1. Mai 2006

Günter Rohrmoser
Das christliche Erbe im Werk Friedrich Schillers *


In dem Schillerbuch von Rüdiger Safranski, das wahrscheinlich im Schillerjahr 2005 die breiteste Wirkung gehabt hat, stellt uns der Autor die Frage, was uns Schiller heute bedeutet und bedeuten kann. Die Aussage dieses Buches ist, dass er große Probleme damit hat, dass Schiller Idealist ist. Das würdigt er zwar, wird dann aber geradezu von dem Schiller´schen Schwung mitgerissen, und sagt dann, dass auch wir uns an diesem Schiller´schen Idealismus erheben und laben könnten in einer Art individueller Therapie. Schiller hätte mehr als ein Jahrzehnt in einem kranken Körper, durch die Kraft des Gedankens und der Erhebung zum Ideal diesen schweren Jahren, in denen besonders viele seiner Werke entstanden, getrotzt. Die Frage, was Schiller mit dem Christentum zu tun hätte, geht er sehr gewissenhaft an, wie sich das für einen Germanisten und Philologen gehört, und stellt fest, dass Schiller von keinem christlichen Dogma irgendetwas gehalten und im Sinn gehabt hätte. Es gäbe weder das Dogma von der Schöpfung noch das von der Erlösung, oder vom Endgericht, oder der Auferstehung Jesu Christi, und daraus müsse man folgern, dass Schiller sich radikal vom Christentum und seiner christlichen Herkunft befreit habe.

Mir scheint das unwahrscheinlich zu sein, wenn man weiß, dass von seiner frühesten Jugend an in diesem kargen und ärmlichen Haus in Marbach kein Tag begonnen wurde, an dem Vater Schiller nicht aus einem damals nicht nur in pietistischen Kreisen verbreiteten Predigtbuch, dem Brastberger, eine Morgenandacht gehalten hat. Oben stand ein Bibelvers mit einer entsprechenden Auslegung Brastbergers, und das trug der Vater vor und Schiller hat das mit der Muttermilch in sich eingesogen. Das Hauptthema, das wie ein roter Faden durch alle diese Betrachtungen hindurchgeht, ist das Vertrautmachen mit dem Gedanken des Endes aller Dinge, dem bevorstehenden Gericht und dem Gedanken eines neuen Himmels und einer neuen Erde.

Wenn man sich die frühen Werke Schillers ansieht, dann findet man diesen Gedanken sowohl in den "Räubern" als auch in "Kabale und Liebe", die mit einer Art quasi-apokalyptischen Endgerichtes enden, wieder. Ich kenne keine andere Szene der Weltliteratur, als die Szene mit Franz Moor und Pastor Moser, in der mit solch einer beklemmenden Gewalt diesem erbärmlichen Verbrecher der Gerichtsgedanke Gottes, die ausgleichende Vergeltung vor Augen geführt wird und damit der Gedanke, dass jeder einst vor dem Richter erscheinen und Rechenschaft abgeben muss über das, was er getan und was er unterlassen hat.

Wenn die Legende stimmt, dann ist das letzte Wort Schillers kurz vor seinem Tode "judex" (Richter) gewesen, so wie Goethe, auch nach einer Legende, sich "mehr Licht" gewünscht hat. Auch dies spricht dafür, dass diese Prägung seiner frühesten Jugend Schiller nicht verlassen hat.

Dem widerspricht die weitere Behauptung, dass sich Schiller in der Epoche, in der er an der "ästhetischen Erziehung" arbeitete, von seiner christlichen Herkunft abgewandt habe. In einem Brief an Körner aus dieser Zeit stellt Schiller jedoch fest, dass die höchste und vollkommenste Religion das Christentum sei, und zwar mit der Begründung, es sei eine ästhetische Religion. Man muss natürlich das Wort ästhetisch so verstehen, wie Schiller es in seiner "ästhetischen Erziehung" interpretiert hat. Und wenn man dann noch weiß, was Safranski offensichtlich nicht weiß, dass Oetinger, einer der großen Theologen des 18. Jahrhunderts in Baden-Württemberg eine Art Naturtheologie entwickelt hat, die Schiller gegenwärtig war. Im Horizont und Kontext dieser Naturtheologie bestimmt er die Rolle Christi als die eines Messias der Natur, d.h. Christus ist der, da gibt es Übereinstimmungen mit dem jungen Hegel, der den Menschen wieder in die Einheit seines Daseins einsetzt und in die Ganzheit der Natur integriert.

Wenn man von diesem Oetinger´schen Gedanken ausgeht, dann ist es nicht abwegig zu behaupten, dass die Rolle, die Christus als Messias der Natur bei Oetinger, die Kunst und der Künstler in der ästhetischen Philosophie bei Schiller spielt. Verbunden mit einem Gedanken, wie er zutiefst und spezifisch christlich ist, nämlich der Schiller´schen Einsicht, die in der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution entstand, dass die Freiheit des Menschen selbst der Befreiung bedarf. Die Freiheit selbst muss befreit werden, weil der zwischen Trieb- und Vernunftnatur "wie Kant noch gedacht hat" in sich zerrissene und gespaltene Mensch aus sich selbst die verlorene Einheit, die bei Schiller mit Freiheit identisch ist, nicht wiedergewinnen und wiederherstellen kann.

Aber ich will noch einmal die Frage aufgreifen, "was uns Schiller noch zu sagen hat?" Eine absurde Frage! Kann Schiller vor uns noch bestehen? Vor dieser armseligen Kultur soll ein Schiller bestehen? Die Frage, wenn man sie schon stellen muss, muss richtig heißen: Können wir vor Schiller bestehen?

Das möge jeder für sich selbst beantworten und die Konsequenzen daraus ziehen. Es geht nicht darum, Schiller dadurch aufzuwerten, dass man eine Aktualität nachweist, sondern es geht um die Frage, ob Schiller etwas erkannt hat, was für uns von wesentlicher Bedeutung ist und was wir nicht erkannt haben. In diesem Zusammenhang ist mir die erneute Lektüre des "Wallenstein" faszinierend geworden, weil der "Wallenstein" das größte Geschichtsdrama der Deutschen und der deutschen Sprache ist. Dies aber nicht, wie man primär zu hören bekommt wegen der Kompliziertheit und Ambivalenz von Wallensteins Charakter, sondern das Entscheidende ist, dass es um die Frage geht, was eigentlich Geschichte ist. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass wenn man sich unter dieser Fragestellung dem "Wallenstein" nähert, kann man mehr über Politik und Geschichte erfahren, als durch ganze Bibliotheken der modernen und gegenwärtigen Politikwissenschaft.

Was ist nun das Besondere an diesem Wallenstein, wenn wir nicht seinen Charakter in den Blick nehmen und uns vergegenwärtigen, wie andere den Wallenstein interpretiert haben. Es gibt ein großartiges Wort von Goethe, der erklärt hat, dass Wallenstein eine phantastische Existenz sei, begünstigt durch das Zeitmoment. Durch außergewöhnliche hervorragende Gaben sei er in einem notwendigen Widerspruch zu der Gemeinheit des menschlichen Lebens und der Endlichkeit der menschlichen Natur gescheitert und habe alle mit in den Abgrund gerissen.

Ganz erstaunlich ist, was Hegel über den Wallenstein sagt: das ist keine Theodizee, das ist das Reich des Todes und des Nichts, was hier triumphiert. Das ist nicht tragisch, das ist entsetzlich! Nihilismus! Nach Hegel wäre der "Wallenstein" eigentlich ein Werk, das weit ins 20. Jahrhundert vorgreifend, den Geschichtsnihilismus zum Ausdruck und zur Darstellung gebracht hätte.

Es gibt diesen wunderbaren Monolog über Wallenstein, in dem Schiller feststellt, Wallenstein, des Abenteuers seltsamer Sohn, sei einer, der aus Niederungen, als einfacher Landedelmann, quasi aus dem Nichts, emporgestiegen ist zum Führer der Heere. Sein Charakterbild schwankt, durch der Zeiten Hass verzerrt, aber der größere Teil seiner Schuld muss den Sternen zugerechnet werden.

Und damit sind wir bei dem ersten Punkt, was für die Geschichtsdeutung Schillers dieser Sternenglaube bedeutet? Darüber kann man unendlich spekulieren. Wie immer man ihn interpretiert, eines ist ganz entscheidend, dass Schiller wusste, dass aus dem Entschluss der Entscheidungs- und Handlungsmacht die Geschichte nicht bestimmt wird und damit nicht aus der Täterschaft des Menschen erklärbar ist. Zu den Geheimnissen geschichtlicher Täterschaft gehört das Wissen, und das stellt er im Wallenstein dar, dass in aller Macht, aller Kühnheit und allem Mut des geschichtlichen Täters bei dem Versuch, in den Gang der Geschichte einzugreifen und sie zu ändern, es eine andre Macht gibt, die größer und die mächtiger ist, und dass alles Planen und aller Ausgang in der Geschichte damit eigentlich unvorhersehbar und unberechenbar ist. Es ist fast die Regel, dass in der Geschichte unter der Einwirkung des nicht durch die Handlungskapazität des Menschen bestimmbaren und kontrollierbaren Bereichs, nicht nur anderes, sondern manchmal sogar das Gegenteil des Gewollten hervorgeht.

Wogegen sich Schiller hier stellt, ist eigentlich der Gedanke, der der ganzen neuzeitlichen Freiheits- und Revolutionsgeschichte zugrunde liegt, die Geschichte in den Griff zu bekommen. Sei es wie es die Marxisten machen, die von sich behaupten, die ewigen geschichtlichen Abläufe auch in der Zukunft nach determinierenden Gesetzen erkannt zu haben, und dass diese gleichen Gesetze, ermöglicht durch die Hegel´sche Dialektik, auch das Subjekt mit erzeugen, das allein privilegiert ist, die Gesetze zu erkennen und damit den durch diese erkannten Gesetze vorgezeichneten Gang der Geschichte zu gestalten.

Sei es wie die Nationalsozialisten, die aus der Tiefe des aus dem Irrationalen geborenen Willens versuchen, die Geschichte in einem voraus erdachten Entwurf in den Griff zu bekommen und durch die Mobilisierung aller Willenskräfte und Ressourcen der Geschichte einen neuen Gang und ein neues Gesetz aufzuzwingen.

Oder sei es auch zu den zu verminderten Preisen angebotenen Prognosen der Wissenschaftler, die auch mit gewissen Kautelen glauben, dass in Übereinstimmung mit diesen Prognosen, Geschichte gemacht und gestaltet werden kann.

Das ist der durchgehende Glaube, den Schiller in der Vorlesung über "Was heißt, zu welchem Ende studiere ich Universalgeschichte" gemeint hat. Er sieht, dass durch die Geschichte ein Faden läuft, der die Menschheit von barbarischen primitiven Anfängen auf die Höhe der Aufklärungskultur gebracht hat. An anderer Stelle heißt es, da steht der Mensch mit Palmenzweigen im neuen Jahrhundert und sieht hoffnungsvoll den weiteren Vormarsch des Fortschritts der Menschheit zu immer höheren Zivilisations- und Kulturstufen vor sich.

Aber die eigentliche Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution bei Schiller, so sehr die ästhetischen Briefe das Problem auch formulieren, findet im "Wallenstein" statt. Worum geht es im "Wallenstein"?

Es geht um das Grundproblem aller geschichtlicher Ordnung und aller Versuche, sie revolutionär zu ändern. Goethe fand die herrliche Formel, "es wurde die Formel des Dienstes geändert." Man kann mit keinem genialeren Satz das ganze Geschichtsproblem, wie es im Wallenstein dargestellt ist, benennen: "es wurde die Formel des Dienstes geändert". Es geht also darum, die Legitimität der alten Ordnung zu zerstören und ein neues Prinzip der Legitimität zu schaffen. An Stelle des dynastisch-monarchischen das charismatische Prinzip durchzusetzen. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass Wallenstein seine Machtbasis, sein Heer und sein Lager selbst geschaffen hat durch die Kraft des Charismas, der Ausstrahlung, die von seiner Person ausgeht.

Das ist das Grundproblem Schillers, der damit ganz in großen klassischen Traditionen denkt, dass das eigentliche Problem des Umsturzes oder einer revolutionär intendierten Veränderung aller Geschichte das Problem der Legitimität ist. Und dass die Frage der Macht eine Frage der Legitimität ist. So wie Hannah Arendt es gelehrt hat, dass man unterscheiden muss zwischen Gewalt und Macht. Gewalt ist nichts anderes als nicht legitimierte Macht. Jede geschichtliche Ordnung beruht letzten Endes auf einem Glauben, einem Legitimitätsglauben. Die Legitimität kann nicht rational abgeleitet und andemonstriert werden, sondern eine Ordnung besteht, solange der Glaube in ihre Legitimität besteht. Sobald sich dieser Glaube auflöst, ist die Ordnung zu vergleichen mit einem reifen Apfel, der vom Baum fällt, in den Schoß dessen, der in der richtigen Weise daran stößt. Um diesen zentralen Kampf der Durchsetzung eines neuen Legitimitätsprinzips, eines also letztlich revolutionär angelegten Unternehmens, geht es im "Wallenstein".

Da tauchen Fragen auf, was der Mann eigentlich will? Das erstaunliche ist, bei Schiller gibt es keine klare Antwort. Es gibt die verschiedensten Antworten. Ob er sich selber in die Reihe der Mächtigen emporheben will, vielleicht den Kaiser ersetzen, oder dem Reich den Frieden bringen, oder wie Gordon in Wallensteins Tod sagt, eine Wendung aller Dinge herbeiführen, weil diese alte Welt zu Grunde geht und eine neue entstehen soll. Und man fragt sich, was die Handlungslogik ist, nach der Wallenstein vorgeht, um die Geschichte in diesem revolutionär gemeinten Sinn in Bewegung zu setzen.

Überraschenderweise setzt er die Geschichte in Bewegung nicht durch Handeln, sondern durch Nichthandeln, durch Passivität. Indem er zaudert und zögert, gewinnen die Dinge ihr eigenes und immer größeres Tempo. Also kann auch Nichthandeln eminentes Handeln sein. Illo beschwört ihn: "Jetzt ist der Kairos da! Nun sind die Herzöge alle um dich versammelt, deine ganze Generalität, die Obristen, nur in diesem Augenblick, wenn überhaupt, musst du loslegen. "Wallenstein tut es nicht, weil er meint, dass die Sterne nicht eindeutig Auskunft geben. Später, als die Sterne wirklich eindeutig Auskunft gegeben haben und Seni in sein Gemach stürzt und ihn beschwört: "Wallenstein du wirst ermordet. Schlimmes, Fürchterliches ist im Verzuge, schnell heraus, das Haus verlassen!" In diesem einzigen, alles entscheidenden Augenblick, in dem die Sterne nun wirklich das richtige Zeichen geben, folgt er ihnen nicht. D.h. nicht die Sterne sind entscheidend, nicht die Sterne geben irgendetwas kund, sondern die Sterne sind nur Zeichen. Diese Zeichen sind aber interpretationsbedürftig. Das was die Sterne sagen, ist das Ergebnis einer Interpretation ihrer Zeichen.

Und nun sieht dieser Wallenstein, ohne dessen Zutun, mehr durch Zulassen, durch Zögern und Zaudern, mehr die anderen gewähren lassend und sich selbst zurückhaltend, dass die Dinge in Bewegung gekommen sind. Angesichts des in diesem Drama sich vollziehenden Umschlags der Geschichte stellt Wallenstein folgenden Monolog an, den ich nicht nur für einen Schlüssel zur Interpretation des Wallenstein halte, sondern auch dessen, was Schiller unter Geschichte verstanden und gesehen hat.

Da heißt es: "Wär´s möglich? Könnt´ ich nicht mehr, wie ich wollte? Nicht mehr zurück, wie mir´s beliebt? Ich müßte die Tat vollbringen, weil ich sie gedacht ..." Ohne dass er aktiv geworden ist, sitzt er in der Falle. Er kann nicht mehr zurück, ohne dass er Taten ausgelöst, allein durch den Gedanken, so wie für alle Geschichte und alle geschichtlichen Veränderungen das Entscheidende der Gedanke ist. Deutschland wird nicht anders durch zwei Prozent Mehrwertsteuererhöhung, sondern wenn die Leute nicht anders denken, wird es keinen Ausweg aus dieser Krise geben. Sie müssen anders denken. "Die Tat vollbringen, weil ich sie gedacht, nicht die Versuchung von mir wies " das Herz genährt mit diesem Traum, auf ungewisse Erfüllung hin die Mittel mir gespart, die Wege bloß mir offen hab gehalten?" Nun ist plötzlich die Rede von Versuchung. Was ist das Versuchende und das Versucherische? Das Versucherische ist der Gedanke, Schiller sagt, es ist ein Traum. Ist Wallenstein ein Träumer? Und "beim großen Gott des Himmels! Es war nicht mein Ernst, beschloßne Sache war es nie." Da sagt dieser Mann, als es nun losgeht, dass es ihm nie Ernst war. "In dem Gedanken bloß gefiel ich mir; die Freiheit reizte mich und das Vermögen. War´s unrecht, an dem Gaukelbilde mich der königlichen Hoffnung zu ergötzen?" "In dem Gedanken bloß gefiel ich mir, die Freiheit reizte mich und das Vermögen." Was ist das für ein Mann, der Wallenstein? Das ist ein Spieler. Das ist ein Künstler. "Die Freiheit reizte mich und das Vermögen. War´s unrecht, an dem Gaukelbilde mich der königlichen Hoffnung zu ergötzen? Blieb in der Brust mir nicht der Wille frei, und sah ich nicht den guten Weg zur Seite, der mir die Rückkehr offen stets bewahrte?"

Wo sitzt die Freiheit, der freie Wille? Er sitzt in der Brust und im Genuss und Genügen an diesem freien Willen, den er in sich, in der Brust hat. Vermutet er und ging er davon aus, es bliebe ihm auch der Weg in der Wirklichkeit offen, "der mir die Rückkehr offen stets bewahrte?" "Wohin denn seh ich plötzlich mich geführt?" Der Täter entdeckt plötzlich, er war nicht der Handelnde, nicht der Planende, der konstruktiv Vorgehende, sondern er war der Geführte. Die Geschichte selbst, die Verkettung der Dinge, die losgelassene Entwicklung hat ihn geführt. "Bahnlos liegt´s hinter mir, und eine Mauer aus meinen eigenen Werken baut sich auf." Er selber hat die Mauer gebaut, durch die er von einem Ausweg abgeschnitten ist. Die Mauer, "die mir die Umkehr türmend hemmt! Strafbar erschein ich, und ich kann die Schuld, wie ich´s versuchen mag! nicht von mir wälzen."

Da ist plötzlich die Rede von Schuld, worin besteht die Schuld Wallensteins, wenn er nur den Gedanken, nur mit der Möglichkeit gespielt hat, nichts entschieden hat, nur zugelassen hat, wo ist die Schuld?

Jetzt kommt der entscheidende Satz: "Denn mich verklagt der Doppelsinn des Lebens, und - selbst der frommen Quelle reine Tat, wird der Verdacht, schlimmdeutend, mir vergiften. War ich, wofür ich gelte, der Verräter ... ."Wofür ich gelte, d.h. in der Geschichte der Beurteilung der Personen, der Ereignisse ist die entscheidende Kategorie die des Scheins, nicht dessen was einer ist, sondern als was er gilt, so wie in der antiken Tragödie auch.

Die Hülle hätt´ ich dicht um mich gezogen, dem Unmut Stimme nie geliehn. Der Unschuld, des unverführten Willens mir bewußt, gab ich der Laune Raum," er folgte einer Laune, "der Leidenschaft - kühn war das Wort, weil es die Tat nicht war."

Und im entscheidenden Abschnitt: "Jetzt werden sie, was planlos ist geschehn, weitsehend, planvoll mir zusammenknüpfen, und was der Zorn, und was der frohe Mut mich sprechen ließ im Überfluß des Herzens, zu künstlichem Gewebe mir vereinen und eine Klage furchtbar draus breiten, dagegen ich verstummen muß. So hab ich mit eignem Netz verderblich mich umstrickt, und nur Gewalttat kann es reißend lösen."

Einer der bekannten Schillerinterpreten sagt zum "Wallenstein" der Zufall sei die Notwendigkeit. Nein, das ist nicht Schiller. Nicht der Zufall als solcher ist die Notwendigkeit, sondern eine Mannigfaltigkeit von Zufällen, die durch den konstruierenden, re-konstruierenden Gedanken verknüpft werden und erst das Resultat der Deutung und Verknüpfung der Zufälle schafft dann die Notwendigkeit.

"Ernst ist der Anblick der Notwendigkeit. Nicht ohne Schauder greift des Menschen Hand in des Geschicks geheimnisvolle Urne. In meiner Brust war meine Tat noch mein: einmal entlassen aus dem sichern Winkel des Herzens, ihrem mütterlichen Boden, hinausgegeben in des Lebens Fremde, gehört sie jenen tück´schen Mächten an, die keines Menschen Kunst vertraulich macht."

Wie kann man da behaupten, dass Schiller ein gedanken- und phantasieverlorener Idealist gewesen ist? Er mag den Idealismus philosophisch gedacht haben, aber indem er in den Dramen seinen philosophisch gedachten Idealismus dem Realitätstest aussetzt, bricht dieser Idealismus angesichts der Realität der Geschichte in sich zusammen. Es ist ein Grundfehler in der Schillerinterpretation erst die Philosophie und dann die Dramen oder umgekehrt zu interpretieren. Sie interpretieren sich wechselseitig. Denn "nicht ohne Schauder", natürlich steckt das alte "aidos" der Griechen dahinter, die Scheu gesteigert in der Form des Schauders, "greift des Menschen Hand in des Geschicks geheimnisvolle Urne."

Das Bild von den Lebenslosen, die in der Urne liegen und hervorgezogen werden, taucht auf, "in meiner Brust war meine Tat noch mein: einmal entlassen aus dem sichern Winkel des Herzens, ihrem mütterlichen Boden, hinausgegeben in des Lebens Fremde, gehört sie jenen tück´schen Mächten an, die keines Menschen Kunst vertraulich macht." Das ist die Geburt der Notwendigkeit. Nicht die Rekonstruktion von Zufällen zu einem Zusammenhang, sondern die Genesis der Notwendigkeit, von der Schiller redet, der Notwendigkeit der Geschichte ist die, die die Freiheit sich selbst schafft. In dem Augenblick, in dem die Freiheit aus dem intelligiblen Kern der Person, der Brust, entlassen sich anschickt, sich zu verwirklichen, schlägt sie in Notwendigkeit um. Das wäre eine Aufgabe für Philosophen nachzudenken, was Schiller hier mit dieser aus der Freiheit selbst geborenen Notwendigkeit meint. "Einmal entlassen aus dem sichern Winkel des Herzens, ihrem mütterlichen Boden, hinausgegeben in des Lebens Fremde," d.h. der Eintritt in den Vollzug der Verwirklichung der Freiheit ist für Schiller identisch mit dem Eintritt in die Fremde, der Übergang und Übertritt des Menschen aus der Innerlichkeit, der Subjektivität hinaus in die Welt, ist nicht nur der Verlust dieser Freiheit, sondern der Eintritt in die Fremde. Da ist doch gar kein Zweifel, dass hier vom Christentum die Rede ist und ein durchgehendes Muster und Motiv christlichen Daseins und Lebens angesprochen wird. Die Welt als Fremde, als die, die wir durcheilen wie Pilger und die immer den Menschen ein Tal der Tränen gewesen ist. "Hinausgegeben in des Lebens Fremde." Und nun kommt der Satz: "Gehört sie jenen tück´schen Mächten an, ... ." Die draußen herrschenden Mächte nennt Schiller die tückischen und er bezeichnet sie ausdrücklich als die, "die keines Menschen Kunst vertraulich macht."

Das ist eine radikale Absage an jede Vorstellung, dass man Geschichte machen könnte. Geschichten können wir machen, aber Geschichte können wir nicht machen. Das ist nicht machbar, sondern da treten wir in den Vollzugs- und Herrschaftsbereich von größeren überlegenen Mächten, die tückisch sind und "die keines Menschen Kunst vertraulich macht. Und was ist dein Beginnen? Hast du dir´s auch redlich selbst bekannt? Du willst die Macht, die ruhig, sicher thronende erschüttern, die in verjährt geheiligtem Besitz, in der Gewohnheit festgegründet ruht, die an der Völker frommen Kinderglauben mit tausend zähen Wurzeln sich befestigt. Das wird kein Kampf der Kraft sein mit der Kraft, den fürcht ich nicht. Mit jedem Gegner wag ich´s, den ich kann sehen und ins Auge fassen, der, selbst voll Mut, auch mir den Mut entflammt. Ein unsichtbarer Feind ist´s, den ich fürchte, der in der Menschen Brust mir widersteht, durch feige Furcht allein mir fürchterlich ...".

Das, womit er in den Kampf tritt, sind keine klar konturierten hervorgetretenen Mächte, der Feind ist nicht sichtbar, das ist nicht der Kaiser, das sind möglicherweise nicht die Schweden oder wer immer, nein, da er die Legitimität umstürzen und durch eine andere ersetzen will, ist es ein unsichtbarer und d.h. ein geistiger Kampf. Die Wurzel der Geschichte in ihrem Zusammenhang mit der Legitimität ist ein geistiger Kampf und wenn ein Volk aus diesem geistigen Kampf ausscheidet, weil es zu dumm oder weil es zu faul geworden ist, wird es nur noch ein Opfer und Objekt der Geschichte sein.

"Nicht was lebendig, kraftvoll sich verkündigt, ist das gefährlich Furchtbare. Das ganz Gemeine ist´s, das ewig Gestrige, was immer war, und immer wiederkehrt, und morgen gilt, weil´s heute hat gegolten!" Das Gestrige, die Macht der Zeit, die zur Vergangenheit geronnene Zeit ist das durch kein menschliches Handeln, Wägen und Wollen zu schlagende und zu verrückende und in allen Revolutionen setzt sich entgegen allem Umsturz- und Veränderungswollen, das durch die Zeit Gewordene, das Gestrige letztlich durch.

Das sehen wir in Russland. Nach 70 Jahren Revolution ist das alte Russland, wenn auch schwer verwundet und angeschlagen, wieder da. Und wenn man auf dem Confederation-Cup zum ersten Mal wieder sieht, wie junge Deutsche das Deutschlandlied mit zitternden Lippen aber aus voller Brust herausschmettern, dann hat man plötzlich den Eindruck, dass auch hier Veränderungswahn und -sucht der Zeiten nicht die Spuren hinterlässt, die man sich gewünscht und gewollt hat.

"Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht, und die Gewohnheit nennt er seine Amme. Weh dem, der an den würdig alten Hausrat ihm rührt, das teure Erbstück seiner Ahnen! Das Jahr übt eine heiligende Kraft; was grau für Alter ist, das ist ihm göttlich. Sei im Besitze, und du wohnst im Recht, und heilig wird´s die Menge dir bewahren."

Das ist der Kommentar Schillers zu diesem Streit der Konservativen mit den Progressiven. Schillers Schluss aus dem Gang und der Erfahrung der Französischen Revolution war der, dass dieser Versuch gescheitert ist und wir müssen uns daran erinnern, wie Schiller selber an die Revolution geglaubt hat. Er glaubte in der Tat, dass der Naturstaat überwunden wird. Ein geistiges Reich wird errichtet. Der Mensch bekommt seine Rechte. Im Lied "An die Freude" sieht er die Millionen, die sich die Hände reichen, gemeinsam brüderlich und schwesterlich sich vereinigen, alle Gaben zu entfalten. Das ist der Traum Schillers und es war eine bittere und harte Erkenntnis, dass er sieht, dass dies alles wie das Oberwellengekräusel über den Strom der Geschichte hinweggeht und das Gewordene, das ewig Gestrige dem als stummer Fels entgegensteht.

Als das französische Revolutionregimes Schiller den berühmten Orden verlieh, und dieser ihn erreichte, war sein Kommentar: "Mich ekelt vor diesen erbärmlichen Henkersknechten." Das ist der Kommentar Schillers gewesen, den wir zu neuen Henkersknechten des 20. Jahrhunderts nicht in dieser Eindeutigkeit und Radikalität gehört haben.

Was ist die Essenz? Was hat Schiller in dieser Auseinandersetzung und Darstellung der Geschichte wieder an den Tag gefördert? Worin besteht die Aktualität, die uneingeholte Aktualität dieser Geschichtserfahrung? Um das zu erläutern, müssen wir uns noch einmal kurz vergegenwärtigen, dass der Grund- und Kernsatz des ganzen marxistischen Denkens ein Satz von Marx ist: "Das Rätsel der Geschichte ist gelöst."

Das 20. Jahrhundert ist die Probe aufs Exempel auf diesen paradigmatischen Satz gewesen. Die Aktualität, die brennende, nicht eingeholte Leistung Schillers ist eine Erkenntnis und zwar die Erkenntnis, dass das Rätsel der Geschichte ungelöst und unlösbar ist.

* Der vorliegenden Text wurde in freier Rede vorgetragen und zur Veröffentlichung formal überarbeitet.

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