11. Mai 2006

Günter Rohrmoser
Ist Europa noch zu retten?
Geschichte als Fundament *



Die Formulierung "Kann Europa überhaupt noch gerettet werden", entspricht der Dramatik und ist begründet. Vielleicht muss man sogar vorher noch fragen: Will Europa überhaupt gerettet werden? Gibt es eigentlich in Europa den Willen zur geistigen und kulturellen Selbstbehauptung? Über die Frage, ob der Wille und auch das Vermögen da ist, kann man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur Vermutungen anstellen, das heißt, das wird uns die Geschichte lehren. Das, was wir fragen können oder auch fragen sollten, ist: Soll Europa gerettet werden? Was liegt uns daran, dass Europa gerettet wird? Weil es vielleicht von einem natürlichen Selbsterhaltungsinstinkt weniger erleuchtet, sondern mehr gedrängt wird, oder gibt es ein über die Selbsterhaltung hinausgehendes allgemeines oder sogar universales Interesse? Wäre es nicht denkbar, dass es vielleicht sogar ein Interesse der Menschheit gibt, dass Europa nicht zugrunde geht und verschwindet? Das setzt eine Antwort auf eine im Grunde genommen nicht gestellte Frage voraus, was hinter dem steht, was mit zunehmender Sorge als die Krise empfunden wird, in der sich Europa befindet. Ein Grund für diese Krise ist, dass der Entwurf einer europäischen Verfassung von zwei wichtigen Völkern, dem französischen und dem niederländischen, zurückgewiesen wurde. Nun kann man fragen, ob der vorgelegte Entwurf eigentlich eine Verfassung ist. Ob das, was da zurückgewiesen worden ist, dem Begriff und den Aufgaben einer Verfassung genügt, oder ob das nicht eher eine Art Geschäftsgrundlage war, nach der die Kompetenzen neu und anders verteilt werden. Denn, wenn wir ein verfasstes Europa wollen, setzt eine solche Verfassung die Antwort auf die Frage voraus, wie sich Europa versteht, was Europa eigentlich ist und was es will. Also das, was wir die europäische Identität nennen. Nur wenn es eine solche Klärung und wenigstens den Ansatz einer Gemeinsamkeit in der Antwort auf diese Frage nach der Identität gibt, kann es überhaupt eine EU-Verfassung geben. Das Subjekt der Verfassung, Europa, muss ja um sich selber wissen und klar definieren können, für was es steht, was es will und was man von diesem so verfassten Europa erwarten kann. Der konkrete Anlass dafür, dass die Verfassung in den beiden Ländern zurückgewiesen wurde, ist, aus einer gewissen Distanz beurteilt, ein dramatischer Stimmungsumschwung. Mit welch einer Euphorie wurde doch die Gründung Europas aufgenommen, allen voran die Deutschen, die ihre Hoffnungen auf ihre eigene geschichtliche Zukunft an dieses Europa gebunden haben und wenn man die damalige Hochstimmung mit dem Jetzt vergleicht, dann ist diese Begeisterung eher dem Gefühl einer Bedrohung gewichen. Es ist den Bürgern unheimlich, was sich diese zentralistische Bürokratie, der offensichtlich bestimmte Voraussetzungen demokratischer Legitimation fehlen, alles ausdenkt. Ein gigantischer Apparat, der 60 Prozent aller Maßnahmen beschließt, die tief in unser Leben eingreifen und nicht erklärt, wohin, auf welches Ziel, auf welchen Zweck hin dieses Europa eigentlich entwickelt wird. Ist Europa etwa ein Produkt der zufällig und kontingent ablaufenden Geschichtsverläufe oder gibt es noch einen Willen, die Frage nach dem Ziel zu beantworten, so dass man sagen kann, was Europa denn ist. Ist Europa nur eine Wirtschaftseinheit, im schlimmsten Falle eine Handelsorganisation? Ein Staatenbund? Ein Bundesstaat? Es ist von allen diesen Elementen etwas, aber auf jeden Fall ein Gebilde "sui generis" für das eigentlich keine Kategorien und Begriffe zur Verfügung stehen, um es zu beschreiben.

Ein weiterer Grund, der uns in wachsendem Maße von einer Krise reden lässt, ist das, was sich in den letzten Wochen im Streit um die so genannten Karikaturen in Dänemark gezeigt hat. Inzwischen geht wie ein Raunen, offenbar unkorrigierbar und unaufhaltsam unter uns dieses Wort von dem "Kampf der Kulturen" um. Der Erfinder Huntington hatte diesen Begriff eingeführt, um davor zu warnen, keineswegs um ihn zu proklamieren. Und wir haben uns im Grunde darauf geeinigt, dass es diesen Kampf der Kulturen nicht gibt. Wir wollen ihn auch nicht, und tun deshalb alles, um ihn zu verhindern. Das große alternative Wort heißt "Dialog". Aber wenn wir uns mal überlegen, dass durch diese Reaktion - von wem immer inszeniert und gewollt - von dem Recht auf Pressefreiheit in Europa ein anderer Gebrauch gemacht werden wird, als das vorher der Fall gewesen ist, dann könnte man eines Tages dahin kommen festzustellen, dass es diesen islamischen Kräften gelungen ist, die Grenzen des Gebrauchs der Pressefreiheit in der westlichen Welt zu ziehen und die Anerkennung ihrer Prinzipien, ihrer Tabus und ihres nicht zu karikierenden Heiligen durchzusetzen. Wenn also dies der Fall sein sollte, und vieles spricht dafür, dass es so ist, wäre das natürlich kein Krieg und kein Kampf, aber doch ein eindeutiger Abschnitt in dieser großen, wahrscheinlich das ganze 21. Jahrhundert bestimmenden Auseinandersetzung mit dem Islam, in der Europa nicht mehr daran vorbeikommen wird, eine Antwort zu geben, was es ist und wofür es steht. Und wenn man diese Frage stellt, lautet die Antwort: Europa steht für Werte. Die europäische Gemeinschaft ist in ihrer kulturellen Grundlage eine Wertegemeinschaft. Und die geistige Konzeption, die Philosophie, die dieser europäischen Wertegemeinschaft zugrunde liegt, sei, so sagte der ehemalige Bundeskanzler Schröder, die Aufklärung. Also Werte sollen es sein. So wie auch der britische Außenminister am Tage der Aufnahme der Verhandlungen mit der Türkei gesagt hat, Europa gründet sich nicht auf Geschichte, sondern auf Werte. Es ist in der Tat eine echte Alternative, ob wir uns mit Werten definieren oder als unser Fundament die Geschichte einsetzen

Was würde es bedeuten, wenn sich Europa als Wertegemeinschaft versteht? Wo kommen die Werte her? Werte fallen nicht vom Himmel, Werte werden gewählt, Werte werden gesetzt und Werte müssen durchgesetzt werden. Und korrelativ auf jede Wertsetzung ist die Erklärung eines Unwertes bezogen. Setze ich einen Wert, setze ich implizit damit korrelativ auch einen Unwert. Und das heißt, ich muss, wenn ich mit Werten umgehe, diese Werte interpretieren. Das heißt, die geistige Substanz der Politik eines Europas, das sich als Wertegemeinschaft versteht, würde dann ein Interpretationskampf sein. Ein hermeneutischer, ein Interpretationskampf, so wie Nietzsche es vorausgesehen hat, dass von ihm aus gesehen im nächsten Jahrhundert die Politik sich in einer Art geistigem Krieg auflösen wird und es der Kampf philosophischer unterschiedlicher Konzeption und Interpretation sein wird, der sich dann durchsetzen wird. Ein semantischer, ein geistiger und ein intellektueller Kampf. Unsere bürgerliche Gesellschaft ist weit davon entfernt, das auch nur annähernd zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn sich darum zu bemühen, die Konsequenzen zu sehen, die sich daraus ergeben und ja auch durchgesetzt werden. Zu diesem Interpretationskampf, je nach der Interpretation, die sich durchgesetzt hat, kommt dann der reale Machtkampf hinzu. Der Kampf um die Macht zur Durchsetzung der präferierten und gesetzten Werte gegen abweichende, widersprechende, oder, durch den Wertbegriff impliziert, gegen Unwerte. Das heißt also, diese Inanspruchnahme des abstrakten Begriffs der Werte würde eher zum Gegenteil dessen führen, was wir brauchen, nämlich eine gemeinsame Verständigung Europas über seine Identität.

Und wo kommen die Werte her, wenn wir sagen, die Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität und die Gleichheit ist ein Wert. Indem wir diese als Wert bestimmen, ist über das, was wir unter Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und Solidarität verstehen, überhaupt nichts gesagt. Damit bleibt das, was zum Wert erklärt wird völlig unbegriffen. Die Quelle, der Ursprung, aus dem diese Werte heute als evident erscheinen, ist zweifellos die Geschichte. In diesen Wertpräferenzen, die auch unsere Verfassung konstituieren, ist letztlich die ganze europäische Geschichte geronnen. Nach der Geschichte als Fundament zu fragen, heißt nicht, nach etwas zu fragen, was vergangen ist, sondern was gegenwärtig ist. Wir leben praktisch aus der Geschichte, die gegenwärtig ist und wenn wir uns dieser Gegenwärtigkeit der Geschichte berauben würden, würden wir mit der Geschichte auch alle Fundamente verlieren, die sich der Geschichte verdanken und wir würden wie Sand in der Wüste von den Winden und Strömungen des wechselnden Zeitgeistes einmal in diese oder jene Richtung dahingetrieben.

Also ist die Frage berechtigt, ob die Aufklärung genügt, weil diese Antwort niemanden befriedigen kann. Europa ist nicht nur die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, Europa hat auch Anteil an der antiken Kultur und mehr als jedes andere Element, Kontinuität stiftend und erhaltend, am Christentum. Zu Europa gehört auch die Aufklärung, aber nicht nur und sie am wenigsten, wenn man sie als einzige geistige Grundlage absolut setzt, denn sie ist selber nur ein Ereignis in dieser mehr als 2000-jährigen Geschichte Europas. Wir fragen also nach der Gegenwart der Geschichte, nicht nach etwas, was einmal war und die Rolle eines Fundamentes für einen bestimmten Abschnitt unserer Kultur und Kulturgeschichte erfüllt hat. Ob wir es wissen oder nicht, die Geschichte als Gegenwart ist das Fundament, von dem wir leben, das wir zwar zerstören, aber nicht durch irgendeine Werterklärung ersetzen können. Das ist die entscheidende Herausforderung.

Nehmen wir das in den Blick, dann gibt es zwei große, die europäischen Völker und Nationen vereinigenden geistigen Mächte: Das Christentum und die Aufklärung. Alle anderen Traditionen, die an der Entstehung und Bildung Europas beteiligt sind, haben ihre bestimmte partikulare Bedeutung, aber diese grundlegende, alle europäischen Völker erfassende und bestimmende Kraft des Christentums, und seit dem 18. Jahrhundert mit Abstrichen auch der Aufklärung, dazu gibt es keine Parallele. Aber beide, auch das Christentum, sind selber ein Ereignis der Geschichte. Vielleicht müssen wir an diesem Ereignischarakter des Christentums sogar neu lernen, was überhaupt Geschichte ist. Wir fragen nur nach den Gesetzen der Geschichte und glauben dann aufgrund der erkannten Gesetzmäßigkeit geschichtlicher Abläufe, nach diesen gewonnenen Erkenntnissen die Geschichte selber machen zu können. Der Wahn, wir könnten Geschichte machen, ist ungebrochen in unserem Lande. Und nicht nur in unserem Lande, denn das ist bestimmt durch die Mentalität und das Geistesgut der Aufklärung. Aber was wir vom Christentum über das Wesen der Geschichte wissen können, ist, dass Geschichte Ereignis ist. Und jedes wahre und wirkliche geschichtliche Ereignis ist einzigartig und einmalig und kann mit nichts anderem verglichen oder unter Allgemeines subsumiert werden. In der ganzen kontingenten Faktizität und dem Ereignischarakter liegt die entscheidende Einsicht, die wir dem Christentum zu verdanken haben.

Aber vor dem Christentum gibt es die Antike, der auch einige Überlegungen zu widmen sind. Wann ist Europa entstanden? Welchen Vorgang können wir aus der Rückschau erkennen, der sich im Blick auf die daraus hervorgegangene und entwickelte Geschichte sich als eine Art Geburts- und Gründungsereignis Europas erwiesen hat? Dann kommen wir an der Philosophie und an den Vorsokratikern nicht vorbei und müssen feststellen, dass dieses Ereignis nicht mit einer Antwort, gar mit einer dogmatischen tradierbaren Lehre verbunden ist, sondern dass dieses Gründungs- und Stiftungsereignis damit verbunden ist, dass eine Frage gestellt wurde. Und zwar eine ganz neue Frage, die so vorher nicht gestellt wurde, die sich aber bis zum heutigen Tag stellt. Diese Frage, die am Anfang Europas gestellt wird, ist die Frage der so genannten ersten Philosophen, nach der Arche. Das heißt, die Frage nach dem Prinzip. Die Frage nach dem Ursprung, aus dem alles hervorgegangen ist, was ist, durch den alles besteht und in den hinein auch nach Entstehen und Bestehen alles vergeht und der sich im Wandel als das eine Bleibende durchhält. Das ist die Frage, aber was hat dies mit Europa zu tun? Warum ist das für Europa konstitutiv? Weil sich diese Frage ausstreckt nach dem Ganzen. Eine Frage, die nichts auslässt, sondern das Ganze in den Blick nimmt. So wie Aristoteles sagt: Ta panta. Und diese Eröffnung der Universalität des Ganzen und seinem Grund ist das faktische Stiftungsereignis der Vernunft, das mit der Freiheit zusammenfällt. Das heißt, dass alle Versuche, sich aus dem Ganzen einen Teil herauszuschneiden, oder einen Teil für das Ganze zu nehmen, wie das heute manchmal auch Wissenschaftler tun, oder Ideologen, die die interessenbedingte Auslegung als das Ganze nehmen, dies alles wird transzendiert in die universale Weite des Ganzen. Das ist wichtig, nicht die Antwort, die darauf gegeben wird. Die einen sagten Wasser, die anderen Luft und dann sind die Naturwissenschaftler hergekommen und sagen, da beginnt die Naturwissenschaft. Da beginnt die Naturwissenschaft nicht, denn der erste, Thales, der sagte, alles ist Wasser, sagt im nächsten Satz, alles ist voller Götter. Entscheidend ist, dass dieses ursprünglich Gründende von allem Physis, Natur, genannt wird. Natur ist das Gründende und alles in ihr Gegründete ist Natur. Damit ist der Horizont der Mythologie im Prinzip überschritten und eine ganz neue Dimension des menschlichen Denkens eröffnet. Auch wenn man Luft sagt, dann bedeutet das, dass das Begreifen und Verstehen des Ganzen sich nicht in abstrakte Allgemeinheiten, Setzungen oder Konstruktionen verliert, sondern zurückgebunden wird an das, was sich den Sinnen sinnfällig zeigt. Die zu begreifende Natur des Ganzen wird ausgelegt an dem sich im Einzelnen und als Einzelnes konkret Zeigenden. Europa besteht, wenn beides zusammenbleibt, der Blick auf die Universalität des Ganzen und die konkrete erfahrungsgesättigte Bindung an das Einzelne, so wie es sich von selbst her zeigt.

Der nächste große Schritt, durch den wir dem näher kommen, was Europa konstituiert und ausmacht, ist ein Ereignis, das wir häufig vergessen, dass nämlich die Griechen und nicht die Französische Revolution, das 19. oder 20. Jahrhundert, die Demokratie erfunden haben. Sie haben die erste große Erfahrung mit der Demokratie gemacht, und ich glaube, wir können eine Menge daraus lernen. Der Punkt, an dem die Philosophie sich von der Natur ab- und der Polis, dem Politischen zuwendet, ist die Erfahrung der Krise der Demokratie. Platon, der Gründer der abendländischen Tradition gibt die Antwort auf die Herausforderung durch die Krise der Demokratie. Woran ist Platon die Krise aufgegangen? Woran merkt man die Krise? Vor allem nicht daran, dass die zu verteilenden Güter nicht mehr im wünschenswerten Umfang zur Verfügung stehen. Das hat mit der Krise der Demokratie nichts zu tun. Das, was Platon herausfordert, ist, dass in Sokrates der beste Bürger der Stadt, in Verkennung dessen was er ist, hingerichtet worden ist. Das heißt, fundamental formuliert: Diese Demokratie gerät in die Krise, weil sie nicht mehr unterscheiden kann zwischen gut und schlecht und in völliger Verkennung und Verkehrung den Besten hinrichten und nicht mehr unter sich dulden kann. So wie Heraklit, der wie ein Blitz dieser Krisenerfahrung vorausgegangen ist, den Ephesern sagt: Gehet hin und hängt euch auf. Und übergebt euer Regiment den Kindern, denn ihr habt den Besten und den Tüchtigsten unter euch verbannt und gesagt, er möge woanders und bei anderen der Tüchtigste sein, aber nicht unter uns. Grund für Heraklits Rat ist eine Gesellschaft, die so weit ist, dass sie den Tüchtigsten oder den Tüchtigeren nicht mehr ertragen kann.

Platon untersucht diese Krise der Demokratie und stellt fest und das ist konstitutiv bis zum heutigen Tag, dass die Demokratie begründet wird durch Freiheit. Die Demokratie gibt und ermöglicht Freiheit. Platon meint aber, dass das Schicksal der Demokratie davon abhängt, wie sie sich auf Freiheit versteht. Nicht nur einfach Freiheit, Freiheit sagt, sondern, was sie unter Freiheit versteht und wie sie Freiheit versteht. Und das Verständnis von Freiheit, das, wie Platon meint, ruinös ist für die Demokratie, ist das Verständnis der Freiheit als Beliebigkeit. Schlicht ausgedrückt, dass zwar jeder tun und lassen und leben kann, wie er will, aber, wenn sich dieser Gebrauch von Freiheit ausbreitet, seltsame Veränderungen in der Polis vorgehen. Dann beginnen die Lehrer ihre Schüler nachzuahmen, sie nehmen grillige und groteske Verhaltensweisen an. Sie buhlen um den Beifall ihrer Schüler, um sich kraft ihrer Modernität und Jugendlichkeit einzuschmeicheln. Es ist die Wendung der Söhne gegen den Vater. Aristophanes stellt dar, wie einer kommt und sich bei ihm beklagt, dass der Sohn ihm ins Gesicht geschlagen hätte, und dann hören muss, das kannst du nicht begreifen, du bist nicht modern genug, um zu verstehen, wie fortschrittlich eine Jugend ist, die ihren Vätern ins Gesicht schlägt. Das versteht Platon unter dem Verfall der Freiheit in Beliebigkeit.

Wenn dies unter Freiheit verstanden wird, sagt Platon, dann ist mit diesem Verständnis von Freiheit keine Verfassung vereinbar. Denn jede Verfasstheit, sei es des Einzelnen oder der Polis, setzt eine Grenze für die Freiheit. Soll aber die Freiheit beliebig sein, ist sie mit keiner Verfasstheit mehr vereinbar, und in dieser Polis ist dann alles möglich. So sieht Platon, dass sich mit diesem Freiheitsverständnis die Anarchie ausbreitet und als Rettung aus dieser Anarchie die Tyrannei geboren wird. Es gibt einen Zeitpunkt, an dem die Menschen diesen anarchischen Zustand nicht mehr ertragen können. Vielleicht können die Deutschen ihn noch weniger auf die Dauer ertragen als andere, die Italiener sind sicher glücklicher veranlagt im Umgang mit anarchischen Zuständen als wir. Aber einmal ist damit Schluss und es taucht der Ruf nach dem "starken Mann" auf.

Und wie wirkt sich diese Krise der Demokratie auf die Politik und die von der Politik erwartete Führung und Steuerung der Polis aus? Da gibt es ein Bild bei Platon. Eine solche Polis ist mit einem Schiff zu vergleichen, das sich auf dem dunklen Meer bewegt, dessen Mannschaft aufbegehrt, den Kapitän an den Mast fesselt, feiert, das Gegenwärtige verzehrt und verprasst, unbekümmert um die Zukunft. Und Platon fährt fort: So treibt das Schiff nun kompass- und steuerlos auf einem dunklen Meer dahin.

Platon hat sich der Aufgabe gestellt zu ergründen, wie eine wohl eingerichtete Polis gedacht werden muss und wovon ihr Bestand und Überleben abhängt. Um die Antwort vorweg zu nehmen, sie lautet, dass alle menschlichen Gemeinschaften, und damit auch die politische, keinen Bestand haben, wenn sie nicht von einem Ethos getragen und belebt werden, das ihnen erst die Substanz gibt, in der sie bestehen können. Das Ethos. So, wie Heraklit auch hier vorausgehend, und das ist ein großer Augenblick in der Geschichte Europas, sich von der Polis trennt und als der Einzelne, der Dunkle sagt: der Zustand der Polis ist, dass die Menschen, die vom Logos und durch ihn leben, statt ihn zu vollziehen, diesem sie ermöglichenden Logos abgewandt sind und nicht auf ihn hören. Sie hören nicht auf den Logos und sind damit wie Schlafende, denn sie wenden sich ihrem Eigenen zu, so wie nur der Schlafende im Traume eine eigene Welt hat. Und abgekehrt vom Logos sehen sie nicht, was der Boden ist, von dem alle Gesetze leben. Das heißt, von Heraklit an ist bloßer Gesetzesgehorsam oder Regelbefolgung, unter die wir heute alles subsumieren, ganz gleich was es ist, eine Fata Morgana. Die Gesetze bekommen ihre Einsichtigkeit und ihre Kraft aus dem Logos, der allen Bürgern gemeinsam ist. Das heißt, Heraklit sieht, dass in der Abwendung vom Logos, im Verlust der Fähigkeit auf den Logos, auf das Wort zu hören, sich die Polis selbst zerstört.

Was ist nun die Antwort Platons? Nur zwei Punkte zum Beweis, dass nicht von vergangenen Dingen die Rede ist. Die eine Antwort Platons ist die Entdeckung der fundamentalen Einheit von Freiheit und Gerechtigkeit. Platon sagt, dass in der Ethik, so wie Sokrates sie entdeckt hat, etwas entdeckt wird, was es so in der Geschichte noch nicht gegeben hat. Hegel nennt das: Der Geist wendet sich auf sich selbst in seine eigene Tiefe. Das heißt, in der Ethik ist die Seele, also das was das Seinkönnen des Menschen ausmacht, nicht auf Dinge gerichtet, auf deren Herstellung, Gebrauch oder Verzehr, sondern sie ist auf sich selbst gerichtet. Die Seele muss sich als Ergebnis eines auf sich selbst gerichteten Freiheitsvollzuges erst in die Einheit bringen, die dann Gerechtigkeit genannt wird. Ursprung der Gerechtigkeit ist nicht das Einrichten gerechter Institutionen, oder wie wir Gerechtigkeit heute als Verteilungsgerechtigkeit diskutieren. Das ist auch alles Gerechtigkeit, aber es ist nicht der Entstehungsort. Der Ort, an dem die Qualität der Gerechtigkeit entschieden wird, liegt bei dem Einzelnen und dem Freiheitsvollzug, von dem er Gebrauch macht oder nicht. Erst durch Gerechtigkeit kommt nicht nur in die Seele Einheit, sondern auch in die Polis.

Platon meint, das was der Mensch an Tauglichkeiten, an Tüchtigkeiten braucht, um sich selbst als Person zu gewinnen und die Polis herzustellen und zu bewahren, das sind Tugenden. Als erste Tugend nannte Platon die Sophrosyne, das heißt, das Ausgegossensein der Besonnenheit auf alle. Es gibt bei Platon durchaus Tugenden, die nicht alle besitzen müssen. Aber wenn eine Polis gedeihen soll, dann müssen alle an der Besonnenheit Anteil haben. Besonnen sein heißt, zu wissen, wem es in welchen Angelegenheiten zukommt, zu befehlen und wem es zukommt, zu gehorchen. Wenn diese Besonnenheit und Einsicht wegfällt, kann die Polis nicht bestehen.

Und zweitens nennt Platon die Andreia, die Tapferkeit, weil er der Meinung war, dass keine Polis und Demokratie bestehen kann, ohne die Tugend der Tapferkeit. Und was heißt heute tapfer sein? Nicht das, was gestern und vorgestern noch tapfer war, sondern tapfer sein heißt heute, dem Zeitgeist widerstehen zu können. Den anonymen, unkontrollierten und unausgewiesenen Einflüsterungen des Zeitgeistes Stand halten zu können und ihm zu widersprechen, erfordert heute geradezu ein heldenmütiges Ausmaß an Tapferkeit.

Und drittens nennt Platon die Sophia, die Weisheit. Sie ist eine Fähigkeit, die vorwiegend von den Politikern verlangt wird, damit sie die Gesetze und Entwicklungen, durch die eine Polis entsteht, gedeiht und verfällt, verstehen. Sokrates beklagte sich über die Söhne des Perikles und stellt fest, dass Vater Perikles bei seinen Söhnen versagt hat, weil er nicht fähig war, ihnen die Sophia, die Weisheit zu vermitteln, die er als Grundlage der Polis verkündet hat.

Und diese drei Tugenden, Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit, zu einer Einheit und in Harmonie gebracht, das ist die Tugend der Gerechtigkeit. Also lebt Gerechtigkeit von der Dynamik des Selbstvollzugs der Seele.

Dann steht als letzte und entscheidende Frage an, welche Gerechtigkeit gut ist und welche nicht. Denn Augustin hat gesagt, auch eine Räuberbande sei auf Gerechtigkeit angewiesen, weil sie ohne Gerechtigkeit zerfallen würde. Das heißt, die bloße Tauglichkeit zu Gerechtigkeit genügt nicht, wenn sie nicht auf das Telos des Guten gerichtet ist. Man muss also wissen, und das ist der Europa konstituierende revolutionäre Vorgang, der auch im Christentum enthalten ist, was das Gute selbst ist. Nicht nur gut in dieser oder jener Hinsicht, sondern was an sich das Gute ist, Platon nennt es Idea, die Idee des Guten selber, transzendent, wir können auch Gott sagen.

Und das hat natürlich Konsequenzen für das Christentum gehabt. Was bedeutet der Eintritt Gottes in diese Welt, wie das Christentum es verkündet hat, nicht nur für die europäische Geschichte, sondern wie Hegel meinte für die Weltgeschichte überhaupt? Der zentrale Satz von Hegels ganzer Philosophie lautet: Das Erscheinen Gottes in dieser Geschichte ist der Dreh- und Angelpunkt, um den das Ganze der Geschichte schwingt. Alle Geschichte ist eine Geschichte auf dieses Ereignis hin und alle Geschichte ist eine Geschichte von diesem Ereignis her. Worin aber liegt das noch über die Griechen Hinausweisende dieses Eingriffs des handelnden Gottes in die Geschichte? Es bedeutet, dass der Mensch in seiner Subjektivität und Endlichkeit zu einem Moment des Lebens Gottes geworden ist, wie es Hegel ausgedrückt hat. Das heißt, Kraft der Teilnahme am trinitarisch gedeuteten verfassten Leben des Absoluten bekommt jeder Mensch ein absolutes Recht, Kraft dieser Teilhabe am Absoluten auch frei zu sein.

Und wovon befreit das Christentum? Man schämt sich ja fast, als Philosoph sagen zu müssen, dass die Frage aller Religionen und damit auch des Christentums eine Frage von Leben und Tod ist. Das Christentum ist keine Humanitätsreligion, keine Moralreligion, keine Sozialreligion und auch keine revolutionäre Befreiungsreligion, sondern es ist das ungeheure faktisch werdende Ereignis, wie es im Leben, Sterben und der Auferstehung des Sohnes geschieht, dass der Tod selber getötet wird. Tod des Todes. Das heißt, das Eintreten in diese Freiheit bedeutet Teilhabe an dem, was überhaupt verdient, Leben genannt zu werden. Das Neue Testament nennt diesen Jesus einen Anfänger des Lebens. Das Christentum bringt wahres Leben, es holt den Menschen aus der Selbstfesselung und Eingekrümmtheit in sich selbst und der Verschlossenheit gegenüber seiner Welt heraus und macht ihn frei für die Welt. Denn das Ziel des Handelns der Liebe Gottes ist nicht das Seelenheil, sondern die Welt. "Also hat Gott die Welt geliebt." Es geht ihm um die Welt, und damit ist das Christentum in der Welt der Religionen selber eine Revolution. Luther hat gesagt, alle anderen Religionen stehen unter dem Gesetz. Das heißt, der Heilsgewinn ist das Ergebnis von Leistungen und Anstrengungen, die auf seinen Erwerb gerichtet sind. Und dies wird im Christentum umgekehrt. Die Freiheit, von der die Rede ist, ist die Teilhabe an diesem Leben schaffenden Handeln Gottes, ohne Erfüllung des Gesetzes. Umsonst, wie Paulus gesagt hat. Und aus dieser Freiheit heraus, wendet sich der Mensch im Christentum um, und richtet sich auf die Welt, und die Bewahrung und Verantwortung der Welt als Schöpfung Gottes wird der entscheidende geschichtliche Auftrag des Christentums. Es ist keine Jenseits- oder Transzendenz-Religion, die sich unterscheidet von der Immanenz. Das Entscheidende ist die Deszendenz, das Eintreten Gottes, der es für keinen Raub gehalten hat, Mensch und menschengleich zu werden und damit den Menschen befreit, der die Welt gewinnt. Die Rechtfertigung bedeutet, die Sperren werden beseitigt und der Christ bekommt Handlungsvollmacht für die Welt, und nicht für dieses merkwürdige Eingekrümmtsein unserer Gesellschaft in der Sorge um den morgigen Tag, die fast handlungs- und entscheidungsunfähig macht. Diese Sperre wird beseitigt, man bekommt Handlungsvollmacht, so wie es heißt: "Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?" Was wir brauchen, ist, dass etwas von diesem weltüberwindenden, kämpferischen Geist wieder in unser erlahmtes Christentum zurückkehrt. Wer kann das sagen? Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Nehmen Sie Luther, den tapferen Ritter, der nicht ruht, "und wenn die Welt voll Teufel wär", er reitet durch.

Diese Knochenerweichung des heutigen Christentums, mit ihrem Geschwätz und Schwachsinn ist das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann, dass diese Religion einmal als Geschwätz enden soll. Nicht dies, sondern Handlungsvollmacht, Durchbruch zur Welt, zur Weltbewältigung, Bewahrung der Welt, Kooperator, Mitarbeiter, Mitwirker Gottes an der Vollendung seiner Schöpfung und seiner Welt zu sein. Das hat die Dynamik entbunden, mit der Europa wie keine Kultur zuvor über sich hinausgegriffen und heute mit seinen Produkten von Wissenschaft und Technik die Einheit der Welt hergestellt hat, auch wenn Europa verschwinden sollte. Die geeinte Welt wird europäisch durch die europäischen Ergebnisse sein, oder es wird sie überhaupt nicht geben.

In dieser Entfesselung liegt natürlich auch viel Leichtsinn, wenn die Christen sagen, lass die Toten die Toten begraben, Traditionen umstürzen und wegwerfen, die Protestanten immer vorneweg. Es gibt keinen revolutionären Umzug, an dem nicht ein Pfarrer an der Spitze marschiert. Das ist ja nicht zufällig, sondern das entspringt dieser Freisetzung und Dynamik, die von hier ausgegangen ist. Aber das bedeutet natürlich auch, dass damit die Geschichte selbst ein anderes Gesicht annimmt.

Und das will ich kurz bei Augustin entwickeln. Augustin, der Vater des Abendlandes genannt wird, hat das Abendland als ein christliches erst ermöglicht, weil er einer Gefahr entgegengetreten ist und sie überwunden hat. Nämlich die tödliche Gefahr für das Christentum durch die Gnosis, was heißt, dass die Einheit Gottes auseinander gerissen wird in den Schöpfer- und den Erlöser-Gott. Der Schöpfer-Gott, der dieses Weltgefängnis, in das wir eingesperrt sind, geschaffen hat und der Erlöser-Gott, der uns aus dieser Welt herausrettet und in das Lichtreich empor führt. Das Auseinanderbrechen von Schöpfung und Erlösung. Wenn sich das durchgesetzt hätte, hätte es kein Europa und kein christliches Abendland geben können. Und Augustin hat davor gerettet, indem er die von Platon entdeckte Wahrheit in die Auslegung des Christentums hineingeholt hat. Mit der griechischen Metaphysik hat er das junge Christentum aus einer tödlichen Gefährdung gerettet, weil mit dieser Philosophie die Einheit Gottes und der Logos-Charakter seines Wortes Logos sarx egeneto bewahrt wird. Wenn man das im Neuen Testament liest, wird nicht mit offenbart, was Logos ist. Es wird offenbar vorausgesetzt, dass man weiß, was Logos ist und den Logos-Charakter kennt. Die Bewahrung der Einheit des handelnden Gottes im Alten und Neuen Testament, ist das Ergebnis der Rezeption des antiken Höhepunktes der Philosophie bei Platon. Alle, die immer wieder versuchen, antike und christliche Tradition gegeneinander auszuspielen, irren sich. Dass die Antike sich fortgezeugt hat bis in unsere Gegenwart hinein, wäre ohne dieses Hereinholen der antiken Philosophie in den christlichen Traditionszusammenhang überhaupt nicht möglich gewesen.

Der gleiche Augustin bestimmt genus humanum als das eine universale Subjekt aller Geschichte, die menschliche Gattung als sich in der Folge der Generationen fortzeugende Geschlechter. Generationenfolge ist was anderes als der abstrakte Gattungsbegriff. Aber es ist die Menschheit, der Mensch als Mensch in seiner Universalität, die das Subjekt der Geschichte nach Augustin ist. Die Universalisierung, deren Prozesse mit ihren dramatischen Auswirkungen wir gegenwärtig erleben, ist doch keine Erfindung der Aufklärung. Es ist doch falsch zu sagen, dass wir bis zum 18. Jahrhundert warten mussten, bis dieser universale Menschheitsgedanke gefunden wurde. Er fällt bei Augustin mit dem Anfang der christlichen Geschichte zusammen und ist ein immanentes Ergebnis und Produkt dieser Geschichte. Wir wissen, dass die Geschichte Europas eine Folge von Krisen und Antworten auf Krisen ist. Dass die antike Welt in ihrem Verfall gleichzeitig einen neuen und anderen Geschichtsäon entbunden hat, wäre nicht möglich gewesen, wenn die Verkündigung von der Auferstehung und vom ewigen Leben nicht die verfallende dekadente Welt der Antike getroffen und erreicht hätte. Was hören wir heute noch von der Auferweckung? Paulus sagt, wer das nicht glaubt, soll essen und trinken, denn morgen werden wir tot sein. Wir folgen in der Tat dem Rat des Paulus, wir essen und trinken und werden morgen tot sein. Das heißt, die ganze Kraft des Christentums hängt an diesem Auferstehungsglauben, der eigentlich das, was wir dann Mittelalter nennen, erst möglich gemacht hat, bis auch diese mittelalterliche Einheitswelt christlicher Kultur an ihr Ende kam. Wenn wir unsere Zeit mit der des ausgehenden Mittelalters und der verfallenden Antike vergleichen, dann ergreift einen ein beklemmender Eindruck, denn es gibt eine überraschend große Zahl von Phänomenen, die in beiden Zerfalls- und Verfallsprozessen übereinstimmen. Dieser heutige Verfall ist nicht der erste mit dem Europa konfrontiert wurde, aber die Antworten, die aus dieser Krisenerfahrung heraus geboren und gegeben wurden, haben dazu geführt, dass es weiterging. Das was bei Luther völlig einmalig ist, ist, dass dieser Mann nicht aus der Tiefe seiner Subjektivität, sondern durch eine Erkenntnis, um die er wochenlang gerungen hat, eine Antwort auf eine fundamentale Frage gesucht hat, von der auch die Beantwortung aller anderen Fragen abhängt. Und das, was Luther entdeckt, ist, dass der Gerechte aus dem Glauben leben wird, und dass der, der dieses Glaubens gewiss und inne ist, mit der Gnade Gottes rechnen kann.

Luther hat sich doch nicht von der Vernunft abgewandt. Luther hat zwar von der Hure Vernunft gesprochen. Aber in welchem Belang? Er hat der Vernunft nur die Kapazität zur Erkenntnis Gottes abgesprochen. Und zwar nicht in dem Sinne, wie wir heute von Gott reden, als einem allmächtigen Wesen, das dunkel und machtvoll hinter allem steht und waltet, sondern dass Vernunft nicht fähig ist, die Frage zu beantworten, wie denn dieser Gott in Bezug auf uns gesinnet sei. Diese Frage kann keine Vernunft beantworten. Im Übrigen war Luther der Meinung, dass die Christen bei den Griechen in die Schule gehen sollen. Ökonomicis und Politicis sollen sie bei Platon, Aristoteles und Cicero lernen, denn die Heiden seien in den Dingen dieser Welt klüger als die Christen.

Auch Melanchthon hat in jedem Semester eine Vorlesung über die Bibel und eine über Antike, Ethik, Ökonomie und Philosophie gehalten. Dass diese Symbiose zwischen Christentum und Antike durch die Reformation abbricht, ist einfach nicht wahr. Wieso hätte denn Luther sonst auf dem Reichstag zu Worms verkünden können, dass er nur bereit sei zurückzunehmen, wenn er widerlegt wird in seinem Gewissen, durch die Worte der Schrift und durch die Vernunft. Das ist das Konstitutionsereignis der ganzen neuzeitlichen Welt, und es ist eigentlich ein Jammer, dass keiner das klarer gesehen und ausgesprochen hat als Karl Marx, der gesagt hat, in der proletarischen Revolution geht es um die vollendende Verwirklichung der Freiheit, die von Luther errungen und begonnen wurde. Das heißt, Karl Marx hat die ganze Kontinuität der Neuzeitgeschichte resultieren sehen aus dem bei Luther gewonnenen Verständnis von Freiheit, der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Und Paulus sagt, dass die Natur harret und seufzet und wartet auf die herrliche Freiheit der Kinder Gottes. Der Christ ist nicht nur ein Herr aller Dinge und niemandes Untertan, sondern er ist auch ein Knecht aller Dinge und jedermanns Untertan.

Das ist Preußen, diese Verbindung von Rationalismus und Pietismus, in der der Freiheitsgedanke eine enge Verbindung mit dem Dienstgedanken eingeht. Man muss sich das mal überlegen, diese "Streusandbüchse des heiligen römischen Reiches deutscher Nationen", Preußen, diese paar Sandhaufen da in Brandenburg und was aus diesem Preußen sozusagen contra factum gegen alle Faktizität geworden ist? Eine der, neben der katholischen Kirche, herrlichsten Schöpfungen der Vernunftphilosophie, die man sich vorstellen kann, kraft dieser Einheit von Freiheit und Dienst. Kann man denn im Ernst glauben, dass wir noch eine Zukunft haben, wenn wir nicht diesen Gedanken in seiner ganzen christlichen Bedingtheit und Substanz wieder erfassen?

Auch die Aufklärung steht auf diesem Boden und mit der Französischen Revolution kommt es zu der unsere Gegenwart bestimmenden Krise, auf die seit 200 Jahren noch keine Antwort gefunden wurde. Der erste Philosoph, der dieses Problem gesehen und ausgetragen hat, ist kein geringerer als Hegel. Vor einigen Jahren kam ein chinesischer Philosoph aus Peking und wollte ein Gespräch über Hegel führen, denn sie übersetzen an der Pekinger Akademie der Sozialwissenschaft Hegel´s Phänomenologie des Geistes. Was treibt einen chinesischen Philosophen nach Deutschland? Nicht um an den Sozialkassen zu partizipieren, sondern um an Hegel Anteil zu gewinnen. Und was war sein Problem? Dieser Chinese sah, dass China nur überleben kann, wenn es einen Ausgleich zwischen den modernen Prozessen und seiner Tradition und der in ihr bewahrten Substanz findet. Und heute vertritt eine Gruppe um einen chinesischen Philosophen den Gedanken, dass der Konfuzianismus in China zur Staatsreligion erhoben werden soll. Aber wir sehen immer nur, wie die Chinesen inzwischen die Produkte billiger herstellen, die sie bei uns abgekupfert haben, was wir selber ermöglicht haben. Wir haben ihnen alles auf dem silbernen Tablett geliefert, und dass sie das nun zu ihren Gunsten nachmachen, beweist nur, dass sie nicht blöd sind.

Aber entscheidend ist das Problem des Ausgleichs zwischen der Substanz, die in der Tradition bewahrt wird, und der Moderne. Mit der Französischen Revolution nimmt der Geist eine Wendung, indem er sich von seiner Herkunftsgeschichte einer in 2000 Jahren gewonnenen Kultur und Gestalt des Geistes löst und befreit. Man bricht die Kontinuität der Geschichte ab, setzt sich dem Alten und Gewordenen diskontinuierlich entgegen und versucht in der Trennung von dem, was 2000 Jahre in Europa geworden ist, die Vollendung der modernen Gesellschaft aus sich selbst. Hegel sieht zwar die Notwendigkeit, die hinter dem Ausbruch dieser Revolution steht, verkündet aber dann: Das, was hier geschieht, hat die Welt noch nicht gesehen, dass sich der Geist auf den Kopf stellt, um aus dem Kopf heraus eine nach der Vernunft des Kopfes konstruierte Welt hervorzubringen. An diesem Punkt erinnert Hegel an den Satz des Anaxagoras, dass der Nous, die Vernunft, die Welt und das Ganze regiert. Hegel sieht nicht den Bruch, das Heraustreten aus den Traditionen, sondern er sieht die Kontinuität, das heißt, dass in der modernen Welt etwas zum Vollzug kommt und zur Verwirklichung, was in dieser antik-christlichen Geschichte des Geistes seit über 2000 Jahren seinen Grund hat. Aber warum hat Hegel die Französische Revolution trotzdem bejaht? Weil in ihr die Freiheit des Einzelnen zu dem Rechtsprinzip wird, das den Rechtsstaat ausmacht. Was es in keiner Kultur bisher gegeben hat, was auch heute kaum eine andere Kultur versteht, ist, dass der Einzelne ein Recht auf Freiheit hat, und dass das Recht die Verwirklichungs- und Bewahrungsform dieser Freiheit ist. Um dieses Rechtsstaates willen hat Hegel die Notwendigkeit der Revolution bejaht.

Er hat aber noch etwas anderes gesehen. Er hat gesehen, dass dem Freiheitsverständnis dieser Revolution etwas zugrunde liegt, was den Terror zur Konsequenz haben wird. Wann tritt der Terror ein? Wenn alle in der rechten republikanischen Gesinnung sein sollen und die republikanische Tugend herrschen soll. Wenn die aber herrschen soll, dann gibt es nur noch die Unterscheidung zwischen denen, die das Glück haben, in der rechten geforderten Gesinnung zu sein und denen, die das Pech haben, nicht in ihr zu sein. Hegel überschreibt das Kapitel "Die absolute Freiheit und der Schrecken". Dann herrschen Misstrauen und Verdacht und das Leben des Einzelnen sei dann nicht mehr wert als das Abschlagen eines Kohlhauptes, oder das Austrinken eines Glases Wasser. Der Freiheitsbegriff - da taucht das platonische Problem wieder auf - setzt sich absolut und ist formal und entbehrt jeden Inhalts, jeder Substanz und ist damit unfähig die Ordnungen und Institutionen der Freiheit zu stabilisieren. Was Marx die permanente Revolution genannt hat, die uns nicht zur Ruhe kommen lässt, weil ein revolutionärer Schub den anderen wie Wellen auf dem Meere ablöst, diese ständige Sorge um Stabilität, die von Tag zu Tag drängender wird, sagt Hegel, ist eine notwendige Konsequenz dieses sich absolut setzenden Begriffs von Freiheit, der zwar absolut, aber leer ist.

Hegel sieht die Notwendigkeit dieses, die Moderne tragende und vorwärts treibende Prinzip der Freiheit mit der Substanz der Herkunft zu versöhnen, weil nämlich der Grund auch dieser Freiheit die im Glauben des Christentums gewonnene Freiheit im Verhältnis zu Gott ist. Das ist der Grund in seiner Tiefe. Das heißt, diese moderne Welt wird zu einer Bewährungsform und Herausforderung dessen, was diese Welt mit dem Christentum und seiner substanziellen Bestimmung von Freiheit teilt. Es geht um die Freiheit! Und Hegel sieht, dass die Aufklärung in ihrer alle Gestalten und Traditionen des Geistes auflösenden Kritik sich am Ende selbst zerstören wird. Das heißt, Hegel hat die Substanz des Christentums als Bewahrungs- und Erneuerungskraft herbeigerufen, nicht als Gegenkraft gegen die Moderne, sondern zur Bewahrung ihrer besten Resultate.

Was für eine Zeit würde anbrechen, wenn wir endlich damit beginnen würden, statt uns Schlagwörter an den Kopf zu werfen, uns der wirklichen Natur der Probleme und Herausforderungen zuzuwenden und um eine Antwort darauf zu ringen. Das Fernsehen wird das aber unmöglich machen, und uns eher in die Idiotie treiben, als zur Lösung dieses für uns existenziellen Problems beitragen. In der Gegenwart tritt das von Hegel für den Fall Prognostizierte ein, dass die Aufklärung "tabula rasa" macht und jede Sittlichkeit auflöst. Wirklich wird das, was Hegel im Blick auf die moderne Gesellschaft als den Atheismus der sittlichen Welt bestimmt hat, die in ihre Extreme aufgelöste Einheit des Sittlichen.

Und da kommt dieser ehemalige Bundeskanzler daher und will auf diesem morbiden Boden einer in sich zutiefst problematischen, brüchigen Aufklärung Europa begründen. Selbst Herr Habermas, der Hohepriester der Aufklärung, erklärt, dass die normative Substanz der Moderne erschüttert sei. Das heißt., die Moderne verfügt nicht mehr über die Normativität, sich selbst noch zu beurteilen, geschweige denn, retten zu können. Habermas diagnostiziert eine Pathologie, durch die die Sensibilität für falsches Leben verloren geht. Wir können nicht mehr unterscheiden, was gutes und schlechtes Leben ist. Wir haben die Unterscheidung zwischen Gut und Böse ersetzt durch die Unterscheidung modern und nicht modern. Das ist der Abgrund. Was heißt denn schon modern? Wenn es modern ist, 6 bis 8 Millionen Kinder im Mutterleibe zu töten, bin ich stolz darauf, nicht modern zu sein. Wo soll man denn dann noch den Stolz auf die Moderne hernehmen. Das wichtigste Instrument der Manipulation ist, dass die Leute betört und verführt werden, indem Beliebiges mit dem Adjektiv "modern" versehen wird.

Dann tritt das ein, was Bischof Huber meint, wenn er sagt, wir müssen die Selbstsäkularisierung unserer Kirche beenden, und bekennt, er habe selbst dazu beigetragen und wollte das korrigieren. Das heißt, wir stehen in dieser Krise vor einer Aufgabe, die Europa seine ganze Geschichte hindurch begleitet und immer wieder in Krisen gestürzt hat, bis Antworten gefunden worden sind, nämlich eine Versöhnung, ein Ausgleich zwischen dem universalen abstrakten Anspruch der Moderne und der Substanz, aus der die geschichtlichen Völker und ihre Kulturen gelebt haben. Das ist kein neues Problem. Das ist das Anfangs- und Grundproblem Europas und ist es immer geblieben.

Das macht auch den Konflikt zwischen der moslemischen und unserer Welt aus, denn die Muslime sind entschlossen, mit allen Mitteln ihre Tradition gegen die Moderne zu verteidigen. Und wir sind dabei, blind alles zu zerstören um Willen eines noch größeren Maßes an Modernität. Einseitig sind beide. Wir brauchen die Wiederentdeckung des Fundamentes, von dem gesagt wird, es ist ein Grund gelegt, den niemand umstürzen und einen anderen legen kann. Wir müssen Stand fassen und ein Fundament finden, um aus der erneuernden Kraft des Geistes, der uns begleitet, die Herausforderung der Moderne zu bestehen. Und die islamische Welt muss die Formen ihrer Tradition ohne Verlust der Substanz überwinden und fähig werden, ein Friedenspartner in der Welt von morgen zu werden und uns nicht mit Terror und einem dritten Weltkrieg bedrohen. Das ist die Aufgabe, die gestellt ist.

Dieses alles ist mir anlässlich der Lektüre der Brüder Karamasov von Dostojewski aufgegangen. Da verabschiedet sich nämlich Iwan, der Intellektuelle und Atheist von seinem jüngeren Bruder und sagt, er sei entschlossen, in 10 Jahren Schluss zu machen. Dann gebe er das Eintrittsbillett in die Welt zurück und mache Schluss, sagt dann aber: Ehe ich Schluss mache, reise ich noch einmal nach Europa, dem Friedhof, auf dem die großen Toten ruhen.

Diese großen Toten müssen wir wieder zum Leben erwecken im Namen dessen, von dem gesagt wird, dass er das Sein aus dem Nichts und das Leben aus dem Tode ruft. Sonst werden wir vielleicht kein Friedhof, aber eine Touristenattraktion für uns überlebende Chinesen, die in einigen Jahrzehnten vielleicht die Denkmäler unserer Städte bewundern und bestaunen werden.

* Der vorliegenden Text wurde in freier Rede vorgetragen und zur Veröffentlichung formal überarbeitet.

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