordnet nach einem Prinzip, die sind nicht systematisierbar, sondern sie sind das heilige, das religiös verbindliche Gesetz, das aber kein System bildet. Es ist sozusagen kasuistisch verfaßt und dieser Gesetzeszusammenhang verlangt seine Anwendung in bestimmten Situationen.

Das zweite verbindliche Gesetz ist das Staatsgesetz. Die beiden stehen sich gegenüber, die Scharia und das Staatsgesetz und in der Mitte der’ Kadi, sozusagen der Koinzidenzpunkt zwischen beiden.

Worauf es ankommt ist, daß Offenbarung im Islam nichts anderes bedeutet, als daß eine politische, wirtschaftliche oder sozial definierte Situation konkret ausgelegt und durch das Dabeisein Allahs auf Allah hin geöffnet wird. Dies ist eines der faszinierendsten Dinge im Islam. Obwohl sie diesen ganzen Korpus der kasuistisch verfaßten Gesetzlichkeiten haben, aber alle situationsbedingt und geöffnet, ist der religiöse Vollzug die Öffnung einer konkreten gesetzlich-politischen Situation auf Allah hin. Religiös handeln im Islam bedeutet, daß man eine konkrete politische Situation mit dem Verstande Allahs ausdeutet. Wenn die Geistlichen in der Moschee predigen, dann sind wir empört, wenn sie politisch predigen, und meinen, sie könnten auch von etwas anderem reden als von Politik. Das ist eine absurde Unterstellung. Das können die gar nicht, denn sie haben nicht allgemein abstrakt politisch zu reden, sondern eine konkrete Situation auf Allah hin zu öffnen und zu ermitteln, was der Wille Allahs in und für diese Situation ist. Und daher kommt es, daß das religiöse Gesetz und das Staatsgesetz einander nicht fremd sind. Die Scharia hat, da sie eigentlich die Situation zur Zeit Mohammeds kodifizierte, zwangsläufig zur Folge gehabt, daß sich das konkrete soziale gesellschaftliche Leben aus diesem Gesetzeskorpus immer mehr emanzipiert und entfernt hat. Daher gehört zur Geschichte des Islam die Klage darüber, daß der Islam als Gemeinde verfällt, weil die Scharia nicht mehr erfüllt wird, auch gar nicht erfüllt werden kann, und daß die Scharia unter ihrem Nicht-erfüllt-werden leidet. Das, was wir da vor uns haben, ist sozusagen ein Äquivalent zur Kreuzestheologie, denn das was im Islam leidet, ist dieses heilige Gesetz und erfüllt ist es eigentlich nur im Urzustand und dann wieder im Endzustand. Das macht den eschatologischen Charakter des Islam aus. Die Wirklichkeit wird gestaltet nach dem Staatsgesetz, aber dieses Staatsgesetz ist zum religiösen kein anderes, sondern sie gehören zusammen. D.h. auch in der Erfüllung des Staatsgesetzes, das durchaus die Anpassung an den gesellschaftlichen und geschichtlichen Wandel und der unterschiedlichen Verfaßtheit der Gemeinde ermöglicht, wandert dieses nicht aus der Religion aus, sondern bleibt in seiner unlösbaren Bezogenheit auf das Religiöse selber ein religiöses Gesetz. Sie wechseln sich aus und dadurch ist eine Spannung hergestellt mit einer unglaublichen Flexibilität und Modifikalität, die die Bewältigung des jeweilig in einer Situation Anstehenden ermöglichen. Wenn man das religiös richtig interpretiert, heißt das, daß das Gesetz im Islam das Gesetz der Situation ist. Die Situation selber ist das Gesetz. Das andere sind Hilfsmittel, zugeordnete Größen, aber das eigentlich Verbindliche, sich Durchhaltende und Konstituierende, weshalb man den Islam auch mit einem gewissen Recht als eine Gesetzesreligion bezeichnen kann, ist, daß die Situation selbst das Gesetz ist. Der Islam hat es fertig gebracht, die Säkularisation, also die Emanzipation des Weltlichen, Gesellschaftlichen und Politischen aus der Religion heraus zu verhindern. Die Säkularisation gehört sozusagen zu seinen Voraussetzungen.

An den großen Universitäten der islamischen Welt kann keiner Medizin oder sonst was studieren, ohne erst einige Jahre den Islam zu studieren. Das ist die einzig wahre Wissenschaft. Nicht das, was wir für Wissenschaft halten, sondern dieser Korpus von Gesetzen, die zum Teil keinen Anhalt mehr in der Wirklichkeit und im wirklichen Leben haben, denn bis zu 80 Prozent sind überholt und veraltet. Das studieren Muslime mit Interesse und Begeisterung jahrelang. Das ist, wie ich finde, etwas, das uns dazu bewegen sollte, bei der Interpretation des Islam als Gesetzesreligion genauer hinzusehen, was da eigentlich Gesetz ist. Was da ausfällt ist, daß das religiös Geregelte und Geformte nicht die Innerlichkeit des Menschen, seine glaubende Subjektivität ist, sondern es sind die äußeren Tatsächlichkeiten, die über das Leben und die Gemeinde bestimmen. Die ökonomischen, die politischen, die sozialen Tatsächlichkeiten in all ihrer Äußerlichkeit sind gerade das religiös Entscheidende. Das ist für uns Christen natürlich schwer nachzuvollziehen und zu begreifen. So wie, wenn man sich das einmal klar macht, auch deutlich wird, daß Rezeptionen, die Mohammed aus dem Alten Testament und damit aus dem Christentum übernommen hat, von ganz untergeordneter nebensächlicher Bedeutung sind, denn es fällt sozusagen das aus, was für uns und für die ganze christliche Kultur das eigentlich Konstitutive ist, die einzelne Person und damit der gesamte Bereich der Innerlichkeit und der Subjektivität. Den Menschen als Menschen in seinem Einzelsein gibt es im Islam nicht, sondern was diese Religion hervorgebracht hat, ist eine charakteristische Typisierung. Es gibt den Bettler, es gibt den Propheten, den Kadi aber es gibt ihn nur als typisierte Figur im gesamten religiös-gesellschaftlichen, politischen Gefüge, aber als ihn selbst, als sittliche Subjektivität gibt es ihn nicht. Darum ist die Rede, die wir uns angewöhnt haben, vom Menschen als solchem, abgesehen von allem, was ihn zu einem bestimmten macht und seine Rolle betrifft, im Islam nicht möglich.

Das Problem der Menschenrechte und der Auseinandersetzung mit den Menschenrechten besteht darin, daß sie das Abstraktum Mensch nicht kennen. Das Abstraktum Mensch gibt es ja auch gar nicht, obwohl es für uns das schlechterdings Konstitutive ist. Wenn zwei den gleichen Begriff gebrauchen, können sie etwas grundlegend anderes damit verbinden und verstehen. Es sagt sich so leicht, wir müssen den Dialog führen. Erst muß man den Islam verstanden haben, damit man verstehen kann, wovon die eigentlich reden und warum sie so reden und wenn sie so reden, was sie denken und in welchem Gesamtzusammenhang diese Rede und ihr Sodenken steht. Aber wie will man den Islam als Religion verstehen, wenn man selber keine Religion hat. Es heißt, nicht zu verstehen, daß Menschen sich und ihr ganzes Leben, und das ist die eigentliche Kernsituation, von der im Islam alles ausgeht, auf die Führungsmacht des großen einzigen allgütigen Gottes Allah, und es ist kein anderer Gott außer ihm und Mohammed ist sein Prophet, zurückführen. Diese Hingabe an Allah, den Höchsten und den Einzigen, den Gütigen und Gerechten, das ist das Grundelement. Wenn man das nicht verstehen kann, sondern für Abrakadabra oder atavistische Rückständigkeit hält, dann wird man sich nie in einer würdigen und achtungsvollen Weise mit einem Muslim verständigen können.

Diese Kernkonsequenz, die Hegel begriffen hat, kritisiert er am Islam, nämlich den Gedanken der exklusiven Einzigkeit Gottes, d.h. daß Gott der Eine ist, indem er der Einzige ist. Der christliche Gott ist auch der Eine. Insofern ist auch der christliche Glaube, die christliche Religion in diesem Sinne eine monotheistische Religion. aber der christliche Gott ist nicht der Einzige, sondern Er ist derselbige in der Gestalt des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. D.h. er ist in sich ein Beziehungsreicher und Lebendiger. Was Hegel nun als das konstituierende Element beim Islam erkennt, ist, daß mit der Zurückführung von allem auf die Einzigkeit Gottes als Exklusivität, der Islam eine ungeheuere Abstraktion vollzieht, indem von allem, was nicht einzig ist, abgesehen wird. Im Vergleich und in Relation zu diesem einzigartigen Gott kann im Grunde genommen der Weltauftrag nur sein, den Einzigkeitsanspruch dieses Gottes Allah, wenn notwendig mit dem Schwert durchzusetzen, um die ganze Welt diesem Einzigen zu unterwerfen, zum Preise seiner Einzigkeit und Herrlichkeit. Das zu verstehen, heißt den Islam zu verstehen. D.h. man kann ihn eigentlich nur religiös verstehen. Aber ich muß sofort die Einschränkung machen, daß, wenn man das wirklich verstanden hat, in dem Sinne, daß man es nachvollzogen hat, man selber Muslim geworden ist. Das ist das Problem, denn wenn man eine Religion im Letzten wirklich versteht und nachvollzieht, wird man das, was man verstanden hat. Es bleibt die letzte Grenze.

Aber die gegenwärtige Auseinandersetzung zwischen Ost und West, zwischen dem Islam und dem Westen, nimmt für jeden unübersehbar geradezu dramatische Formen an. Jeder kann spüren, daß wir eigentlich auf einem Pulverfaß sitzen. Wenn man bedenkt, daß eine Karikatur in einer kleinen dänischen Provinzzeitung fast eine Weltkrise auslösen kann, und sich deshalb auf Zypern die Außenminister des Westens mit sechs Außenministern arabischer Staaten zusammenfinden und überlegen, was man zur Entschärfung der Lage tun kann, dann sprechen die Ereignisse für sich selbst. Und es ist interessant, wie unsere Demokratie darauf reagiert. Es rauscht ja wie der Niagarafall aus den Talkshows auf uns herunter. Auf die Frage, was denn eigentlich die Grundlage, die geistige, meinetwegen auch philosophische Grundlage eines möglichen Dialoges zwischen Islam und dem Westen sein könnte, waren die in den Talkshows Zugelassenen sich darin einig, das könnte nur die Aufklärung sein. Und so wie die die Aufklärung verstehen, bedeutet das, daß die Privatisierung der Religion bis zum Exzeß vorangetrieben werden muß. Die Totalprivatisierung der Religion gehört also zu diesem berufenen Verständnis von Aufklärung. Wenn aber das die geistige Grundlage ist, wird es keinen Dialog geben, denn extremere Unterschiede kann man sich nicht vorstellen.

Auf der einen Seite steht der Islam, der auf den gesamten, privaten, öffentlichen, rechtlichen, kulturellen, sozialen und politischen Lebensvollzug einen Totalanspruch erhebt, den wir nicht anders als religiös charakterisieren können. Auf der anderen Seite steht eine Kultur, die die Religion des letzten Restes ihres öffentlichen und damit auch politischen Geltungsanspruches beraubt sehen will. Wenn wir glauben, auf dieser Grundlage einen Dialog führen zu können, dann kann sich kein frommer Moslem darauf einlassen, denn es würde für ihn die totale Kapitulation bedeuten. Die würden sich sagen, der Westen hat uns schon politisch degradiert, er unterdrückt uns und beutet uns ökonomisch aus und nun will er uns auch noch seine kulturelle Aufklärungsphilosophie mit der Konsequenz der Preisgabe unseres eigenen Religionsverständnisses aufzwingen. Ich glaube, es gehört keine große Phantasie dazu, sich die Reaktionen darauf vorzustellen, wenn schon eine Karikatur eine solche politische Sprengkraft und Wirkung hat.

Und damit stellt sich immer wieder und von neuem die Frage: Was ist Aufklärung? Was verstehen wir unter Aufklärung? Die Antwort darauf ist auch für den Islam von Bedeutung. Wenn man mal die islamische und die westliche Welt vergleicht, dann leiden beide an einer strukturell bedingten Einseitigkeit. Der Islam ist entschlossen, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln seine Tradition gegen die Moderne zu verteidigen. Und unsere Welt ist die, die mit dem letzten Rest von Tradition um Willen der Moderne Schluß machen will. Beide stehen in einem antithetischen, ja antagonistischen Verhältnis zu dem Problem Tradition und Aufklärung. Bei uns totaler Traditionsverlust, bei dem Islam eine fast totale konsequente Traditionsbewahrung.

Und dann muß man fragen, welche geistige Position oder Konzeption hier vermittelnd eintreten könnte, so daß es möglich ist, sich wenigstens darüber zu verständigen, worin man sich nicht einig ist. Ein Dialog muß nicht bedeuten, daß sich einer auf Kosten des anderen durchsetzt, oder daß man einen faulen, imaginären Kompromiß schließt. Es kann ja auch bedeuten, daß man sich darüber verständigt, worüber man sich nicht einigen kann und auch nicht einigen will, um dann einen Modus zu finden, wie man sich aus anderen Gesichtspunkten einsichtig, vernünftig und notwendig zueinander verhält.

Diese Problematik ist von einer, wie ich glaube nicht zu hoch gegriffenen, säkularen Bedeutung. Dieser Konflikt, der da jetzt aufgebrochen ist, wird nicht beendet sein, wenn in 3, 4 Wochen die mobilisierten Massen die Straßen wieder verlassen, sondern der wird unser ganzes Jahrhundert mehr oder weniger bestimmen. Und wenn wir genauer hinsehen, kommt da eine Konstellation wieder, die kein V olk paradigmatisch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so erfahren und erlitten hat wie die Deutschen. Wenn wir es auf eine noch prinzipiellere Ebene bringen, dann ist es die Überlebensfrage, ob die unterschiedlichen Kulturen sich in ihrer Besonderheit zugunsten einer homogenisierten Einheit der Menschheit aufheben und verschwinden, oder ob wir eine Form finden für Koexistenzmöglichkeit, bei Unvermeidlichkeit der auf eine Einheit der Welt und der Menschheit drängenden uniformierenden zivilisatorischen Prozesse. Also abstrakt gesehen das Problem von Partikularität und Universalität.

Und wir sind heute aufgrund der herrschenden Meinung und der sie bestimmenden Hintergrundsphilosophie überzeugt, daß sich am Ende die Kulturen und ihre Religionen in ihren spezifischen Eigenarten und Besonderheiten in die intendierte, nach universellen Prinzipien der Menschenrechte, sich als homogene Einheit verfassende, oder sich ihr annähernde Einheitswelt auflösen.

Wir können das ja dramatisch verfolgen. Erst kamen Arbeitskräfte. Da waren alle glücklich, denn wir holten uns Arbeitskräfte, um unsere Wohlfahrt zu erhalten und weiter zu verbessern. Das war ein ganz kühles, ökonomisches Kalkül. Und dann als sie da waren, stellte man plötzlich fest, da kamen nicht nur Arbeitskräfte, sondern da kamen Menschen. Und damit konnten wir auch noch fertig werden, denn sie fielen ja auch unter unseren universalen Begriff des Menschen als solchem und an sich. Das erregte auch kein Ärgernis und Anstoß, denn auch wir waren ja Menschen. Und nun entdeckt man plötzlich, in anderen europäischen Ländern früher als bei uns, vor allen Dingen in England, daß nicht nur Arbeitskräfte, nicht nur Menschen kamen, sondern es kamen u. a. Muslime. Es kamen gläubige Anhänger des Islam, mit ihrer ganz anderen Kultur, ihrer anderen Mentalität und mit ihrem ganz anderen Glauben. Das hätten wir eigentlich von Anfang an wissen können, daß wir nicht rein ökonomisch durch den Import von Arbeitskräften einen Arbeitskräftemangel auf dem Arbeitsmarkt beheben können, sondern daß damit auch ein Kulturproblem verbunden ist. Aber welches das ist und mit welchen konkreten und dramatischen Folgen, das beginnen wir erst jetzt zur Kenntnis zu nehmen. Und da traten die auf, die für Multi-Kulti waren, und wollten dies lösen indem sie Multi- Kulti sagten. Das sei nicht nur das Problem, sondern auch die Lösung des Problems. Und die gleichen sagen heute, so geht das nicht, natürlich müssen wir unsere Prinzipien, Werte und Normen festhalten und die müssen anerkannt werden. D.h. konkret, ihr müßt aufhören Moslems zu sein, dann könnt ihr mit uns auf unserer abstrakt allgemeinen Menschheitsebene wieder zusammen sein. Da haben wir einen erstaunlichen Punkt erreicht, an dem sich schon im 18. Jahrhundert zeigte, daß eine bestimmte Form der Aufklärung praktisch in Despotismus umschlägt. Wenn man dem wie ein Phönix aus der Asche wieder auferstandenen Michel Friedman zuhört, hört man die Stimme des Sarastro aus Mozarts Zauberflöte im Hintergrund, „und wen diese Lieder nicht erfreun, verdienet nicht ein Mensch zu sein.“ Das ist ein altes Lied und eine alte Melodie.

Wenn das aber so ist, dann muß es eine zunächst intellektuell geistig erarbeitete vermittelnde Form geben, und dafür ist entscheidend zu klären, was wir eigentlich unter Aufklärung verstehen. Wenigstens will ich daran erinnern, daß unser Vorkämpfer, unser Hohepriester dieser ganzen Entwicklung, Jürgen Habermas, sein letztes Buch unter dem Titel „Zwischen Naturalismus und Religion“ veröffentlicht hat. D.h. das Aufregende ist, daß dieser hoch begabte Mann, der einmal versucht hat, seiner Theorie wieder den Charakter einer revolutionären Anweisung für das Handeln zu geben, sich heute dem Thema der Religion zuwendet. Wenn man seine Laufbahn verfolgt, hat er schon immer mit einem begnadeten Witterungsvermögen gespürt, was morgen auf der Tagesordnung steht. D.h., wenn Jürgen Habermas sich zur Religion äußert, dann steht Religion auf der Tagesordnung. Das ist gar keine Frage, da können wir darauf vertrauen, der weiß das. Die Position, die Habermas uns hier zur Religion und Aufklärung entfaltet, will ich nur in zwei, drei Thesen herausgreifen.

Das eine, was er feststellt, ist, daß die Aufklärung in einer alles anderen als unumstrittenen Fassung ist, sondern daß sie selbst, nicht nur von außen bekämpft und bedroht, sondern in sich problematisch ist, und daß mit dieser Problematik der Aufklärung zwei Phänomene verbunden sind. Das eine Phänomen ist eine Erschütterung des normativen Bewußtseins der Modeme. Das muß man festhalten. Was Habermas feststellt, ist, daß die viel beschworene und zukunftsverheißende Moderne aus der Sicht des führenden Kopfes des Aufklärungsdenkens weit über Deutschland hinaus in ihren normativen Grundlagen erschüttert ist. Sie sind nicht mehr selbstverständlich. Sie sind umkämpft, in sich problematisch und brüchig. Ein unglaublicher Befund!

Und das zweite, was er feststellt, ist, daß im Laufe dieser Modeme, wie wir sie jetzt vor uns haben, die Sensibilität für pathologische Lebensformen verloren geht. D.h. daß eigentlich die Frage nach dem wahren und richtigen Leben selbst als Frage nicht mehr gestellt wird. Man kann also zwischen richtigen und falschen, zwischen authentischen und nicht authentischem Lebensformen nicht mehr unterscheiden, weil die Sensibilität dafür verloren gegangen ist. So wie er schon einmal sagte, die Gefahr unserer Emanzipation ist, daß - wenn sie ihr Ziel erreicht hat - wir dann die Sprache verloren haben, in der wir die Idee eines geglückten Lebens überhaupt noch formulieren können. Von diesem Zweifel ist er schon seit langem heimgesucht. Also offenbar haben wir die Sprache verloren, in der wir nach der Meinung von Habermas überhaupt noch die Frage diskutieren können, was ein menschliches, richtiges und geglücktes Leben ist. Das ist der Befund, kurz und pauschal zusammengefaßt.

Und nun taucht doch die interessante Frage auf. Wo sucht er die Rettung? Wo könnten Quellen der Heilung für die von ihm festgestellten Defizite und Pathologien hergenommen werden? Die Aussage über die Gesellschaft als solche lag auch seiner Zuwendung zum Marxismus und seiner Überzeugung von der Erneuerung und der notwendigen Erneuerung des marxistischen Gedankens am Anfang seiner großen Laufbahn zugrunde. Aber der Marxismus und die ganzen Traditionen, mit denen er zusammenhängt, geben nichts her, um den von ihm jetzt festgestellten defizitären Befund beheben zu können. Und wo schaut er nun hin? Wo erhofft er sich Heilung und Rettung? Ich mache es bewußt spannend, damit Sie das nötige Erweckungserlebnis haben, denn die Antwort lautet, er schaut nach der Religion! Herr Habermas schaut nach der Religion. Nicht weil er an Religion als solcher interessiert ist, sondern weil diese so verunglückte Aufklärung der Religion bedarf. Und weshalb bedarf nun diese so von ihrem Umkippen und Mißglücken bedrohte Aufklärung der Religion? Sie bedarf ihrer Verheißungspotenziale und deren Entbindung durch und für die Vernunft. Und sie braucht die semantischen Potenziale, die in der Religion und ihren Traditionen schlummern, um die verloren gegangene Sensibilität für geglückte und pathologisch mißglückte Lebensformen wieder zurückzugewinnen.

Also wenn jetzt gesagt wird, die Modeme als Aufklärung sei die Rettung, dann kann ich denen nur empfehlen, sie sollen „Die Dialektik der Aufklärung“ lesen, in der Horkheimer und Adorno einen kontinuierlichen Zusammenhang zwischen der Aufklärung als Herrschaft durch den Begriff über die Natur in den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts in Kommunismus und Nazismus enden sehen. Also wer fröhlich die Vögel der Aufklärung wieder fliegen lassen will, muß sich mit dieser These auseinandersetzen, die ja auch für die ganze Jugendrevolte und die Multi- Kulti-Bewegung eine große Bedeutung gehabt hat.

Und nun entdeckt Habermas semantische Potenziale und Vernunftpotenziale in der Religion, und weil das so ist, plädiert er dafür, daß auch die Gläubigen religiöser Gemeinschaften, also auch des Christentums, im öffentlichen Diskurs wieder zugelassen und gehört werden müssen. D.h. er plädiert dafür, daß die Religion nicht in den letzten Winkel des Privaten verbannt bleibt, sondern aus diesem Winkel hervorgeholt, wieder zugelassen und mitbeteiligt wird an der öffentlichen Diskussion, um ihr damit auch wieder einen gewissen Anspruch auf öffentliche Geltung zurückzugeben.

Habermas ist also der Meinung, daß eine sich von der Religion emanzipierende und verselbständigende Vernunft selber der Belehrung durch die Religion bedarf. Daß also die Vernunft in einem fast kastrierten Zustand ist, wenn sie sich der Heilungsquellen und der Potenziale der Religion verschließt. Das ist doch etwas!

Das wäre ja schon ein Ansatz, wenn man sich vorstellt, daß auch führende Intellektuelle der islamischen Welt, vor allen Dingen Irans, das Problem genauso sehen, wie ich es erläutert habe, nämlich wie sie sich ohne Preisgabe und Verlust ihrer Traditionen die Segnungen der Modeme aneignen können. Das ist ihr Problem. Und die, die dafür eine philosophische Grundlage suchen, die wenden sich nicht an die großen Aufklärer, an Hume und Locke, sondern sie wenden sich an Hegel. Selbst im Iran spielt für dieses sich ihnen so darstellende Problem Hegel eine entscheidende Rolle. Und daneben vielleicht in noch erstaunlicherer Weise Heidegger. Wie sie beides, Hegel und Heidegger, zusammenkriegen, das weiß ich nicht, aber es ist nicht zu übersehen, daß das der Fall ist. Was uns behilflich sein könnte, sind die in unserer eigenen jüngeren Tradition, nehmen wir mal den Habermas’ schen Begriff, schlummernden Potenziale, die wir nur zu entbinden und zu aktualisieren brauchen, um einen konstruktiven Beitrag nicht nur für uns selbst im Sinne der Vermittlung von Modeme und Tradition zu leisten, sondern auch für diese Köpfe in der islamischen Welt, die das auch als ihr Problem sehen, wenn auch aus einer anderen Perspektive.

Wenn uns das nicht gelingt, dann kann es so gefährlich werden, daß einmal das 21. Jahrhundert an Katastrophen noch „reicher“ wird als das 20. Jahrhundert. Natürlich kann das schief gehen. Wir haben das ja erlebt. 1933 kam Hitler. Wer aber kommt in der islamischen Welt hoch, wenn die an der Modeme scheitern? Es ist immer so gewesen von Platon an, daß man in Zeiten der Krise der Philosophie bedürftig ist. Philosophie ist theoretisches Krisenmanagement.

Wenn das Problem aber so wie in den Talkshows weiter traktiert wird, geht es schief. Denn die amerikanischen Truppen stehen im Irak, die Selbstmordattentäter sind in der westlichen Welt. Nach Kategorien, die nicht mehr den konventionellen Krieg zum Gegenstand haben, ist das zweifellos Krieg. Und man muß sich vor allen Dingen mal überlegen, ob die Chancen des Westens in einem nach traditionellen Vorstellungen geführten Krieg wirklich so gut sind. Die anderen mögen zwar ökonomisch und sozial rückständig sein, aber was will der Westen denn machen, wenn die zehn-, fünfzig oder hunderttausend Selbstmordattentäter schicken. Und 15 Millionen Anhänger des Islam leben bereits in Europa. Sie sind ja nicht fern in der Türkei, sie sind hier, mitten unter uns. Und sie stellen ihre Forderungen und klagen ihre Rechte ein. Diese Situation zu lösen mit Multi-Kulti- Sagen, das ist vorbei. Und das ist ein Fortschritt.