1. Dezember 1995

Medizin und Ideologie
Informationsblatt der Europäischen Ärzteaktion
Medizin und Ideologie
Günter Rohrmoser
Eine vorläufige Bilanz


Sicher ist es noch zu früh, um abschließend das Kruzifix-Urteil und die Reaktionen, die es ausgelöst hat, beurteilen zu können. Doch eine vorläufige Bilanz ist möglich. An diesem Vorgang scheinen zwei Dinge außerordentlich bemerkenswert.

Erstaunlich ist, daß das Bundesverfassungsgericht sich überhaupt bemüßigt fühlte, dem Ansinnen des Klägers in Bayern zu entsprechen, und aufgrund dieses individuellen und, wie wir inzwischen wissen, durchaus nicht unproblematischen Einzelfalles, eine Entscheidung von einer so weitreichenden, die Mehrheit der in Bayern lebenden Bürger betreffenden Bedeutung zu fällen. Es wäre durchaus möglich gewesen, daß das Bundesverfassungsgericht, wie ja auch in anderen Fällen schon geschehen, auf eine Stellungnahme verzichtet und sich auf den Standpunkt stellt, daß die Frage nach der Gestaltung der Schule eine Sache der Länder ist, die die Schulhoheit innehaben. Bayern ist durch die Verfassung verpflichtet, eine dem Geist des Christentums verbundene Erziehung in den Schulen zu gewährleisten. Nun ist es ja absolut einleuchtend, daß, wenn die Verpflichtung auf den Geist und die Tradition des Christentums für die Gestaltung des inneren Lebens der Schule vorhanden ist, dann natürlich die Staatsregierung in Bayern das Recht haben muß, unter anderem auch an den Schulwänden im Sinne des Vollzugs dieses verfassungsmäßig gegebenen Auftrages Kreuze anzubringen.

Wenn man schon glaubt, eine Entscheidung fällen zu müssen, kann man auch zu anderen Ergebnissen kommen, was ja das abweichende Urteil der drei Richter, die sich dem der anderen fünf Richter nicht anschließen können, beweist. Es ist daher sehr problematisch, wenn die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes, Frau Professor Limbach, auf dem Richtertag erklärt, daß die Richter, und sie meinte offenbar vor allem die des Bundesverfassungsgerichtes, Recht sprechen. Es ist ja nicht so, daß die aus den Gremienentscheidungen in Karlsruhe gefällten Urteile, die aufgrund der Zusammensetzung dieser Gremien mehr als problematisch sind, als solche bereits identisch sind mit Recht. Man könnte durchaus die Frage stellen, ob es rechtens ist, daß ein einziger, der mit dem Aufhängen der Kruzifixe in den Schulen nicht einverstanden ist, aus welchen Gründen auch immer, das Recht haben soll, über die Mehrheit eine Art Diktatur auszuüben und damit zu verbieten, was nicht nur dem zufälligen Mehrheitswillen in Bayern entspricht, sondern was Ausdruck eines tief im Bayerischen, in der bayerischen Bevölkerung, seiner Geschichte, seinen Lebensformen und seinem Lebensgefühl verankerten Brauches ist. Es gehört zu den elementarsten Traditionen des europäischen Gedankens von Recht, die bis auf die Antigone von Sophokles zurückgehen, daß es durchaus Quellen des Rechtes gibt, die von tieferer und größerer Bedeutung sind, als diejenigen die der jeweilige Inhaber der Macht in einem Staate festsetzt. Und das Recht, seine traditionellen, gewachsenen Lebensformen zu verteidigen, ist ja in dieser großen abendländischen Tradition als ein so fundamentales Recht angesehen worden, daß kein Staat das Recht haben darf; dieses Recht außer Kraft zu setzen.

Was aber für die weitere Diskussion des Kruzifix- Urteiles von noch größer Bedeutung sein wird, ist die Diskussion der Prinzipien, die für die Begründung des Urteils herangezogen wurden.

Erstens geht es um die Frage der Neutralität des Staates in diesen und allen, die öffentliche Anwesenheit und Wirksamkeit der christlichen Religion betreffenden Fragen und zweitens geht es um diesen ominösen Begriff der negativen Religionsfreiheit. Es ist hier nicht der Raum, um auf die Fragen einzugehen, die durch die Neutralitätserklärung des Staates in Religionsfragen aufgeworfen werden. Aber es darf doch daran erinnert werden, daß einer der entscheidenden Gründe für den Untergang des Weimarer Staates diese Neutralität war, die jetzt wieder von den Richtern in Karlsruhe beschworen wird. Wieso verhält sich der Staat eigentlich neutral, wenn er der Mehrheit ein Verdikt auferlegt, das Kardinal Wetter in München auf dem Odeonsplatz ein Intoleranzedikt genannt hat. Worin besteht darin eigentlich die Neutralität?

Aber wie auch immer, vielleicht ist die Begründung für die Durchsetzung des Anspruches in diesem Falle eines einzelnen gegenüber der Mehrheit von noch größer Tragweite, da sie im Namen der negativen Religionsfreiheit erfolgte. Wer auch nur etwas von den Zusammenhängen der Geschichte Europas mit der Durchsetzung des Rechtes auf Religionsfreiheit weiß, der wird sich nur verwundert die Augen reiben können. Denn unter Religionsfreiheit wurde ja immer verstanden, und wird ja auch in unserer Verfassung, wenn ich das recht sehe, weiterhin so verstanden, daß jeder das Recht haben soll zu seinem öffentlichen Religionsbekenntnis, daß er sich zu einer Religionsgemeinschaft bekennen kann, wie er will, und daß ihm aus der Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft keine Beeinträchtigung seiner Rechte als Staatsbürger erwachsen darf. Dies scheint mir der einzig haltbare Begriff von Religionsfreiheit zu sein. Eine Religionsfreiheit, die bedeutet, daß jemand auch von dem Anblick der Symbole einer Religionsgemeinschaft verschont bleiben soll, der er selber nicht zustimmt, wäre in der Tat ein erstaunliches Recht. Das Bundesverfassungsgericht hat nun theologische Urteile über die Bedeutung des Kruzifix-Symboles gefällt und unterstellte eine aggressive, missionierende und damit das Gewissen des Dissidierenden bedrängende Wirkung aus dem Anblick des Kreuzes. Hierzu sind zwei Dinge zu sagen:

1. Das Verfassungsgericht hat kein Recht irgendwelche theologischen Urteile über die Bedeutung des Kruzifix-Symboles zu fällen.

2. Ein Symbol hat keine eindeutig bestimmte, sondern nur die Bedeutung, die jeder diesem Symbol gibt, der seiner ansichtig wird. Ein Symbol hat nur die Bedeutung, die durch eine entsprechende Exegese gegeben wird. Ein Symbol ist auf Deutung angewiesen und ein Symbol ohne diese ausle- MEDIZIN & IDEOLOGIE Dezember 95 31 gende Bedeutung kann alles oder nichts bedeuten. Wir brauchen uns nur an die Grundthese von Johann Jakob Bachofen erinnern, der in diesem Zusammenhang die untrennbare Verbundenheit von Mythos und Ritus so beschrieben hat, daß der Mythos immer die Auslegung des Ritus ist, so wie die Exegese die Auslegung des Symboles, und ohne eine solche bedeutet das Symbol alles oder gar nichts.

Die tiefergreifenden Fragen weisen natürlich über den Kontext der bisherigen Diskussion des Kruzifix- Urteiles hinaus. Die außerordentlich breite Reaktion und Erregung, die so viele Menschen in unserem Volk wegen diesem Urteil erfaßt hat, bedarf vor allen Dingen einer genaueren Erörterung und Betrachtung. Es war auffällig, daß von allen, und in besonders scharfer Weise von den Befürwortern des Kruzifix-Urteils, jede Beziehung zu der Anordnung der Nationalsozialisten, die Kreuze aus den Schulen zu entfernen, zurückgewiesen und als eine Infamie verurteilt wurde. Nun ist es zweifellos richtig, daß natürlich das Bundesverfassungsgericht nichts mit den Nationalsozialisten zu tun hat, daß es keine nazistischen Ziele verfolgte, sondern eher das Gegenteil von dem. Aber man muß ja nur mal die Frage stellen, ob kurz nach 1945, noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Erfahrung mit dem Dritten Reich, ein Gericht, und sei es auch das höchste Gericht, es gewagt hätte, ein solches Urteil zu fällen. Im Ergebnis, wie unvergleichbar auch die Begründungen, die Motive, die Zielsetzungen sein mögen, läuft es auf dasselbe hinaus, daß aufgrund einer staatlichen Anordnung Kreuze entfernt werden.

Der fundamentale Unterschied, der allerdings einen solchen Vergleich verbietet, ist, daß nicht die Anwesenheit von Kreuzen in den Schulen durch das Kruzifix-Urteil verboten wird, sondern nur, daß dem Staat verboten wird, eine Anordnung des Inhalts zu treffen, daß sie aufgehängt werden müssen. Es dürfen auch nach diesem Kruzifix-Urteil Kreuze in den Schulen hängen, aber nur dann, wenn sich Lehrer, Eltern und Schüler darauf verständigt haben. Wenn man den vom Bundesverfassungsgericht herangezogenen Fall zugrunde legt, müßte eine einzige Stimme bei der Abstimmung genügen, um das Aufhängen des Kreuzes zu verhindern. Es scheint mir noch offen zu sein, ob auch für die hier eingeforderten Verständigungsprozesse zwischen Lehrer, Schülern und Eltern, die einfache Mehrheit genügt oder eine hundertprozentige Zustimmung. Dieser Punkt ist in der bisherigen Diskussion merkwürdig ungeklärt geblieben. Nach dem Verfahren des Bundesverfassungsgerichtes dürfte eine einzige Stimme genügen, um die Verwirklichung des Willens der Mehrheit zu verhindern. Sicher würden durch ein solches Verfahren auch schwerwiegende, unsere Demokratie betreffenden Fragen aufgeworfen.

Glücklich kann man über die bisherige Debatte nicht sein, weil zweifellos die Autorität des höchsten deutschen Gerichtes erheblichen Schaden genommen hat und niemand weiß, ob dieser Schaden noch einmal repariert werden kann. Positiv an der Auswirkung der Reaktion auf das Kruzifix- Urteil ist allerdings die Intensität, wie seit vielen Jahren, ja seit Jahrzehnten schon nicht mehr die Frage nach dem Verhältnis unseres durch die Verfassung geordneten Gemeinwesens zum Christentum in der Öffentlichkeit diskutiert wurde und wie hoch der Prozentsatz derjenigen war, die, aus welch unterschiedlichen Gründen auch immer, dafür eintraten, daß das Kruzifix seinen Ort in der Schule behalten sollte.

Dieser Vorgang schließt natürlich auch theologische Überlegungen von einem hoffentlich beträchtlichen Tiefgang ein. Diese an dieser Stelle zu erörtern, ist hier nicht der Ort. Theologisch wird es nicht einfach sein, zu entscheiden, ob das Kruzifix in der Schule ein Glaubenssymbol oder ein Kultursymbol ist, denn es ist natürlich beides und es dürfte eigentlich keine Alternative geben. Aber wie eigentlich die Zusammengehörigkeit von Glaubenssymbol und Kultursymbol in einer Gesellschaft gedacht werden kann, in der unangesehen dieser Diskussion die Entchristlichungsprozesse mit unvermindertem Tempo und Dramatik voranschreiten, ist natürlich eine ganz andere Frage. Was wir auf jeden Fall zur Kenntnis nehmen müssen, ist dies, Bayern ist nicht Deutschland. Das was sich in Bayern, vor allem bei der Veranstaltung auf dem Odeonsplatz gezeigt hat, hat geradezu, wenn man es mit der Situation in den anderen deutschen Ländern vergleicht, archaische Züge. Diese innere Einheit von Religion, von Rechtsempfinden, Glaubensverständnis und gelebter lebendiger Lebensform ist etwas so einzigartiges, daß es kaum zu begreifen ist, daß es so etwas und dazu in Deutschland noch gibt.