26. Mai 1997

Westfalen-Blatt
Chance zum Neubeginn vertan
Philosoph Günter Rohrmoser zum Thema: »Bedrohung der christlichen Kultur«


Der Niedergang unseres Gemeinwesens schreitet rapide fort, weil die Säkularisierung immer stärker um sich greift. Damit gerät die christlich - abendländische Kultur zunehmend zu einer Kultur der Beliebigkeit. Das sagt Günter Rohrmoser, Philosophieprofessor an der Universität Stuttgart - Hohenheim und gelegentlich Autor im Westfalen-Blatt. Er sprach am Samstag in der St. Johannes Kirche in Herford zum Thema: »Bedrohung und Untergang der christlichen Kultur«.

Nach der leidvollen Erfahrung des Hitlerfaschismus hätten die Deutschen die große Chance gehabt, das Jahrhundert der Aufklärung zu überwinden und eine christliche Renaissance einzuläuten. Doch, so stellt Rohrmoser fest, sei diese Wende nicht zustande gekommen, obwohl es nach Kriegende eine große Grundübereinstimmung innerhalb der während der Diktatur entchristlichten Bevölkerung gegeben habe. Vielmehr sei die heutige Situation geprägt von einem Exodus aus den christlichen Kirchen in der alten Bundesrepublik und der Zerschlagung des Glaubens im Osten: Nur ein Viertel der Menschen in den neuen Ländern seien als Christen im weiteren Sinne zu verstehen. Die Krise der Kirchen ist nach Ansicht Rohrmosers verknüpft mit den außerkirchlichen Erscheinungen; die Argumente der brandenburgischen Landesregierung für einen Religionsersatz LER etwa, die Jugend sei allein für christliche Religion unerreichbar, zeuge von Hilflosigkeit und der Abwendung vom traditionellen Bekenntnis. Auch sei die Austrittswelle aus den christlichen Kirchen von den Kirchen hausgemacht: wissenschaftliche Abhandlungen zum Alten Testament mit massiver Anzweiflung des Wahrheitsgehaltes sowie bloße Wirtschaftlichkeitsrechnungen in den Synoden anstatt Glaubensvermittlung trügen zur Orientierungslosigkeit und der Hinwendung zu pseudoreligiösen Bewegungen bei. So sei es kein Wunder, da 500 000 Jugendliche in Deutschland ihr Seelenheil in Sekten suchten: »Das ist ein Symptom der aktuellen Geisteshaltung.«

Rohrmoser sieht den Grundirrtum der Menschen darin, daß mit einer Menschheit ohne Gottesbezug, alleingelassen mit der Ausrichtung auf das körperliche Begreifen und die physischen Erscheinungen, der Endzustand erreicht sei. Die Ausschaltung der Transzendenz werde in erheblichem Maße gefördert durch eine Medien(un)kultur, die von Haß und Kampf gegen die christliche Kirche gezeichnet sei. Wider besseres Wissen lenkten die Macher die Sinnstiftung auf eine neue Bahn; daß Politik und Kirche nicht mehr sinnstiftend wirkten, sei »eine intellektuelle Katastrophe«.

Das Ergebnis der Entchristlichung sei die von Friedrich Nietzsche beschriebene atomistische Revolution: Die herkömmliche Gesellschaft zerfällt, die Individuen verstehen sich als Partikel des Systems, kreisen nur um sich und ihre Interessen. Diese totale Privatisierung gehe einher mit totalem politischen Desinteresse der Menschen, versorgt in einem totalen Sozialstaat. Als Konsequenz der Vereinzelung löse sich die Gesellschaft in modernen Hyperliberalismus und Privatkapitalismus in der Bewegung auf.

Da nütze die Berliner Rede Roman Herzogs wenig, befindet Rohrmoser, der dem Bundespräsidenten nicht schlechte Absicht, dafür aber das Nichterkennen der Grundstimmung zuschreibt. »Was uns lähmt ist eine Grundstimmung, in der nur noch die Sprache des Geldes spricht«, kritisiert Rohrmoser den Herzog Appell: »Das Gesagte ist alt. Wenn alle gemeint sind, ist niemand gemeint.«

Nicht nur die Bestandsaufnahme des Bundespräsidenten, auch die allgemeine, retuschierte Sprach- und Tatenlosigkeit in der Politik führt Rohrmoser zurück auf das Fehlen charismatischer Politiker, den heutigen mangele es zudem an Vorstellungskraft: »Unsere Politikerklasse ist der Lage in Deutschland nicht gewachsen«. Solange die Spaßgesellschaft zur allgemein anerkannten Norm gedeihe, werde die Auseinandersetzung mit innergesellschaftlichen Prozessen nicht funktionieren.

In der nicht gefestigten Glaubensgrundlage sieht Rohrmoser einen der wesentlichen Gründe für die Angst vor dem Islam »Die wirkliche Auseinandersetzung mit dem Islam steht uns noch bevor«, warnt Rohrmoser, der den Traum der Linken von der multikulturellen Gesellschaft zerbrochen sieht an der Liberalisierung der Gesellschaft. Allerdings gehörten zum Toleranzgedanken, im Gegensatz zu anderen Toleranz-Sichtweisen, immer zwei Partner. Er selbst habe keinerlei Berührungsängste mit dem Islam, vielmehr erkenne er sehr genau, daß der eine richtige Religion keine Sonntagsreligion sei. Eben dieser Festigung sei die individuelle Gesellschaft nicht gewachsen: »Wenn es zur Auseinandersetzung in einem ehemals christlichen Land wie Deutschland mit dem Islam kommt, dann bestimmt der Grad der Festigung des Glaubens den Grad der Toleranz und der Gesprächsbereitschaft.«

BUCHHINWEIS:
Am 21. März 1997 fand in Dietmannsried bei Kempten auf Einladung des "Krisenstabes kritischer Landwirte" ein Treffen Allgäuer Bauern statt, bei dem es um die Zukunft ihres existenzbedrohten Berufsstandes ging. Hauptredner war der Ordinarius für Sozialphilosophie an der Universität Stuttgart-Hohenheim, Professor Günter Rohrmoser. Angesichts ihrer immer prekärer werdenden Lage, so Rohrmoser unter großem Beifall, müßten die Landwirte ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und kämpfen, notfalls auch gegen die CSU. Eindringlich warnte er davor, die Landwirtschaft nur nach ökonomischen Kategorien zu beurteilen. Den Wortlaut seiner Rede dokumentiert die Broschüre »Ernstfall für die Demokratie. Ist die Politik am Ende?« Zu beziehen ist sie bei: Gesellschaft für Kulturwissenschaft, Ahornweg 5a, 76467 Bietigheim, Telefon 07245/89015, Fax: 07245/83574