1. Dezember 1993

Medizin und Ideologie
Informationsblatt der Europäischen Ärzteaktion
Medizin und Ideologie
Günter Rohrmoser
Genügt Ethik?


Nachdruck des Vortrages vom Kongreß "Mut zur Ethik", Bregenz 1993

Für das Thema der Ethik heute hätte ich mir keine bessere Grundlegung wünschen können als die Einführung, die mein Freund, Professor Frenkin, gerade gegeben hat. Was hat er festgestellt?

Aus seiner Darstellung geht hervor, daß eines der größten revolutionären Experimente, auf das die Menschheit sich in der Geschichte eingelassen hat, nämlich die Verwirklichung der Einheit von Freiheit und Gleichheit, in der ehemaligen kommunistischen Sowjetunion gescheitert ist. Sie ist vor allem auch deshalb gescheitert, weil sie von Anfang an von der Intention bestimmt war, das, was die Marxisten die bürgerliche Ethik, die bürgerliche Moral nannten, und alle diese bürgerliche Moral voraussetzenden geschichtlichen, ethischen, moralischen Traditionen Europas mit Stumpf und Stil auszurotten. Die große Befreiung aus den ethischen Mauern und Fesseln einer unaufgeklärten Vergangenheit sollte und mußte zum großen ethischen Vakuum führen. Man hegte die Hoffnung, daß aus diesem Vakuum, wie ein Phönix aus der Asche, ein neuer Mensch entstehen würde, der entweder die sozialistische Moral so verinnerlicht hätte, daß es einer eigenen moralischen Lehre und Unterweisung nicht mehr bedürfte, oder der das sein würde, was man eine sozialistische Persönlichkeit nannte, der also den bis in die Entfremdung treibenden Antagonismus von Individual- und Allgemeininteresse hinter sich gelassen haben würde.

Wenn wir heute die Frage nach dem tieferen Grund stellen, weshalb dieses Experiment gescheitert ist, brauchen wir uns nur an die großen Reden von Gorbatschow zu erinnern, der als die entscheidende Ursache für den Zusammenbruch des Sozialismus die Krise der Moral nannte. Noch vor allen ökonomischen Ineffektiväten, vor allen inneren Blockierungen der sozialistischen Gesellschaft nannte er als den tiefsten Grund die Krise der Moral. Den Zustand der Gesellschaft, die durch diese Krise der Moral bestimmt ist, charakterisierte er als den Verlust jedes Gefühls und Bewußtseins für persönliche Verantwortung. Die Idee, daß der Mensch für sich, für das, was er tut, sein Handeln und damit auch für die Gemeinschaft eine Verantwortung zu übernehmen hat, sei zusammengebrochen. Damit war natürlich auch die Quelle des ökonomischen Fortschritts untergraben, weil keiner mehr bereit war, Entscheidungen mit Risiken zu treffen, um nicht zur Verantwortung gezogen zu werden. Gorbatschow bezeichnete die massenhafte, die Gesellschaft entnervende und paralysierende Seuche des Alkoholismus und die sich unaufhaltsam ausbreitende Kriminalität als die entscheidenden Ursachen für diese Krise und damit für den später eingetretenen Zusammenbruch des Sozialismus. Wir können feststellen, daß der große Versuch, die bürgerliche Ethik und Moral auszurotten, um eine andere, die bessere eines neuen und zukünftigen Menschen an die Stelle zu setzen, nicht nur nicht gelungen ist, sondern daß das bewußt herbeigeführte und gewollte Vakuum eine Gesellschaft in das moralische Nichts und damit auch in den Untergang als gesellschaftliches, politisches, soziales und ökonomisches System gestürzt hat.

Das eigentlich Beunruhigende und Erschütternde ist, daß diese große Lehre der Menschheitsgeschichte, deren gegenwärtige Zeugen wir im 20. Jahrhundert sind, nicht verstanden und nicht zur Kenntnis genommen wird. Es geht um die Unerläßlichkeit und die Unverzichtbarkeit eines die Gesellschaft integrationsfähig und konsensfähig haltenden Ethos. Der Verlust des Ethos hat zum inneren Zerfall, zum Untergang der Gesellschaft selber geführt. Die zu ziehende Lehre ist, daß Ethik und Moral bei aller Bedeutung, die sie natürlich für die persönliche Lebensführung, die Lebensgestaltung, die Lebensform des einzelnen haben, doch vor allem eine geschichtlich objektive, für das Überleben oder den Untergang von Völkern, Kulturen und Gesellschaften entscheidende Bedeutung haben. Diese Lehre, die sich regelrecht vor unseren Augen vollzieht, wird nach meinem Eindruck kaum zur Kenntnis genommen, kaum diskutiert, sondern es wird ständig nur von den technologischen und finanziellen Problemen eines Systemtransfers geredet. Damit steht die intellektuelle und politische Öffentlichkeit nicht auf der Höhe des Begriffes von Karl Marx, sondern meint diesen weltgeschichtlichen Vorgang auf dem Boden eines öden und primitiven Materialismus zu verstehen.

Die aktuelle Bedeutung und Anwendung dieser Erfahrung auf uns ist, daß wir jetzt erst allmählich zur Kenntnis nehmen, daß auch wir uns vergleichbaren, zum Teil geradezu identischen Zielen verschrieben hatten, nämlich der Herstellung einer klassenlosen, egalitären Gesellschaft totaler Befreiung und Selbstverwirklichung des Menschen. Diese Ziele waren auch die entscheidenden Ziele des geschichtlichen, gesellschaftlichen Prozesses in vielen westlichen Ländern. Ganz sicher waren das, was wir aus eigener Beobachtung bestätigen können, die vorherrschenden Ziele in der Bundesrepublik Deutschland seit fünfundzwanzig Jahren. Die große Kulturrevolution der 60er Jahre war nur der ausdrückliche ideologisch-politische Anfang eines breiten gesellschaftlichen Prozesses, der heute alle Schichten erreicht und verändert hat.

Was waren die Ziele? Wenn wir uns die Ziele noch einmal genau ansehen, gibt es zwischen den Endverheißungsbotschaften der kommunistischen Gesellschaft und den Endbefreiungshoffnungen der emanzipatorischen Bewegung im Kern keinen Unterschied. Auch der Marxismus wollte letzten Endes die vom Liberalismus gegebenen Freiheitsversprechungen, wenn auch auf anderem Wege, nämlich durch die Zwischenschaltung einer Phase der Diktatur, erreichen. Es ging ebenso um die Freisetzung des Menschen, der sich den erzeugten gesellschaftlichen Reichtum aneignet, um die unendlichen in ihm schlummernden Möglichkeiten der Kreativität ohne Repression in einer herrschaftslosen Gesellschaft zu verwirklichen. Das war die Endvision, die auch dem ursprünglich bürgerlichen Republikaner und Liberalen Karl Marx vorschwebte. Wir vergessen häufig, daß beide Bewegungen, der Liberalismus und der Sozialismus, aus einer Krisensituation des 19. Jahrhunderts hervorgegangen sind, in der es ihren Vertretern als notwendig erschien, die zu erreichenden Endzustände auf verschiedenen Wegen anzusteuern.

Wo liegt der Unterschied? Der Weg, den in zunehmendem Maße immer mehr westliche Gesellschaften einschlugen, ging zunächst, auch wegen des weltpolitischen Gegensatzes zur sozialistischen Sowjetunion, von der Beibehaltung des Rechtsstaats und der Privatautonomie des Bürgers als den Grundprinzipien von Marktwirtschaft und Demokratie aus. Das Schockierende, zum Teil auch vom bürgerlichen Bewußtsein bis zum heutigen Tag nicht wirklich Erkannte und Durchschaute ist, daß aber der Versuch, die gleichen utopischen Ziele zu erreichen, gerade unter marktwirtschaftlichen Bedingungen mit scheinbar noch größeren Erfolgsaussichten vorangetrieben wurde. Ich beschränke mich auf die Erfahrungen in der alten Bundesrepublik Deutschland. Der revolutionäre Weg war hier nicht in erster Linie die sozialistische Vergesellschaftung der Produktionsmittel, sondern die Kulturrevolution, also eine revolutionäre Veränderung der Kultur. Ihre Zielsetzung war programmatisch klar definiert, nämlich den Menschen selber, sein Bewußtsein, seine normativen Vorstellungen, ja letzten Endes seine als "bürgerlich" apostrophierte Persönlichkeitsstruktur aufzubrechen und zu verändern. Der auf dem Wege der Kulturrevolution produzierte neue Mensch sollte dann die neue Gesellschaft hervorbringen. Das ist der Weg und das ist das Ziel, woran heute - und zwar keineswegs nur in Deutschland, wie wir heute vernehmen konnten - von denen, die definieren, was Fortschritt ist, die Gesellschaft gemessen wird.

Die kulturrevolutionäre Strategie der Transformation der Gesellschaft und ihrer Systeme ist nach wie vor die entscheidende Herausforderung für alle, die nicht auf dem Boden dieser Revolution stehen. Es ergibt sich daraus eine sehr schmerzliche Einsicht, die ich eigentlich auch nur mit Skepsis und Zögern nenne, weil die Schwere ihrer Konsequenzen erfahrungsgemäß vielen als unzumutbar erscheint. Die Einsicht lautet, daß nur eine in gleicher oder vergleichbarer Weise kulturrevolutionär ansetzende Zielsetzung allein imstande sein wird, mit den anarchistischen und nihilistischen Elementen, die dieser kulturrevolutionären Strategie innewohnen, fertig zu werden.

Wenn wir die Frage stellen, warum Ethik alleine nicht genügen kann, um der Schwere dieser gegenwärtigen Herausforderung gerecht zu werden, müssen wir uns daran erinnern, daß die Wurzel beider großen Versuche letztlich eine bestimmte Philosophie war. Für Karl Marx stand es fest, daß letzten Endes die revolutionäre Konzeption aus einer negierend aufhebenden Transformation des deutschen Idealismus zu entwickeln war. Auch die neue kulturrevolutionäre Strategie hat sich, in der Anknüpfung an bestimmte Traditionen des deutschen Idealismus, auf dem Boden einer marxistischen und psychoanalytischen, sagen wir besser Theorie als Philosophie, verfaßt und verstanden. Wer nicht den Willen und die Kraft hat, sich auch auf diese philosophische Substanz und die philosophischen Grundlagen verstehend und begreifend einzulassen, wird sich immer nur als ein Objekt und als ein Opfer von Strategien vorfinden, was er dann, in seinem bürgerlichen Fairneßverständnis und Anstandsbewußtsein tief gekränkt, nur klagend zur Kenntnis nehmen kann.

Die entscheidende Frage seit dem Ende der achtziger Jahre lautet, ob wir noch gewiß sind, daß bei fortschreitender Erosion der inneren Ordnungen und des Ethos unserer Gesellschaft, beim Fortschreiten der politischen, ökonomischen und so zialen Krise, die führende Politiker bereits veranlaßt, von einer Art präfaschistischem Zustand in unserem Lande zu sprechen - und alles spricht dafür, daß die Krise fortschreiten wird -, das Ergebnis ein anderes sein wird, als wie es aus dem Verfall des monolitisch geschlossenen Kommunismus in Rußland zu beobachten ist. Eben darin besteht der Ernst der Herausforderung, daß sich vor unseren Augen nicht mehr und nicht weniger abzeichnet, in Rußland ganz manifest, bei uns latent und weniger schwer zu erkennen, als eine innere Auflösung der menschlichen Gesellschaft selbst. Worum es geht, ist nichts weniger, als daß in einer Weise, die über die Erfahrung mit den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts hinausgeht, nunmehr die für konstant und unveränderbar gehaltenen Grundlagen unserer mehrtausendjährigen Zivilisation zur Debatte stehen.

Lesen wir, was ein hervorragender Intellektueller, der seinerzeit zur Linken gehörte, Hans Magnus Enzensberger, im Blick auf die Situation unserer Welt schreibt. Er sieht nichts anderes als den schleichenden und dramatischen Prozeß der Auflösung aller Ordnungen, die innere Freisetzung von Irrationalismus, von Gewalt, von Bürgerkriegen mit den unterschiedlichsten ethnischen, nationalen, religiösen, kulturellen Motiven, Kriege, die immer mehr der Kontrolle der traditionellen Staaten entgleiten. Er sieht in unserer Welt das Panorama einer Weltbürgerkriegssituation sich entwickeln, der die traditionellen Institutionen, die traditionelle Politik und das, was wir an Staat noch übrig behalten haben, wehr- und ratlos gegenüberstehen. Er empfiehlt uns, die Welt sich selbst zu überlassen, uns um unsere eigenen Angelegenheiten, um unseren Nachbarn und, wenn es geht, um das Pflanzen eines neuen Apfelbäumchens zu kümmern, was natürlich von anderen Linken als eine besonders verwerfliche Form des Defaitismus verurteilt worden ist.

Dieses Panorama ist nicht das Horrorgemälde eines Konservativen, sondern die Wiedergabe von Thesen eines der großen avantgardistischen Intellektuellen der Bundesrepublik, Hans Magnus Enzensberger. Der bedeutende polnische Philosoph Leszek Kolakowski hat auf dem Kongreß für Philosophie diesen gleichen Prozeß als die Folge der Deformation und Karikatur moderner Rationalität durch den Sozialismus interpretiert und hat eine Mischung von Anarchismus auf der einen Seite und von Fundamentalismus auf der anderen daraus hervorgehen sehen, der die Politik und der Staat ratlos gegenüber stünden. Es war zu lesen, daß die in Berlin versammelten eintausend Philosophen keine angemessene Antwort, geschweige denn eine Alternative auf diese schockierende Provokation zu geben in der Lage waren.

Das ist die Situation, in der dieser Kongreß "Mut zur Ethik" stattfindet. Auch hier muß man deutlich sagen, daß es eine optische Selbsttäuschung aller derjenigen, die an einem solchen Kongreß Anstoß nehmen, ist zu meinen, dieser Ruf nach Ethik sei eine Sache von zurückgebliebenen, fossilartig wirkenden bürgerlichen sogenannten Neokonservativen, sondern dieser Ruf nach Ethik und das Bedürfnis nach Ethik ist ein neues, unsere Gesellschaft im Ganzen tief bestimmendes Bedürfnis. Es gibt heute keine Veranstaltung, keine Diskussion eines vitalen Problems, in denen nicht in allen Zusammenhängen, die auftreten, nach der Ethik gerufen wird. Es ist die Rede von der Notwendigkeit einer Wissenschaftsethik, es ist die Rede von der Notwendigkeit einer ökologischen Ethik, es ist die Rede von der Notwendigkeit einer neuen Wirtschaftsethik, es ist die Rede von der Notwendigkeit einer neuen Institutionenethik, und es gibt sogar mehr Leute als in den letzten zwanzig Jahren, bei denen allmählich die Einsicht dämmert, daß eine Schule, in der nicht erzogen wird, einem Selbstmordprogramm für die Gesellschaft gleichkommt.

Auch dies ist keine neuere Erkenntnis, sondern es sind zum Teil leidgeprüfte, aber von der Wirklichkeit noch erreichbare Emanzipatoren, die nunmehr die Frage stellen, ob nicht doch noch eine gewisse Autorität bei der Heranbildung und Erziehung des Nachwuchses notwendig ist. Die Welt, in der wir leben, ist schon dadurch ausreichend gekennzeichnet, daß Kongresse über "Mut zur Erziehung" und "Mut zur Ethik" stattfinden. Wenn es wirklich Mut bedürfte, um diese elementaren Selbstverständlichkeiten wieder in das Bewußtsein der Menschen zu bringen, müßte man in der Tat den Zustand unserer Gesellschaft und Kultur als reine Dekadenz bestimmen. Denn Dekadenz bedeutet ja nichts anderes, als daß eine Gesellschaft sich in ihren normativen Orientierungen gegen die Bedingungen ihrer eigenen Selbsterhaltung zu organisieren beginnt. Ich will nicht sagen, daß diese Gesellschaft dekadent ist, aber es lohnt sich doch, darüber nachzudenken, weshalb wir immer wieder auf Phänomene stoßen, die man in der Tat nicht anders verstehen kann denn als Symptome einer solchen Dekadenz.

Wenn beispielsweise in der Schweiz, die ich immer für ein besonders stabiles und innerlich gefestigtes, ja im Kern humanistisch-christliches Land gehalten habe, ein Lehrer aus der Schule fliegt, weil er in der eigenen Schule den Kampf gegen die Drogen kämpft, kann man eine solche Gesellschaft und den hier handelnden Staat nur noch als dekadent verstehen und die hier Verantwortlichen nur noch mit dem Zuge der Lemminge vergleichen, die mit einer wahnhaften Besessenheit dem Abgrund entgegen steuern.

Den ersten notwendigen Punkt zur Besinnung über die Ethik und über die Frage, ob Ethik zur Lösung unserer Probleme genügt, habe ich bereits genannt. Besinnung auf Ethik, Begründung von Ethik ist nicht möglich ohne Philosophie. Psychologie genügt nicht. Psychologie belehrt uns vielleicht über die geeigneten Methoden, ethische Ziele zu erreichen, aber zum Entwurf und zur Begründung von Ethik ist heute Philosophie unverzichtbar. Das wichtigste ist nicht, daß die über die gegenwärtige Entwicklung in der Gesellschaft Besorgten sich untereinander ihrer Gesinnung versichern, sondern wir müssen uns alle gemeinsam der anstrengenden Arbeit unterziehen, uns auf die philosophische Dimension aller Fragen, die heute unlöslich mit Ethik verbunden sind, einzulassen.

Welche Dimensionen sind das? Wir reden immer von der Ethik, und Sie alle wissen, daß es diese Ethik als eine einzige überhaupt nicht gibt. Der Pluralismus hat inzwischen zu einem ethischen Pluralismus, zu einer größtmöglichen Pluralität von Ethiken mit unterschiedlichen Charakterstilen und Begründungen geführt. Wer sich nicht auf diese Pluralität der Ethiken und ihrer Modelle und ihrer Fragestellungen einläßt, der läßt sich nicht auf die Herausforderung ein, mit der wir es heute zu tun haben. Selbstverständlich gibt es beispielsweise eine konservative Ethik und eine progressive Ethik. Es gibt, wenn wir an die philosophische Diskussion denken, die rationale Ethik, die Ethik nur als modern und aufklärungsfördernd zulassen will, wenn sie imstande ist, die Frage nach der Letztbegründung zu beantworten, und zwar nicht für das ethische Handeln, sondern für die Führung eines rationalen ethischen Diskurses über Ethik überhaupt. Manche waren so schockiert von diesen Letztbegründungsansprüchen, welche die sogenannte rationale Ethik stellt, aber in dieser Ethik ist gar nicht von ethischem Handeln die Rede, sondern es ist nur von der Begründung von Ethik und von der Grundlegung der Rationalität ethischen oder moralischen Diskurses die Rede. Der Versuch, einen solchen rational letztbegründeten moralischen Diskurs zu entwickeln, setzt als Vollstrecker der Verwirklichung der ethischen Postulate der rationalen Ethik nicht mehr und nicht weniger als eine sich in diesem Diskurs vereinigende Menschheit voraus, in dem alle, unangesehen ihrer partikularen Unterschiede, als bloße rationale mündige Individuen miteinander nach den Regeln kommunizieren, die einige deutsche Philosophen aufgestellt haben. Die Einlösbarkeit dieser letztbegründeten rationalen Ethik setzt also nicht weniger als die Utopie voraus, also einen Zustand, in dem wir, wenn es ihn gäbe, bereits keiner Ethik mehr bedürften.

Das zweite große Modell, das dem diametral gegenübersteht, nenne ich vorläufig in diesem Zusammenhang das konservative. Es ist das, was die neokonservativen Philosophen unserer Zeit als Common-sense-Ethik oder, wie ein anderer sie genannt hat, eine Ethik der Üblichkeit diskutieren. In dieser Theorie der konventionellen Ethik, der Üblichkeitsethik, überdauert nicht weniger als das alte aristotelische Ethosmodell. Es geht davon aus, daß man nicht unterstellen kann, die Menschen wüßten nicht, was ethisch richtig und falsch, was ethisch erlaubt und verboten, was letzten Endes ethisch schlecht und was gut ist. Diese Ordnungsvorstellung von Ethik setzt eine etablierte und mit den gesellschaftlichen Institutionen gegebene Praxis, also eine immer schon eingewöhnte Ethik voraus, mit der die Menschen zwar nicht utopische Ziele erreichen, aber sich doch halbwegs anständig und normal im Leben erhalten.

Ich könnte Ihnen jetzt viele drastische Beispiele zeigen, wie man durch schockierendes Verhalten die Ethik der Üblichkeiten, die Ethik der Normalität zerstören und aufbrechen kann. Wenn ich beispielsweise den Schauspieler im Theater auf die Bühne sch... lasse, ist das nicht nur ein Ausdruck von vulgärer und heruntergekommener Gesinnung, sondern es ist die schockierende Aktion, in der die eingeübte und eingewöhnte Ethik der Üblichkeiten provozierend aufgebrochen und zum Verschwinden gebracht werden soll.

Vielleicht kann man in dieser Situation, in der wir uns gegenwärtig befinden, gar nicht viel mehr tun und hoffen, als daß man die noch vorhandene moralische Substanz, das moralisch Selbstverständliche in unserer Gesellschaft durch Bewußtwerdung und durch Anstrengungen der Rechtfertigung stärkt und zu erhalten sucht. Wenn bei vielen Menschen die letzten Reste der Ethik des Üblichen verschwinden, zerfallen die Sitten so total, daß das, was dann freigesetzt wird, den Urhebern dieses Sittenverfalls in der Form der neuen Gewalttaten entgegentritt.

Die dritte große, heute verbreitete Form ist die Forderung nach einer ökologischen Ethik, das heißt nach einer in der Naturteleologie begründeten Ethik. Das ist in der Tat ein aufregendes Signal für die Veränderung der ethischen Situation in unserer Welt, weil die Welt wieder erkennt, was den Griechen ganz selbstverständlich war, nämlich daß die Ethik zur Bedingung der Selbsterhaltung geworden ist. Die Formel von Hans Jonas lautet, in Abwandlung von Immanuel Kants kategorischem Imperativ: "Handle so, daß das Überleben der menschlichen Gattung in Permanenz gesichert ist." Hier wird Ethik aus der Notwendigkeit ihrer Erhaltungsdienlichkeit begründet. Kein anderes Anliegen hatte ja Platon, als deutlich zu machen, daß Ethik die Bedingung nicht nur der Selbstverwirklichung des Menschen, der Erreichung seiner Bestimmung ist, sondern daß Ethik zur schieren Selbsterhaltung notwendig ist.

Der Mensch als ein so riskiertes, "freigelassenes" Wesen, wie die moderne Anthropologie sagt, das so auf Formung und so auf selbstständige Lebensführung angewiesen ist, geht ohne Ethik zugrunde. Der Verlust oder die Zerstörung von Ethik bedeutet Selbstzerstörung. Es geht in der Ethik darum, ob der Mensch als Mensch überleben kann. Es geht darum, wie Platon sagte, daß der Mensch Freund mit sich selbst werde. Freund mit sich selbst werden heißt, daß es in der Ethik um die Gewinnung der Identität geht. Die ethische Aufgabe lautet daher, mit sich selbst vertraut zu werden, die Entfremdung zu überwinden und es bei sich selbst auszuhalten. Nichts anderes meint auch Kant mit dem großen Gedanken der "Achtung". Ethik ist eine Notwendigkeit, damit der Mensch sich selbst unter die Augen treten kann. Was immer wir an gesellschaftlich nützlichen oder weniger nützlichen Zielen und Zwecken ausdenken mögen, so bleibt die Achtung des Menschen vor sich selbst doch das tiefste Motiv der Sehnsucht nach Ethik. Der Mensch, der sich nicht selbst in die Augen schauen kann, wird zu einem Vergiftungsherd für die Nächsten. Wenn sich das zu einer allgemeinen Tendenz ausweitet, bedeutet es eine innere Vergiftung des Verhältnisses, das die Gesellschaft zu sich selbst entwickelt.

So plausibel die Einsicht in die Selbsterhaltungsdienlichkeit von Ethik und die daraus entstandenen ethischen Konzeptionen sein mögen, muß ich doch den entscheidenden Punkt der Kritik noch erwähnen. Er geht aus von der Frage: "Wozu Selbsterhaltung?" Es gibt eigentlich nur einen Philosophen, einen der größten und radikalsten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Friedrich Nietzsche, der begriffen hat, daß mit dem Ende einer letztlich christlich-platonisch begründeten, mehr als zweitausendjährigen Ethiktradition sich die moderne Gesellschaft und Welt auf einen Zustand hin entwickelt, in dem eine Frage, wie sie so in der Geschichte unserer Kultur noch nie gestellt worden ist, gestellt wird, nämlich "Wozu Mensch überhaupt?"

Die ganze moderne Anthropologie bei Plessner Gehlen und anderen operiert ja so, als sei diese Frage beantwortet. Nun aber tritt uns eine Gesellschaft entgegen, die in ihrem eigenen Kulturzerfall weder die Tiefe der Frage verstehen kann noch bereit ist, eine Antwort zu geben. Die realen Folgen dieser Antwortlosigkeit erreichen uns nicht nur in Gewalttaten, die wir beobachten können, sondern im Hervortreten eines neuen Tätertyps. Wenn Sie die Interpretationen und Beschreibungen eines in der Regel jungen Tätertyps genau verfolgen, fällt vor allem die fast unbegreifliche innere Empfindungslosigkeit und Grausamkeit auf, mit der Taten von monströser Scheußlichkeit begangen werden. Das tiefste Entsetzen unter Pädagogen und Kommentatoren zeigt unsere eigene Unfähigkeit, diesem Täter überhaupt begreiflich zu machen, daß er das, was er tut, nicht tun darf. Er ist empfindungslos. Er versteht die ethische Frage als solche nicht mehr. Man kann nicht sagen, daß er gewissenlos ist, sondern er hat einen Zustand jenseits des Gewissens und jenseits der Frage von Gut und Böse erreicht.

Nun forschen die Gelehrten und Politiker und fragen, wo dieser Tätertypus herkommt. Man findet Ursachen in der sozialen Frage, in dem zweifellos sich vollziehenden Verfall an den Schulen, im Zusammenbruch der bürgerlichen Familie, in der moralischen Korruptheit des Anblicks, den die Politiker bieten, in der Brutalität und Hemmungslosigkeit, mit der eine Konsum- und Ellenbogengesellschaft um jedes Vorteils willen bereit ist, die letzte Regung der Barmherzigkeit zu opfern. Das alles ist nicht falsch. Aber ist damit die letzte Ursachendimension dieses Phänomens erreicht? Machen wir es uns nicht zu leicht, wenn wir, wie es Gott sei dank noch bei vielen selbstverständlich ist, die ethische Frage neu aufwerfen? Wir haben es letztlich mit Phänomenen transethischer und transmoralischer Ursachen zu tun.

Der erste große Denker, der dieses Phänomen vor weit über hundert Jahren vorausgesehen hat, ist kein anderer als Dostojewski, der in seinem Roman "Die Dämonen" in Stawrogin einen Täter zeichnet, der übrigens nicht zufällig ein sehr junges Mädchen vergewaltigt, das sich dann erhängt. Die tiefste Verfehlung oder auch Versehrung des Stawrogin liegt darin, daß er aufhört zu empfinden. Die totale Kälte, die Unfähigkeit, noch menschlich zu empfinden, reizt ihn zu der exzessiven Grausamkeit seiner Taten. Es bleibt ihm nur noch der Weg des Verbrechens für seinen Versuch, wieder empfinden zu können.

Dostojewski wollte uns mitteilen, daß eine Gesellschaft, die diese innere menschliche Befindlichkeit hervorbringt, reif ist für große kollektive Verbrechen, wie sie dann im 20. Jahrhundert auch eingetreten sind. Ebenso sah auch Nietzsche aus dem von ihm diagnostizierten Nihilismus nichts anderes hervorgehen, als eine neue Verlaufsform der Geschichte, die der Logik des Schreckens folgen würde.

Damit bin ich beim letzten Punkt, der mir von besonderer Bedeutung erscheint. Angesichts des Abgrundes, der sich für viele aufzutun beginnt, greifen die Menschen verzweifelt nach Ethik wie nach einem Rettungsanker. Es ist keinesfalls so, daß die Menschen nicht auf Ethik ansprechbar wären. Ethik ist kein Sonderanliegen der Trägerkreise dieses Kongresses. Wenn beispielsweise der Verein für psychologische Menschenkenntnis die Ethik zu seinem Thema macht, nimmt er eine Frage von allgemeinstem geschichtlichem Interesse wahr, und jeder sollte jedem dankbar sein, der hierher gekommen ist und sich zur Verfügung gestellt hat, diese Frage mit Ihnen zu erörtern.

Was Sie alle hierher geführt hat, ist dieser Ruf nach lebensrettender, bewahrender, auch die Errungenschaften der Aufklärung bewahrender Ethik. Auch die Aufklärung vernichtet sich selber, wenn sie atheistisch und immoralistisch wird. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Aufklärung, vor allen Dingen in Deutschland, aber ebenso auch in der Schweiz, das eigentlich ethische Zeitalter eingeleitet hat. Völlig unsinnig wäre es zu glauben, als gehörten Aufklärung und Ethik nicht aufs engste zusammen. Der große Gedanke, der die Aufklärer des 18. Jahrhunderts bewegte, war der Gedanke von der menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit. Diese in der Regel übrigens religiös inspirierten Denker und Intellektuellen wollten ja nicht durch rationale Wissenschaft und Technik einen technologischen Vernichtungsapparat produzieren, sondern sie wollten einen besseren Menschen, einen perfekteren Menschen, einen vollkommeneren Menschen.

Welch eine Energie haben vor allen Dingen die Populärphilosophen und Theologen der Aufklärung auf die ethische Predigt verwandt! Die meisten Predigten in Deutschland waren damals ständischethische Ermahnungs- und Erweckungsstunden. Aufklärung war das große Zeitalter der Ethik, und eine Aufklärung, die sich von dieser ihrer ethischen Verpflichtung löst, vernichtet sich als Aufklärung selber. Es geht bei der Ethik immer auch darum, ein zur Aufklärung und Mündigkeit williges und befähigtes Subjekt hervorzubringen.

Damit bin ich bei unserer heutigen Situation. Wenn jetzt überall der Ruf nach Ethik erschallt, wird die Frage der Ethik unter dem Begriff des Wertes diskutiert. Auch bei der Vorbereitung dieses Kongresses wurde von der Erfahrung des Werteverfalls ausgegangen. Die Werte verfallen. In der modernen Welt verfallen ständig Werte und es entstehen auch immer neue Werte, es ist ein ständiger Strom der Mutationen und der Veränderungen, in dem abgewertet, aufgewertet, umgewertet, neugewertet wird. Die Prozesse der Wertung, der Auf-, Ab- und Um- und Neuwertung begleiten die auf rasante Veränderung angelegte moderne Industriegesellschaft so, daß wir in der Regel gar nicht mehr mitkommen können.

Die entscheidende Frage ist aber, worauf wir uns einlassen, wenn wir uns auf den Wertbegriff einlassen. Der Wertbegriff hat seine eigene Logik. Worin besteht diese Logik? Die Logik des Wertbegriffs beruht erstens darauf, daß Werte gesetzt werden. Zweitens werden sie, indem sie gesetzt werden, anderen Werten entgegengesetzt. Drittens müssen sie, da sie entgegengesetzt werden, gegen die anderen Werte durchgesetzt werden. Die Werte setzen sich nicht selber und setzten sich nicht selber durch, sondern sie sind auf Menschen angewiesen, die sie setzen und durchsetzen. Und diese Menschen kämpfen nicht gegen andere Werte, sondern sie haben es konkret mit Menschen zu tun, die gegenüber diesen Zumutungen selber Werte verteidigen. Das führt kraft der Logik, die dem Wertbegriff immanent ist, bis zu dem sehr greifbaren Kampf zwischen denen, die unterschiedliche Werte haben.

Da es sich um Kampf handelt, entsteht sehr schnell die Unterscheidung von Freund und Feind, dann sind die einen, die erhoffte oder erwartete Werte haben, die Guten und die anderen, die andere Werte haben, sind die Schlechten. Dieser Kampf ist in der Natur der Sache liegend ein Kampf um die Macht. Die Gewinner haben mehr Macht als die Verlierer. Wir können das an einem ganz naheliegenden Beispiel veranschaulichen. Wer das Monopol über die elektronischen Medien hat, verfügt in diesem Kampf der Werte über das absolute Machtmonopol, und die anderen können nur wie ein Hund winseln, daß ihnen noch eine Mikrophonzeit von 2 Minuten eingeräumt wird, die dann die Machthaber aus manipulatorischen Gründen und aus Gründen der fingierten Objektivität dem anderen noch bereit sind einzuräumen. Einen Machtkampf um die Werte können die, die selber nicht den Zugang zum wichtigsten Machtinstrument unserer Gesellschaft, den elektronischen Medien, haben, nicht gewinnen.

Ich spare mir eine lange Reflexion über elektronische Medien und ihre Rolle für unsere Demokratie. Viel wichtiger ist das, was sich in diesem Wertekampf als ein Teil des revolutionären Kampfes um die Kultur vor unseren Augen vollzieht. Es vollzieht sich nichts anderes, als was Friedrich Nietzsche vorausgesehen hat. Seine Theorie war, daß die Macht die Substanz der Kultur und der Politik sein würde. Die Werte würden sich als nichts anderes als die vom Willen zur Macht gesetzten Instrumente seiner eigenen Erhaltung und Steigerung erweisen. Die Durchsetzung dieses Willens ist die eigentliche Wirklichkeit unseres Jahrhunderts, gerade auch in den kulturrevolutionären Strategien.

Das bedeutet, daß der Nihilismus nicht darin besteht, daß Werte geleugnet werden. Nein, Werte haben wir jede Menge, wir haben geradezu eine Hochkonjunktur an Werten, und es gibt ja kaum einen, der nicht vor die Welt tritt, ohne daß er die obersten, die reinsten, die schönsten, die verführerischsten Werte zu verkünden hätte. Auch die Strategen der Kulturrevolution der sechziger Jahre hatten phantastisch stimulierende Werte zu verkünden. Die Werte oder das Denken in Werten sind eben nicht die Gegenkraft zum Nihilismus, sondern die Hochkonjunktur der Werte ist nur die gegenbildliche Spiegelung des Nihilismus selbst. Wie hat Nietzsche den Nihilismus definiert? Nihilistisch ist nicht diejenige Kultur, die sagt, es gebe keine Werte, sondern eine Kultur, die überzeugt ist, es gebe zwar viele, bedeutende und hohe Werte, aber diese Werte seien ohne Wirklichkeit. Die harte Wirklichkeit sei demgegenüber wertfeindlich und wertlos. Einer Wirklichkeit ohne Werte stehen in der gleichen Kultur Werte ohne Wirklichkeit gegenüber. Was Nietzsche mit Nihilismus gemeint hat, ist also dieser Antagonismus zwischen den beiden, der wertlosen Wirklichkeit auf der einen Seite und den wirklichkeitslosen Werten auf der anderen Seite. Er sagte, es werde ein Zeitpunkt kommen, an dem die moderne Menschheit vor der Alternative stehen werde, entweder die Wirklichkeit abzuschaffen oder ihre eigenen Werte.

Die Zeit reicht nicht aus, um an der Geschichte der letzten Jahre und dem, was sich vor unseren Augen abspielt, die Wahrheit dieser Prognose zu zeigen. Das bedeutet aber zusammengefaßt, daß die Beschwörung von Werten wenig wert ist. Wir müssen erkennen, daß der Wertbegriff sehr neuer und sehr problematischer Herkunft ist und daß wir deshalb unvermeidlich auf den Begriff zurückgeworfen werden, mit dem die europäische Tradition über zweitausend Jahre bis zu Hegel hin alle diese Zusammenhänge und Tatbestände angesprochen hat. Es ist der Begriff der Tugenden und der Objektivität des Geistes. Welche Werte ein Individuum immer bevorzugen mag, es muß über das verfügen, was Platon mit Sokrates die areté, also die Tauglichkeit, die Tüchtigkeit, die Fähigkeit zu etwas nannte. Der Mensch muß ja die Verfassung schon mitbringen, in der er überhaupt erst imstande ist die Werte zu verwirklichen, auf die er sich selbst verpflichtet hat. Die Entgegensetzung von Ethik als Wertverwirklichung gegen Ethik als Tugend ist völlig chimärisch. Wer keine Tugend, keine Tauglichkeit, keine areté, kein Vermögen im Sinne des ethischen Vermögens hat, ist zu keiner Wertverwirklichung imstande. Er kann auch keine sozialistische und keine emanzipatorische Gesellschaft ohne die areté verwirklichen. So hat auch Jürgen Habermas vor zwanzig Jahren in einem bedenklichen Augenblick gesagt, wenn Emanzipation die Vernichtung der bisherigen Kultur bedeute, dann würden sich die Emanzipierten eines Tages in einer Lage wiederfinden, in der ihnen die Sprache fehlen werde, um die Idee eines guten Lebens überhaupt noch artikulieren zu können. Eine Emanzipation, die sich von der Kultur Europas und dem für diese Tradition konstitutiven Verständnis von Ethik oder, mit Hegel formuliert, Sittlichkeit emanzipiert, emanzipiert sich zur Barbarei.

Nun ist natürlich die entscheidende Frage, woher wir die geistigen, vielleicht auch die sittlichen Kräfte nehmen, aus denen wir schöpfen können, um die drohende Mutation der letzten Reste bürgerlicher Kultur in offene Barbarei zu verhindern. Hier ist mit den Ereignissen der letzten Jahre eine große Wende eingetreten, denn die ganze Moderne seit der Aufklärung hat diese motivierende Kraft in der Zukunft gesehen, in der Stimulation, die von der entworfenen Zukunft ausgeht. Die Kraft, die den Menschen aus diesem utopischen Glauben zuwächst, sollte ihn auf den Weg bringen, um das große voranleuchtende Ziel zu verwirklichen. Was sich mit dem Zusammenbruch des Sozialismus ereignet hat, und das bedeutet für die ganze moderne Welt eine völlig neue Situation, ist, daß ihr keine inspirierende, faszinierende Utopie mehr voranleuchtet. Es gibt private Utopien, aber mit den großen Geschichtsutopien ist es aus. Wenn wir weiter nur an der Zukunft orientiert existieren wollen, erwartet uns in dieser mit hohen, quasireligiösen Sehnsüchten gefüllten Zeit nur noch das Nichts.

Das Schreckliche für die Moderne und ihre visionären Vorkämpfer ist, daß, wenn wir überhaupt ein Rettendes suchen wollen, wir dazu verurteilt sind, uns auf unser großes geschichtliches Erbe, auf das humane, auch christliche Erbe Europas zurückzubesinnen. Wir müssen es nicht etwa, weil es so schön ist, uns auch wieder der Vergangenheit zuwenden, sondern weil uns keine andere Wahl mehr bleibt. Was ist Europa? Ist Europa die ökonomische Zugewinngemeinschaft, durch die jeder einen größeren Ertrag zu erwarten hat? Oder ist dies Europa, daß sich vor unseren Augen ein Völkermord mit absolut demoralisierenden Wirkungen für alle Zuschauer vollzieht, und dieses Europa begleitet den zweiten europäischen Völkermord unseres Jahrhunderts mit einigen hohlen humanitären Phrasen? Ist das Europa? Es mag der Wirklichkeit nach so sein, aber wir müssen Europa neu entdecken, neu wiederfinden. Wir müssen aus der Aneignung des Besten die unaufgehobene Zukunft in unserer Vergangenheit wiederentdecken. Nur so werden wir den Grund betreten, auf dem wir in einer so dramatisch gewordenen Geschichtszeit überdauern können. Wenn wir den Blick auf dieses verschüttete, deformierte, mit Ideologieverdächten und -ängsten verstellte Europa richten, werden wir solche Reichtümer entdecken, daß wir nur vor Scham darüber erblassen werden, wie wir sie je übersehen und vergessen konnten.

Literatur:
Günter Rohrmoser: Krise der politischen Kultur, Mainz 1983
Günter Rohrmoser: Religion und Politik in der Krise der Moderne, Köln 1989