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Medizin und Ideologie Informationsblatt der Europäischen Ärzteaktion Günter Rohrmoser Von der Totalitarismus - zur Faschismusdiskussion Der Aufbau einer freien, offenen und parlamentarisch-demokratischen Gesellschaft in Deutschland war nach 1945 von der gemeinsamen Überzeugung getragen, daß nur eine kämpferische, offensive, ihre Prinzipien verteidigende Demokratie in der Lage sei, die richtigen Konsequenzen aus der Geschichte der jüngeren Vergangenheit zu ziehen. Es gab keinen Streit um die Frage, gegen welche Bedrohung der Kampf gerichtet werden müsse: gegen den Totalitarismus in allen seinen Varianten und Ausprägungen, also gegen den roten wie gegen den braunen. Jeder wußte, oder er konnte es doch wissen, was unter Totalitarismus zu verstehen sei. Als totalitär galt jedes politische Regime, jede gesellschaftliche Ordnung, in der es keinen Wechsel der Regierung, kein Mehrparteiensystem, keinen von der politischen Machtausübung unabhängigen Rechtsstaat, keine staatsunabhängigen Grundfreiheiten für den Bürger, also keinen gesellschaftlichen Pluralismus gab. Die konstitutiven, wenn auch idealtypischen Merkmale eines totalitären Systems wurden akzeptiert und als einleuchtend empfunden: die Identifikation von Partei und Staat, die Herrschaft einer die totale Kontrolle jedes einzelnen Bürgers durch den Staat legitimierenden Ideologie, die einen keinen Bereich des gesellschaftlichen, sozialen und privaten Lebens auslassenden Anspruch erhebt, die Verfügung über alle Informations- und Kommunikationsinstrumente in einer durch diese totalitäre Struktur bestimmten Gesellschaft und die Existenz einer Geheimpolizei, die den ideologisch legitimierten Machthabern jederzeit den illegalen und direkten Zugriff auf jeden Bürger ermöglicht, der unter ihrer Herrschaft leben muß. Heute hat sich die Lage grundlegend geändert. Wir befinden uns in einer Situation, in der Prozesse der Erosion, einer inneren Auflösung der geistig – politischen Grundlagen unseres Gemeinwesens ihren Ausdruck im sozialen Protest und in Widerstandsbewegungen finden, die mit den Begriffen und der Sprache der klassischen Ideologien nur schwer zu identifizieren sind. Von diesen Bewegungen ist das Ganze betroffen. Will man die innere Dramatik des Umbruchs vielleicht etwas überspitzt, aber nicht ungerechtfertigt zum Ausdruck bringen, dann muß man die Fragen stellen, ob Bonn nicht doch das Schicksal Weimars erleiden könnte und ob das freiheitlich-pluralistische, rechtsstaatlich-verfaßte, marktwirtschaftlich und sozialstaatlich geordnete demokratisch-parlamentarische System der Bundesrepublik überleben kann. Alle Entscheidungen, von denen wir uns beim Aufbau nach dem Kriege leiten ließen, stehen zur Disposition oder werden zur Disposition gestellt. Die jüngst erhobene Forderung nach dem Austritt der Bundesrepublik aus dem atlantischen Bündnis und die Forderung nach einer den Generalstreik einbeziehenden Strategie zur Durchsetzung dieser Forderung ist nur ein Symptom für den Verfall und die Auflösung dessen, was einmal selbstverständlich war. Von diesem Verfall sind die parlamentarische Demokratie, der freiheitliche Rechtsstaat, das soziale System, das industriegesellschaftliche Modell und die Rationalität einer politischen Kultur betroffen, ohne diese nicht denkbar ist, was wir unter einer politischen Ordnung der Freiheit am Ende unseres Jahrhunderts verstehen. Was die parlamentarische Demokratie angeht, so zeichnet sich eine Konstellation ab, die für den Untergang der Weimarer Republik typisch war, das heißt das Mehrheitsprinzip als das einzig denkbare Prinzip zur Legitimation einer demokratisch organisierten, parlamentarisch kontrollierten und durch Wahlen befristeten Herrschaft wird in Frage gestellt. Nicht nur eine linksanarchistische Minderheit, sondern breite Schichten der Bevölkerung trauen diesem Staat einfach alles zu. Die Vertrauenskrise im Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat scheint nahezu perfekt. Wenn nach Hegel die Stärke des Staates in dem Vertrauen beruht, das alle haben, dann hängt dieser Staat in der Luft, seine Umdeutung in einen kalten, repressiv empfundenen Apparat, in eine Fesselung und autoritär aufrechterhaltene Schranke demokratisch individueller Selbstbestimmung und autonomer gesellschaftlicher Entfaltung der menschlichen Interessen- und Bedürfnisnatur nährt den Zweifel, ob der demokratischfreiheitliche Rechts- und Verfassungsstaat seine Funktion als Garant der Freiheit noch erfüllen kann. Die Gründe für diesen tiefen, geistespolitisch fundamentalen Umbruch sind vielfältig und unterschiedlich. Die gravierendste Auswirkung diese Umbruchs ist die Tatsache, daß außen- wie innenpolitisch die Fähigkeit schwindet, zwischen freiheitlicher Demokratie und totalitärer Despotie noch unterscheiden zu können oder zu wollen. Selbst der wichtigste außenpolitische Berater des Bundeskanzlers nannte jüngst die Sowjetunion eine Entwicklungsdiktatur. Der Schwund dieser Unterscheidungskraft in ideologischen Fragen von lebensentscheidender Bedeutung ist zurückzuführen auf einen Vorgang, dessen Tragweite nur wenig verstanden wird. Den sogenannten progressiven und neosozialistischen Kräften ist es gelungen, den Totalitarismusbegriff politisch zu entschärfen, den existierenden Sozialismus von dem Verdacht zu befreien, totalitär zu sein und den Totalitarismusbegriff allein auf den Nationalsozialismus zu begrenzen, den zu nennen unschicklich ist und der daher unter dem Wieselwort Faschismus bekämpft wird. Es ist müßig, den theoretischen Diskurs zu rekonstruieren, der zur faktischen Auflösung des Totalitarismusbegriffes geführt und bewirkt hat, daß konkret heute der Kampf gegen den Totalitarismus, und dies gilt Weltweit, nur noch als Kampf gegen den Faschismus geführt wird. Die Sowjetunion und ihre treuen Satelliten haben damit einen entscheidenden ideologischen Sieg über den freien Westen errungen und seine Kraft zur auch militärischen und politischen Selbstbehauptung entscheidend geschwächt. Wir müssen also konkret von der Funktion des Faschismusargumentes reden und die Frage stellen, wie es dazu kommen konnte, die Energien, die der Abwehr des Totalitarismus eigentlich dienen müßten, wenn es mit rechten Dingen zuginge, gegen den eigenen freiheitlichsten Staat der deutschen Geschichte zu richten. Faschismus ist ein zentraler Begriff, ohne den die ideologischen und politischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik nicht angemessen verstanden werden können. Das war nicht immer so. Erst seit der Mitte der 60er Jahre spielte der Faschismusbegriff bis in die großen Organisationen und Parteien hinein eine zunehmende, mitunter zentrale Rolle. Noch kurz vor dem Regierungswechsel nannte das führende publizistische Organ der IG Metall den Regierungswechsel einen Anschlag auf die Demokratie und die CDU eine Nachfolgeorganisation der NSDAP. Der Angriff wurde damit beantwortet, daß diese Behauptung Linksfaschismus sei. Offenbar befinden sich die beiden großen Parteien in einem tiefgreifenden Dissens in der Frage, was sie eigentlich für faschistisch halten. Offensichtlich gibt es eine Art von Rechts- und noch erstaunlicher, eine Art von Linksfaschismus. Diese unterschiedliche, antithetische Auslegung eines als aktuell unterstellten Faschismus ist nicht unbegründet und geht aus einem bestimmten ideologischen Kontext hervor. Die Behauptung, daß die Bildung einer sogenannten Rechtskoalition ein Vorgang sei, der zu einer erhöhten Aufmerksamkeit auf mögliche Faschismustendenzen aufrufe, hängt mit der Überzeugung zusammen, daß in dem gesellschaftlichen und politischen System der Bundesrepublik noch unentdeckt und latent der Faschismus bereitstehe, um jederzeit hervorzubrechen. Eine solche Zuordnung des Faschismusverdachtes setzt die These voraus, daß der Faschismus in einer latent, also noch unaufgehobenen Weise, daher unbewältigt, ein essentielles Element der politischen Wirklichkeit der Bundesrepublik sei. Hinter dem Begriff des Linksfaschismus steht dagegen die Sorge, daß ideologische und politische Bewegungen, die den durch die Traditionen des klassischen Liberalismus bestimmten Rahmen des Systems überschreiten, zwangsläufig irgendwann in eine neue autoritäre und als faschistisch zu apostrophierende Entwicklung einmünden könnten. So ist die Antwort auf die Frage nach der möglichen Aktualität des Faschismus in der Bundesrepublik entscheidend abhängig von der ideologischen Perspektive, von der aus sie gegeben wird. Wenn man sich den Verlauf der Geschichte der Bundesrepublik seit 1945 vor Augen führt, dann kann man relativ präzise den Zeitpunkt bestimmen, seitdem eine solche Debatte, wie sie bis in die konkreten parteipolitischen Auseinandersetzungen hinein geführt wird, erst möglich wurde. Warum war das bis zum Beginn der 60er Jahre nicht so? Nicht nur, weil wir total durch die Probleme des materiellen Aufbaus unserer Republik und die Evidenz, die von der Notwendigkeit eines solchen Aufbaus ausging, in Anspruch genommen waren, sondern weil es eine von allen Parteien geteilte Überzeugung war, daß im Totalitarismusbegriff das Faschismusproblem im Grunde genommen enthalten sei. Die Totalitarismusthese sollte zum Ausdruck bringen, daß sowohl der Kommunismus wie der Nationalsozialismus zwei genuine Ausprägungen des sie gemeinsam übergreifenden Begriffs des Totalitären seien. Man ging davon aus, dass mit der Niederlage am Ende des zweiten Weltkriegs der Nationalsozialismus auch ideologisch definitiv besiegt worden sei. Niemand glaubte im Ernst daran, daß der Nationalsozialismus, und sei es in verwandelter Form, auf absehbare Zeit noch eine Chance haben könnte. Wenn eine ideologische Kraft so total besiegt wurde und so eindeutig verantwortlich für den nationalen Bankrott war, wie das für die deutsche Ausprägung des Faschismus, den Nationalsozialismus, der Fall war, dann ist von der Geschichte, so meinte man, ein definitives, nur schwer zu revidierendes Urteil gefällt worden. Daher galt es, den einzig noch real existierenden und ernstzunehmenden Totalitarismus abzuwehren, nämlich den Kommunismus. Es gab eine Art Einheitsideologie beim Aufbau der Republik, den Antikommunismus. Die Lage änderte sich grundsätzlich, nachdem dieser Totalitarismusbegriff demontiert wurde und eine prinzipielle und qualitative Differenz zwischen dem Kommunismus auf der einen Seite und dem Faschismus auf der anderen Seite behauptet wurde. Das schließt die folgenreiche These ein, daß der Totalitarismusbegriff auf den Kommunismus, sowohl im Blick auf seine ideologischen Wurzeln wie auf seine historische Realität nicht angewendet werden dürfe. Nun ist auch in der Tat die einseitige und völlige Unterordnung des Kommunismus unter den Totalitarismusbegriff in dieser undifferenzierten Form nicht aufrechtzuerhalten. Es ist aber weitgehend eine rein akademische Frage, denn es gibt natürlich bestimmte Merkmale, die wir genannt haben, in denen der braune mit dem roten Totalitarismus übereinstimmt. Die Gemeinsamkeiten liegen ja klar auf der Hand. Die Beseitigung des liberalen Rechts- und Verfassungsstaates sowie der parlamentarischen Demokratie, die Verneinung der Grundrechte und Grundfreiheiten der Bürger, das Nichtvorhandensein eines gesellschaftlichen Pluralismus, alle diese für freiheitliche Demokratien grundlegenden Prinzipien werden in den Regimen, die wir dann mit Recht totalitär nennen, nicht angetroffen. Für jeden, der dieser totalitär zu qualifizierenden Herrschaft unterworfen ist, sind die Folgen im übrigen ganz die gleichen, ob dieses totalitäre Herrschaftssystem faschistisch-nationalsozialistisch oder kommunistisch legitimiert wird. Andererseits ist es richtig, daß die totalitäre Herrschaft in der Ideologie des Marxismus-Leninismus als funktional und befristet interpretiert wird, weil sie angeblich nur dem Ziele diene, die Voraussetzungen für die Herstellung eines Zustandes entfremdungsloser Freiheit für alle zu schaffen, während die totalitäre Herrschaft für den Nationalsozialismus in der Tat essentiell ist und als unbefristet gesetzt wurde. Es konnte sich hier aus dem Argumentationspotential des Marxismus eine fundamentale Systemkritik entwickeln, die sich gegen die Staaten des existierenden Sozialismus richtet, wie das ja viele bedeutende marxistische Theoretiker in unserem Jahrhundert getan haben während unter der Voraussetzung des Nationalsozialismus eigentlich nur kritisiert werden kann, daß der Herrschaftsanspruch nicht total und effektiv durchgesetzt, wurde. Die radikalste Kritik am existierenden Sozialismus ist daher von Marxisten geübt worden, die, wie Bahro und Dutschke, ihn eine Art fortgesetzter asiatischer Despotie genannt haben, in der die Selbstentfremdung des Menschen nicht aufgehoben, sondern potenziert worden sei. In einer Diskussion mit Rudi Dutschke nannten Prager Studenten den Kommunismus Herrschaft der Ineffizienz plus Sklaverei. Wie war eine Herauslösung des Kommunismus aus dem Totalitarismusverdacht und die einseitige Zuordnung des Totalitarismus zum Nationalsozialismus möglich und welches sind die Folgen? Häufig wird von allen denen, die nach antidemokratischen Tendenzen in der Bundesrepublik fahnden, nur der Rechtsextremismus und der Neonazismus als eine unsere Demokratie bedrohende Gefahr unterstellt. Die Sorge geht davon aus, daß eine Gefährdung der Demokratie nur von einer tendenziellen Rechtsentwicklung ausgehen könne. Es scheint eine der Konsequenzen dieser Uminterpretation zu sein, daß es nur noch eine demokratische Gefahr gibt, das ist der Rechtsextremismus, der Neonazismus in allen seinen Erscheinungsformen. Offensichtlich gibt es keine andere Gefährdung der freiheitlichen Demokratie, so wie sie hier verstanden wird. Vor einer solchen Einschätzung der Lage muß aber gewarnt werden. Unser Thema schließt ja die Frage ein, ob es am Anfang der 80er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland nicht eine sich anbahnende oder gar sich schon abzeichnende geistige und politische Konstellation gibt, aus der Kräfte und Tendenzen hervorgehen könnten, deren objektive politische Folgen für die Überlebenschancen unserer freiheitlichen Demokratie so ruinös wären, wie es die des Nationalsozialismus und des Faschismus für die damaligen westlichen Demokratien und für die Weimarer Republik waren. Das ist, wie mir scheint, die entscheidende Frage, die man stellen muß. Nun ist seit den berühmten 60er Jahren ein Phänomen sichtbar geworden: Mit der damals an den deutschen Universitäten sich formierenden außerparlamentarischen Opposition bildete sich eine politische Kraft, ein Wille, der sich ausdrücklich und direkt gegen das Ganze des bestehenden freiheitlichen Systems richtete. Es sind ja bald 20 Jahre her, daß sich eine Perspektive abzuzeichnen begann, die über das bestehende System, tendenziell also über die parlamentarische Demokratie, den Rechtsstaat und die pluralistisch verfaßte Gesellschaft hinauszuweisen begann. Der damals erkennbar gewordene Wille mündete inzwischen über wechselnde und unterschiedliche Ausdrucksund Erscheinungsformen ein in einen sich ständig verbreiternden Fluß fundamentaloppositioneller Formationen, die den Kampf gegen das System mit dem Ziel seiner Ersetzung durch ein anderes führen. Das Problem ist nicht die jeweilige Thematik, die als Auslöser und Vehikel diesen sich verbreiternden Strom politischen Irrationalismus anschwellen läßt, sondern das Faktum seiner Durchgängigkeit, Allmählichkeit und eines Anwachsens dieser grundoppositionellen Bewegungen gegen das System mit dem Ziel seiner Überwindung. Themen wechseln und erfüllen primär nur die Funktion eines Vehikels. Mit der jeweiligen Thematik ist also das Grundfaktum dieses Stromes, wenn ich es einmal so nennen darf, noch in keiner Weise begriffen. Wesentlich scheint daher zu sein, sich daran zu erinnern, daß die in der Mitte der 60er Jahre sich formierende außerparlamentarische studentische Opposition sich inspirieren ließ von der Kultur- und Systemkritik, wie sie von den Denkern der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule vorgetragen wurde. Es waren wenige Punkte, die die Rezeption dieser System- und Kulturkritik durch die damalige studentische Opposition stimuliert haben. Der wichtigste Grund für die Bereitwilligkeit, sich die System- und Kulturkritik der Frankfurter Schule anzueignen, war die erklärte Absicht dieser Theorie, den Faschismus in seiner als vorhanden unterstellten Potentialität zu überwinden und durch eine geistig-kulturelle Orientierung, ja Strukturierung der Gesellschaft seine Wiederkehr ein für allemal zu verhindern. Es war ein für die Demokratie wichtiger Vorgang, daß damals die studentische Opposition sich in dem Willen zusammenfand, die Gesellschaft mit dem Ziel zu verändern, daß eine Wiederkehr des Faschismus unmöglich werden sollte. Was waren nun die von der neomarxistischen Sozial- und Kulturphilosophie entwickelten Grundannahmen? Die leitende Überzeugung war es, dass der Faschismus nur überwunden werden könne, wenn alle in der deutschen Geschichte mit ihm direkt oder indirekt zusammenhängenden Traditionen als solche erkannt und ideologiekitisch aufgelöst werden. Durch einen in der kulturellen Strategie gezielt herbeigeführten Bruch mit der geschichtlichen Kontinuität sollte die Voraussetzung für einen wirklichen Neuanfang geschaffen werden. Der zweite entscheidende Schritt war der einer zunächst mehr lautlosen, aber dann dramatischen Uminterpretation des Begriffs und des Modells der Demokratie, die in ihrer inneren Logik auf die Ersetzung der repräsentativen Demokratie durch eine sich dem Rousseauschen Ideal annähernde identitäre Demokratie hinausläuft. Damit hört die Demokratie auf, eine normativ begründete und gesetzte Ordnung zu sein. Demokratie wurde zur Funktion eines zu erfüllenden historischen Auftrags, der nur in einem kontinuierlichen, dem vorschwebenden Ziel sich nähernden Prozeß verwirklicht werden konnte. Das Ziel, das am Ende des Prozesses stand, sollte die wirkliche fundamental demokratisierte und befreite Gesellschaft sein, die jedem einzelnen die Chance geben würde, sich in uneingeschränkter Verfügung über sich selbst, in eigener Interpretation seiner Bedürfnisse und Interessen, wenn notwendig in Kooperation mit anderen, zu verwirklichen. Autonomie sollte durch eine fundamentaldemokratisierte Gesellschaft durchgesetzt und hergestellt werden. Dieses Programm hätte natürlich für einen Staat, in dem es einen Verfassungsschutz, in welchem es Sicherheitsorgane gibt, eine bedeutende geistige Herausforderung sein müssen. Aber man darf daran zweifeln, ob die Herausforderung erkannt wurde, die zum Beispiel darin besteht, daß im Kontext einer neomarxistischen Theorie zur Erklärung des Faschismus die These gilt: Solange der Grundwiderspruch zwischen privater Verfügung und gesellschaftlicher Produktion nicht aufgehoben sei, solange sei in einer solchen Gesellschaft der Faschismus latent, das heißt wie es Marcuse schon zur Zeit der Weimarer Republik formulierte, in einer liberalen und rechtsstaatlich verfaßten Gesellschaft sei der Faschismus jederzeit auf dem Sprunge, in einen offenen Faschismus auszubrechen. Wenn die Kapitalverwertungsinteressen der Eigentümer an Produktionsmitteln nicht mehr befriedigt werden könnte, dann werde die rechtsstaatliche Fassade eingezogen und die direkte Verwandlung des liberalen Rechtsstaates in einen faschistischen Polizeistaat sei dann fällig. So wurde es ja dann auch in den Schulen während der Kulturrevolution in den letzten eineinhalb Jahrzehnten gelehrt. Ohne den Hintergrund dieser Faschismusinterpretation wird man nur schwer begreifen können, warum der Staat der Bundesrepublik latent faschistisch genannt wird, warum der Rechtsstaat die Funktion einer Fassade zur Kaschierung noch real fortbestehenden sozialen Unrechts erfüllt und der Sozialstaat eine Art Ideologie sei, die dazu diene, die Arbeitnehmer bei der Stange zu halten und ihnen das fundamentaldemokratische Recht vorenthalten werde, die Produktionsmittel sich unmittelbar und direkt anzueignen. In dieser Perspektive ist der Staat, der sein Monopol auf legale Gewalt wahrnimmt, ein faschistoider Polizeistaat, der unverhüllt neu interpretierte demokratische Grundrechte unterdrückt. Gegenwärtig erleben wir eine Diskussion, in der dem zivilen Ungehorsam und dem sogenannten gewaltfreien Widerstand gegen den Staat die Weihen höherer demokratischer fortschrittlicher Reife zuteil werden und gar unterstellt wird, daß diese Form des Widerstands gegen den Staat die Funktion eines Verfassungsschutzes erfüllt. Man nennt alle diese fundamental-oppositionellen Bewegungen Zeichen für die Reife einer demokratisch-politischen Kultur. Verfassungsschutz ist dann natürlich von vornherein eine Art faschistischer Institution, ein Indiz dafür, daß die eigentlich fällige demokratische Befreiung noch nicht stattgefunden habe. Diese Theorie ermöglicht es, ein Definitionsmonopol zu etablieren, das es erlaubt, die Grenze zu ziehen und zu bestimmen, die eine Perspektive der sogenannten Progressivität von allen Positionen trennt, die von vornherein unter dem Verdacht des Faschismus stehen. Jederzeit können die Personen oder Gruppen ausgewechselt werden, gegen die der Faschismusverdacht gerichtet wird. Das hängt von Kriterien ab, nach denen beurteilt werden kann, wer dem geschichtlich-providentiell vorgezeichneten Gang der Dinge im Wege steht oder als eine hinderliche Barriere auf diesem Wege zu beseitigen ist. Konservativ gilt als präfaschistisch, neokonservativ als neonazistisch, ein als Rechtskoalition bezeichnetes Bündnis zweier demokratischer Parteien erregt dann die Furcht einer Drohung durch faschistische Tendenzen und alle Bemühungen, die auf eine Stärkung der grundlegenden christlich-humanistischen Werte der westlichen Zivilisation gerichtet sind, werden dann als besonders tückische Versuche interpretiert, dem Faschismus im Westen wieder zur Geltung zu verhelfen. Bei zwei Anlässen allerdings tauchte, wenn ich mich recht erinnere, der Faschismusbegriff in einem von dieser Konzeption abweichenden Sinne auf. So wurde einst nach der Tötung des Studenten Ohnesorge von Linksfaschismus für den Fall gesprochen, wenn eine Widerstand leistende Gruppe durch eine auch das Mittel der Gewalt einbeziehende gezielte Regelverletzung den Rechtsstaat selber provoziere, Gewalt anzuwenden. Es bestünde, so hieß es damals, die Gefahr, daß die Irrationalität solcher Handlungen dazu führen werde, daß die durch den Rechtsstaat gewährten und geschützten Grundrechte verspielt werden könnten. Die Debatte um den Begriff des Linksfaschismus entzündetet sich an der Gewaltfrage, einer Gewalt, für die es, auch im eigenen ideologischen Kontext, keine Rechtfertigung zu geben schien. Das Motiv ist irrational und ist geeignet, die Rechte zu gefährden, die unser Staat auch denen einräumt, die entschlossen sind, zum Kampf gegen ihn aufzurufen. Der andere Anlaß, der es verdient, in Erinnerung gerufen zu werden, ist die Äußerung des hessischen Ministerpräsidenten, der im Blick auf das unklare und auch bisher nicht geklärte Verhältnis der Bewegung der Grünen und Alternativen zur parlamentarischen Demokratie und zur Gewaltfrage von einem neuen Faschismus sprach. Sind dies nicht Fälle, die die Vermutung erlauben, daß die traditionelle Schematik nach Links- und Rechtsextremismus auf die neuen Phänomene und Formen irrationaler Gewalt nicht mehr zuzutreffen scheinen, daß ein nach diesem Schema vorgehender Staat das Problem nicht wirklich trifft? Schon der neue politisch motivierte Terrorismus in der Bundesrepublik hätte das lehren können. Zwar haben die Vertreter der ersten Generation der deutschen Terroristen sich aus den Versatzstücken der Imperialismus-, der Kapitalismus- und Faschismuskritik eine künstliche und dürftige Theorie zusammengebastelt, um dem, was zu tun sie entschlossen waren, eine scheinbar rationale Legitimation zu geben. Die tatsächlichen Motive und Kräfte, aus denen sie handelten, waren aber ganz anderer Natur: Blinder Dezisionismus, Irrationalismus, ein aus einer wahnhaften Abschottung vor jeglicher Wirklichkeit herausentwickeltes gnostisches Weltbild, das die Welt aufteilte in Gute und Böse, Licht und Finsternis. Diese Motive waren es, die eine entscheidende Rolle bei der Genese des Terrorismus als einer neuen Form des Kampfes gegen Rechtsstaat und freiheitliche Demokratie gespielt haben. Die Terroristen, in der ersten Generation wenigstens, handelten aus dem Gefühl heraus, daß die große Katastrophe unmittelbar bevorstehe. In dieser Situation meinten sie aus subjektiven, als hochmoralisch stilisierten Gründen, aus einem existentiellen, irrationalen und dezisionistischen Engagement heraus mit terroristischer Gewalt gegen das System vorgehen zu müssen, um das in seinem Bewußtsein verblendete und manipulierte Volk aus dem drohenden Verhängnis eines neuen Umkippens in totalitäre Gewaltverhältnisse herauszureißen. Wenn man sich lange und intensiv mit den Dokumenten beschäftigt, die die Terroristen hinterlassen haben, schält sich ein reiner und abstrakter Glaube an die rettende Gewalt terroristischer Praxis als Kern heraus, den man, wenn man überhaupt um eine begriffliche Fassung des Phänomens bemüht ist, durchaus als faschistisch charakterisieren kann. Der Antrieb, auf das reinigende Bad der Gewalt zu setzen, wurde genährt durch den für faschistische Gewalttheorien typischen Ekel vor einer dekadent und als moralisch korrupt empfundenen Gesellschaft. Dies sind alles Momente, die für eine faschistische Konstellation kennzeichnend sind und mit den Traditionen des philosophischen Marxismus nur schwer zu vereinbaren sind. Ich meine mit den philosophischen Traditionen des Marxismus diejenigen, die unmittelbar im Blick auf Marx im 20. Jahrhundert die Diskussion um seine philosophische Neubegründung und Weiterentwicklung geführt haben. Der Terrorismus ist ja weit über seine quantitative und materielle Bedeutung hinaus für die Ordnung der Bundesrepublik so bedeutsam, weil hier eine neue Konstellation im Verhältnis von politischer Rationalität und ideologisch induziertem blankem Irrationalismus sichtbar wird. Aus dem Irrationalismus des Glaubens an heilsgarantierende, geschichtstranszendente ideologische Wahrheiten wird, wie auch in der Weimarer Republik, dem System der Bundesrepublik die Legitimitätsfrage gestellt. Man kann den Terrorismus als das Produkt gesellschaftlicher Fehlentwicklungen, als nur individual oder sozialpsychologisch erklärbare Einzelfälle begreifen, man kann die Terroristen mit einem nur schwer zu bestreitenden Recht für gewöhnliche Kriminelle halten, die mit dem Rechtsstaat zur Verfügung stehenden Mitteln zu behandeln sind; eine politische Herausforderung sind sie aber nur dann, wenn man sie in ihrem Anspruch ernst nimmt, die Legitimität unseres Staates im Namen einer anderen, angeblich höheren Wahrheit zu bestreiten. Aktueller als der Terrorismus ist die Herausforderung des Rechtsstaates und der parlamentarischen Demokratie durch die bereits tief in das Parteiensystem der Bundesrepublik eingreifende Bewegung der Grünen und Alternativen. Es ist nicht nur ein Zufall, daß ein sozialdemokratischer Ministerpräsident in diesem Zusammenhang von Faschismus gesprochen hat. In Wirklichkeit aber handelt es sich bei den Grünen und Alternativen um eine neue Phase fundamental-oppositioneller Entgegensetzung gegen das bestehende System, mit einer in ihrem innersten Impuls und Antrieb mehr als konservativ zu charakterisierenden Bewegung, die als eine Reaktion auf den Zusammenbruch des utopischen Glaubens an die Vollendbarkeit der Geschichte und der ihn inspirierenden Endverheißungen verstanden werden muß. Die Bewegung wird einerseits bestimmt von dem Willen zu erhalten und wiederherzustellen, was als eine Bedrohung natürlicher Lebensgrundlagen erfahren wird. Sie orientiert sich dann in ihren reflektierteren Teilen an dem Modell einer ganzheitlich gedachten Kultur unentfremdeten Lebens. Sie ist eine Bewegung, die in Orientierung an den ideologischen Mustern, die seit der Studentenrevolution entwickelt wurden, zum ersten Mal auf der anderen Seite in ihrer Methode und Zielsetzung ein radikales Programm des neuen Anarchismus anbietet. Das paradoxe Phänomen, mit dem wir es jetzt, eigentlich zum ersten Mal in der deutschen Geschichte, zu tun haben, ist das eines anarchistischen Konservativismus, der ein Ziel jenseits der Industriegesellschaft ins Auge faßt, sie durch eine qualitativ andere basisdemokratiscne, also im präzisen Sinn des Wortes sich anarchistisch selbst regierende und bestimmende Gesellschaft ersetzen will. Zur parlamentarischen Demokratie hat die Bewegung nur ein funktionales und faktisches Verhältnis und zeigt bisher auch nur eine geringe Neigung, den grundsätzlichen Widerspruch zwischen der eigenen Zielsetzung und den Funktionsbedingungen der Demokratie zu schlichten. Die Frage der Gewalt ist nicht zu Ende diskutiert. Wir müssen abwarten, wie die Bewegung letzten Endes ihre Stellung zur Gewalt bestimmen wird. Entscheidend ist es, daß in der Kontinuität des Prozesses auch hier sich Symptome abzeichnen, die einiges mit der politischen Diskussion vor 1933 gemeinsam haben. Es ist der Wille zur Systemüberwindung im Namen einer das System transzendierenden, das heißt der dem System innewohnenden Rationalität nicht zugänglichen Wahrheit und einer Praxis, die sich den dem System eigenen Rationalitäts- und Plausibilitätsstrukturen entzieht. Wenn Legalität und Legitimität auseinandertreten, dann bringt das den freiheitlichen Rechtsstaat in eine schwierige und prekäre Lage, weil er seine Legitimität mit dem Verzicht auf eine für alle verbindlichen Wahrheit begründet. Ohne die Anerkennung prozeduraler und funktional begründeter Autorität kann die parlamentarische Demokratie nicht bestehen. Der Konflikt besteht in dem Antagonismus zwischen formal instrumenteller Rationalität auf der einen und der Kraft auf der anderen Seite, die vernünftige Vermittlung verweigert und aus der Wiederbelebung irrationaler Traditionen der deutschen Geschichte, die bis zur Romantik zurückreichen, gespeist wird. Es ist daher zum Verständnis der Lage unerläßlich, die Frage nach den tieferen Ursachen des Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus in geistesgeschichtlicher Perspektive zu stellen. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Genese des Faschismus muß daher wenigstens stichwortartig an vier Positionen erinnert werden, die beanspruchen, sie im Kontext geistesgeschichtlicher Analyse zu beantworten. Es ist einmal die Deutung, die Georg Lukacz in der "Zerstörung der Vernunft" vorgetragen hat und die man die Irrationalismusthese nennen kann. Zum anderen geht es um die von Helmut Plessner in der "Verspäteten Nation" vertretene Interpretation, die vielleicht am nachdrücklichsten die Diskussion bestimmt. Drittens geht es um die von Adorno und Horkheimer in der "Dialektik der Aufklärung" vollzogene Einordnung des Faschismus in die Endphase des Prozesses eines Umschlags der Aufklärung in die Herrschaft des Wahns. Viertens müssen wir uns befassen mit der These von Ernst Bloch, der den Faschismus als ein Phänomen geschichtlicher Ungleichzeitigkeit zu begreifen versuchte. 1. Eine der wichtigsten und bedeutsamsten Positionen zur Genese des Faschismus wurde von Georg Lukacz vertreten. Der Faschismus, in welchem der Irrationalismus seinen politisch-radikalen Ausdruck fand, ist für Lukacz das Produkt eines Prozesses, der am Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzte und im Hitlerismus mit der Zerstörung der Vernunft endete. Lukacz versucht, die Herkunft des Faschismus zu begreifen, also aus der Geschichte des Irrationalismus, die für ihn nach der Französischen Revolution mit Schelling beginnt und die mit innerer Konsequenz zu Hitler geführt habe. Das Verständnis der Lukaczschen These hängt nun davon ab, ob ich mit ihm unter Vernunft die dialektische Vernunft verstehe und dann den Faschismus als politische Praxis des Irrationalismus bis auf einen Punkt in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft zurückverfolgen kann, in der diese angeblich ihre Zukunftsperspektive verloren habe und gezwungen war, sich in den Irrationalismus zu retten. Da die bürgerliche Gesellschaft, so heißt es hier bei Lukficz, sich angesichts ihrer Zukunftslosigkeit geweigert habe, sozialistisch zu werden, sei ihr als einzige Alternative nur noch die Flucht in den Faschismus übriggeblieben. Die Theorie der Vernunft, die Lukacz seiner Interpretation zugrundelegt, kann hier nicht entwickelt werden. Worauf es im Zusammenhang mit unserer Frage ankommt, ist die von Lukacz vertretene These, daß die aus der Französischen Revolution hervorgegangene bürgerliche Gesellschaft irrational wird, wenn sie sich die Vernunft nicht länger leisten kann. Die These von Lukacz, daß die bürgerliche Gesellschaft gegen die Vernunft und ohne Vernunft nur den Faschismus produzieren kann, hat ja eine gewisse Aktualität. Nämlich immer dann, wenn der Glaube an die Vernunft, das Vertrauen in die Vernunft ideologiekritisch oder aus welchen Motiven auch immer unterhöhlt und zerstört wird, wird ein Irrationalismus freigesetzt, der in seiner politischen Konsequenz zu einer Art Faschismus und damit letzten Endes zu einer Ersetzung der freien Demokratie durch ein totalitäres Regime führen kann. 2. Eine weitere These ist die, die von Plessner in seinem Buch "Die verspätete Nation" vertreten wurde. Der Nationalsozialismus sei in Deutschland nur möglich, weil die deutsche Geschichte sich nicht auf dem Boden der Naturrechtstradition der Aufklärung entwickelt hätte. Die Geschichte der Deutschen sei an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verzögert worden. Diese Verzögerung sei verstärkt worden durch eine Sonderentwicklung im Verhältnis zur europäischen Aufklärung. Die Deutschen hätten sich nicht für die Aufklärung entschieden und dies sei eine entscheidende Voraussetzung für die Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland. In dem Kontext der Plessnerschen These gerät also zwangsläufig die ganze große Tradition des deutschen Denkens von Kant bis Hegel in das Zwielicht eines Verdachtes, direkt oder indirekt für den Nationalsozialismus verantwortlich zu sein. 3. Um so wichtiger ist es, daß Adorno und Horkheimer in ihrer "Dialektik der Aufklärung" der Auffassung widersprochen haben, der Faschismus sei das Ergebnis der verpaßten Aufklärung. Sie begreifen ihn vielmehr als die Konsequenz der in ihr letztes Stadium eingetreten Aufklärung selbst. Der Nationalsozialismus sei nicht das Werk von irgendwelchen finsteren, tückischen Mächten, sondern das Produkt der konsequent an ihr Ende gelangten Aufklärung selbst. Die abstrakt-rationale Auflösung aller sittlichen Gemeinsamkeiten und die Beseitigung aller religiös-archaisch bedingten Tabus muß die moderne Gesellschaft auf den Weg ihrer Organisation in die Form einer direkten und unmittelbaren, das heißt totalitären Herrschaft bringen. Die von Adorno und Horkheimer vertretene These, nach der die vollendete Aufklärung in faschistische Barbarei umschlage, hat allerdings auf die linke Kulturrevolution in der Bundesrepublik keinen Eindruck gemacht. Sie hält hartnäckig daran fest, daß nur ein weiter vorangetriebener Prozeß der Aufklärung die Bundesrepublik gegen totalitäre Versuchungen immunisieren könne. Es ist vielleicht ein Existenzproblem für die Bundesrepublik, ob wir die Herkunft des Totalitarismus aus einer von der wissenschaftlich gesteuerten Aufklärung geschaffenen Leere heraus endlich zur Kenntnis nehmen. 4.Vielleicht ist am bedeutsamsten die Auffassung von Ernst Bloch, der die Auseinandersetzung mit dem Faschismus zum Anlaß nimmt, um auf die Grenzen des marxistischen Begriffs von der Geschichte zu reflektieren. Mit geschichtlicher Ungleichzeitigkeit meint Ernst Bloch den Vorgang, daß im Faschismus die in der Moderne nicht zum Verschwinden gebrachte Geschichte gegen ihre Aufhebung revoltiere. Die im Marxismus unbegriffene und auch unbegreifbare Geschichte hätte vor der drohenden Liquidation in der Gestalt des Nationalsozialismus revoltiert. Soziologisch sei der Faschismus ein Phänomen geschichtlicher Ungleichzeitigkeit, er sei Ausdruck der Revolte des Widerstands nationalgeschichtlicher Traditionen, gesellschaftlicher Gruppen, die gegen den ihnen durch den Marxismus angedrohten Untergang gekämpft hätten. Was der Marxismus als Rettung begreife, begreifen diese Gruppen, wie Handwerker, Mittelstand, Unternehmer, Bauern nicht als Rettung, sondern als ihr Verschwinden. Ist aber die Gefahr eines möglichen Faschismus in marxistischer Sicht nur zu bannen, wenn die Totalität der Geschichte real aufgehoben wird, dann kann der an unseren Schulen vermittelte Geschichtsnihilismus nur neue Dispositionen für den Faschismus schaffen. Wie immer es mit diesen geistesgeschichtlichen Theorien zur Erklärung des Nationalsozialismus bestellt sein mag haben sie doch alle ihren unverkennbaren Wahrheitskern. Waren alle diese Momente, Faktoren an der Entstehung des Faschismus beteiligt, dann hat sich durch den Ausgang des Zweiten Weltkrieges auch nichts an ihrer Wirksamkeit geändert. Militärische, technische und materielle Überlegenheit ändert dann an der Wirksamkeit der von Lukacz, Plessner, Adorno und Bloch genannten Faktoren nichts. Doch jede geistesgeschichtliche Interpretation hat ihre Grenzen. Politischer Irrationalismus, eine prekäre und problematische nationale Identität, die unbewältigte Dialektik der Aufklärung, anhaltende geschichtliche Ungleichzeitigkeit, sie alle können, aber sie müssen keineswegs zum Faschismus führen. Die Lehre, die wir aus diesen Überlegungen und Interpretationen ziehen müssen, lautet, daß nur durch eine geistig-sittliche kulturelle Erneuerung der westlichen Gesellschaften eine hinreichende Bedingung geschaffen werden kann, die geeignet ist, dem den Demokratien in ihrer Krise drohenden Umschlag in ein quasi oder faktisch totalitäres Regime vorzubeugen. Jüngst ist die besorgte Frage gestellt worden, ob wir uns nicht an einem Punkt in der Entwicklung befänden, an dem das Projekt der Moderne, nämlich das einer umfassenden Rationalisierung des gesamten geschichtlich - gesellschaftlichen Lebens zu scheitern drohe. Wenn man die Tendenzen des Irrationalismus, Subjektivismus und Sensualismus zusammen sieht, dann kommt man an dem Schluß nicht vorbei, daß wir uns in einer Situation befinden, in der uns eine Konstellation wieder einholen kann, die auch eine Wiederkehr von totalitären Formen möglich macht, die allerdings mit den historischen bekannten Erscheinungsformen der 30er Jahre nicht gleichgesetzt werden dürfen. Am Beginn der 80er Jahre stellten Vertreter unserer Ordnung, Führer der Gewerkschaften und die Arbeitgeber beunruhigt die Frage, ob Bonn nicht doch das Schicksal von Weimar erleiden könnte. Wahrscheinlich denken sie an die dramatisch gesteigerte Massenarbeitslosigkeit, den Anstieg der Konkurse, die Erschöpfung der finanziellen Möglichkeiten der öffentlichen Haushalte. Wenig berücksichtigt wird in der Diskussion dieser Frage die hier analysierte geistig-politische Konstellation. Die aus dem 19. Jahrhundert stammenden ideologischen Positionen können nicht mehr eindeutig identifiziert werden, sondern befinden sich in einem sich ständig verändernden Verhältnis wechselseitiger Vermischung. Links und rechts gehen ineinander über, im Verfall befindliche progressive Positionen besetzen konservative Grundthemen, beispielsweise das Thema der Nation, und konservative und christliche Parteien identifizieren sich mit der Erhaltung einer Industriegesellschaft, deren ethisch-kulturelle Grundlagen sich in einem Prozeß der Erosion befinden. Es meldet sich eine ebenso diffuse, unübersichtliche, aber immer explosivere Mischung, die das Verhältnis zur Gewalt dramatisch verändern kann. Am bedenklichsten ist die These, daß, wenn es um unkorrigierbare, in das Leben zukünftiger Generationen eingreifende Entscheidungen gehe, eine zufällige Mehrheit von 5 1% keine hinreichende Legitimation mehr sein könne. Mit dieser These zeichnet sich am Horizont der näheren Zukunft eine Situation ab, wie wir sie beim Niedergang der Weimarer Republik erlebt haben. Wenn die Mehrheit nicht mehr legitimiert, was tritt an die Stelle des Mehrheitsprinzips? Die schweigende Mehrheit, die sich am nicht aktiven Widerstand beteiligt, wird heute schon demokratisch passiv, faschistoid genannt, während die sich engagierenden Minderheiten aus ihrem Engagement die Legitimation ableiten, ihren Willen auch gegen Mehrheitsentscheidungen durchsetzen zu dürfen, da sie der subjektiven Meinung sind, daß von ihrem Einsatz das Überleben abhänge. Das Problem ist also wie schon einmal der sich auflösende Konsens. Sind die endlosen Diskussionen über Grundwerte nicht selbst nur Ausdruck des Gefühls, daß der Minimalkonsens bedroht oder vielleicht gar nicht mehr vorhanden ist? Nicht das politische, soziale und ökonomische Potential der Bundesrepublik gibt Anlaß zur Besorgnis, sondern die Frage harrt einer Antwort, wie dieses Potential politisch aktualisiert und zur Lösung der neuen Probleme eingesetzt werden kann, die sich für die 80er Jahre abzeichnen. Politik muß mehr sein als Krisenmanagement oder, im schlimmsten Falle, Konkursverwaltung. Ist die Selbstbehauptung der Republik möglich ohne eine neue geistig-ethische Grundlage für den Konsens in unserem Volke? Die Forderung nach geistiger Führung oder auch geistig orientierender Kraft der politischen Führung ist ein Symptom dieser Lage. Um so wichtiger ist zu erkennen, daß der Totalitarismus immer dann unausweichlich zu sein scheint, wenn das Potential der Aufklärung, eine Art Glaubensersatz zu produzieren, erschöpft ist. Wenn der Druck des Vakuums an religiös begründetem Sinn unerträglich wird, dann wird der Zwang und die Verführung für die Politik fast unausweichlich, dieses Vakuum zu besetzen, es durch immanente Heilsverheißungen auszufüllen und damit totalitär zu werden. Die Wurzel des Totalitarismus am Ende der Aufklärung ist religiöser Natur. Das durch die institutionalisierte Religion unbefriedigte Bedürfnis nach religiösem Halt, nach Geborgenheit, nach Gemeinschaft, nach einer verbindlichen, das ganze Leben erfassenden autoritären Orientierung wird schweifend, gestaltlos, verfällt ins Irrationale, ja Verbrecherische und Perverse, schlägt ins Politische um und drängt die politische Gestaltung auf den Weg ins Totalitäre. Eine Gesellschaft, in der die Sinnfrage nach dem Ganzen, nach letztgültiger Orientierung aufbricht und in der diese Frage ohne Antwort und ohne kulturelle Gestalt bleibt, ist auf das tiefste gefährdet durch die Sehnsucht nach Endlösungen. Der Nationalsozialismus wie der Kommunismus sind nur zu begreifen im Zusammenhang einer noch zu schreibenden Religionsgeschichte eines nachchristlichen Zeitalters. Die christliche Lehre von der Entzweiung, die ihren Niederschlag fand in der Unterscheidung von Politik und Religion, Kirche und Staat, Reich Gottes Zur Linken und Reich Gottes zur Rechten, von Glaube und Vernunft, Gegenwart und Zukunft, dem Letzten und dem Vorletzten, oder wie auch immer, bedeutete einst die Entlastung der Politik, das Heil verwirklichen zu müssen und damit die Befreiung der Vernunft zur Sachlichkeit. Rousseau sagte einmal, er wisse warum der moderne Mensch zur Politik im antiken, das heißt totalen Sinne nicht mehr fähig sei, er wisse auch den Grund, aber er wolle ihn nicht sagen. Der Grund, den Rousseau nicht nennen wollte, war der Eintritt des Christentums in die Geschichte. Im Blick auf den totalitären Anspruch der Politik ist der Satz des Neuen Testaments "Du sollst Gott mehr gehorchen, als den Menschen" ein revolutionärer Satz. Und er ist es bis heute geblieben. Von der revolutionären Bedeutung des Christentums für die Politik wußten die totalitären Machthaber des 20. Jahrhunderts häufig mehr als christliche Theologen. Der totalitäre, nichts auslassende Anspruch kann erst dann erfüllt werden, wenn mit dem Christentum das persönliche der Wahrheit verbundene Gewissen beseitigt ist, das sich an einen Willen gebunden weiß, der nicht von dieser Welt ist. Es ist die Angst, aus der die totalitären Gewalten ihre Macht über den Menschen beziehen. Ohne Angst als die kollektive Grundstimmung eines ganzen Volkes hätte sich Hitler nicht als der Retter, ja als Erlöser empfehlen können. Der christliche Glaube verspricht zwar keine Befreiung von der Angst, die wir in der Welt haben, aber er verspricht den Anteil an einer Kraft, die mit dieser Welt die Angst überwunden hat und damit erst der säkularen Vernunft die Chance gibt, auch unter den panikauslösenden Schrecken der Gegenwart vernünftig zu bleiben. Und das heißt: das Umkippen der freiheitlichen Demokratie in die Abhängigkeit von einem atheistischen Totalitarismus zu verhindern. |