21. Januar 2007

Günter Rohrmoser
Ist der 9. November 1923 ein weltpolitisches Datum? *


In einer der zahlreichen Talkrunden, die wie Niagarafälle auf uns herunterrauschen, mit immer denselben Teilnehmern und denselben Argumenten, konnte man auch einmal etwas Interessantes erleben. Da hatten sich versammelt: Erhard Eppler, Kurt Biedenkopf, Paul Kirchhof sowie Norbert Blüm, und die Moderatorin konfrontierte diese nun wirklich illustre Runde mit einigen erstaunlichen Informationen. Unter anderem die Mitteilung, dass nach neueren Umfragen 50 Prozent der Deutschen nicht mehr davon überzeugt seien, dass die Demokratie mit den Problemen fertig werden könne, die uns gegenwärtig bedrängen. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung hat ermittelt, dass 26 Prozent der Deutschen der Meinung sind, wir brauchten nur eine Partei und diese Partei müsste die Volksgemeinschaft repräsentieren, und 16 Prozent der Meinung sind, dass wir einen starken Führer brauchen, der die Dinge in die Hand nimmt, um zu regeln, was zu regeln ist.

Wenn man diese Zahlen - bei aller Problematik, die solchen Zahlen innewohnen mag - vergegenwärtigt, dann stellt sich die Frage, ob wir es mit unserer so genannten Vergangenheitsbewältigung richtig gemacht haben. Die Energie, mit der wir uns um diese Vergangenheitsbewältigung bemüht haben - der immer eine bestimmte Deutung dieser Zeit von 1933 bis 1945 und der Bewegung, die sich erstmals am 9. November 1923 erhob und 1933 die Macht eroberte, zugrunde lag - macht diesen Umstand erklärungsbedürftig. Sind wir nicht vielleicht doch, vorsichtig formuliert, von einer etwas zu einseitigen, vielleicht zu ideologisierten und verzerrten Interpretation dieses die gesamte Vergangenheitsbewältigungspolitik begründenden Bildes des Nationalsozialismus ausgegangen.

Am 8. Mai 1985 hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker eine wichtige Rede gehalten, in der er einen solchen, sich dann maßgeblich auswirkenden Versuch einer Deutung unternommen hat. Seine These war, wir müssten von dem Jahr 1933 ausgehen, dort hätte das Unglück begonnen, und von dem was dann geschah, hätte jeder Deutsche wissen können, wenn er denn ein Interesse daran gehabt hätte, es zu wissen. Ich finde, dass diese Interpretation das hervorbrachte, was jetzt dabei herausgekommen ist. Diesen Interpretationsprozessen lag ein bestimmtes Axiom zugrunde, das nun in den genannten Zahlen seinen Niederschlag findet. Wir sind von den Ergebnissen dieser Epoche ausgegangen, d.h. vom Resultat. Wenn man aber vom Ergebnis ausgeht, dann kann es keinen Zweifel daran geben, dass es sich hier um ein in der Geschichte einzigartiges verbrecherisches Regime gehandelt hat, das jeder Mensch, der sich noch einen Rest von Moralität erhalten hat, nur in den heftigsten Worten negieren, verdammen und verfluchen kann. Wer sollte anders darauf reagieren, wenn das gesamte geschichtliche Phänomen, d.h. eine Jahrhunderte währende deutsche, außerordentlich komplexe Geschichte gleichgesetzt wird mit dem Holocaust. Bedeutet Nationalsozialismus Holocaust, dann ist die bisherige orientierende Theorie der gesamten Vergangenheitsbewältigung völlig richtig gewesen und es gibt keine Alternative dazu.

Diese ganze Debatte hat in einem Ausspruch des ehemaligen israelischen Botschafters in Bonn eine mich sehr berührende und bemerkenswerte Erklärung gefunden. Er wurde gefragt, ob er denn nun zu den Deutschen Vertrauen hätte und worin dieses Vertrauen begründet sei. Darauf antwortete dieser ehemalige Botschafter, er habe volles Vertrauen zu den Deutschen, denn es gäbe in der ganzen Weltgeschichte kein Volk, das in dem Holocaust-Mahnmal in Berlin sich ein Denkmal seiner eigenen Schande errichtet hat. Ein Volk, das dazu in der Lage ist, muss tiefgreifend verändert worden sein durch die Kenntnis und Auseinandersetzung mit dieser untilgbaren Schande, denn sonst wäre das unerklärlich. Er sagte, es gäbe kein Beispiel, dass ein Volk ein Denkmal seiner Schande zum ewigen eigenen Gedenken gebaut hätte.

Wenn also 50 Prozent, unterstellen wir das mal als richtig, der Meinung sind, dass die Demokratie nicht mit den Problemen fertig werden könne und wenn wir die ständig wachsende Zahl der Nichtwähler dazunehmen, die gegen 40 Prozent und manchmal darüber hinaus tendiert, kommt man an diesen Tatsachen nicht vorbei. Wie an der Wahlbeteiligung erkennbar ist, verabschiedet sich offensichtlich eine wachsende Zahl von Deutschen sozusagen von dieser Demokratie. Eine Art Exodus ist im Gange. Wenn das der Fall ist, bin ich fast sicher, dass wenn die große Koalition nicht das, was sie die strukturellen Probleme nennt, löst, wir morgen nicht nur eine System- sondern auch eine Demokratiediskussion in unserem Lande bekommen. Und das kann doch nicht das Ergebnis einer jahrzehntelangen Bewältigung dessen sein, was man Vergangenheit nennt. Was hat man dabei falsch gemacht?

Das was ich vorschlage ist, dass wir nicht mit dem Jahre 1933 beginnen. Wenn man mit dem Jahr 1933 beginnt, dann begreift man gar nichts, denn das, was 1933 bis 1945 reale geschichtliche Wirklichkeit wurde, kann man nur zur Kenntnis nehmen, aber daraus lernen kann man eigentlich nichts. Die Voraussetzung, die es uns ermöglichen würde wirklich etwas zu lernen, ist die Beantwortung von zwei Fragen. Erstens: Wie ist das möglich geworden? Was sind die Voraussetzungen gewesen, aufgrund deren 1933 stattfinden konnte? Und zweitens, dass wir, wie es die bisher akzeptierte Interpretation nahe legt, die Frage stellen, ob die, die 1933 Hitler gewählt haben, alles Idioten oder Verbrecher gewesen sind. Entweder Verbrecher, weil sie sich in voller Wahrnehmung und Kenntnis für ein verbrecherisches Regime entschieden und damit selber verbrecherisch gehandelt haben, oder weil sie so dumm waren, dass sie gar nicht gewusst und erkannt haben, was sie da an die Macht brachten. Für die Konsequenzen und deren Beurteilung sind diese schlichten, simplen Fragen von allergrößter Bedeutung. Wenn man der Beantwortung dieser Fragen näher kommen will, dann muss man weiter zurückgehen. Nicht bis 1933, auch nicht bis 1923, nicht einmal bis zur Gründung der Weimarer Republik, sondern der "Urknall", wenn ich dies Bild gebrauchen darf, für die ungeheuerliche Geschichte des 20. Jahrhunderts, ist der I. Weltkrieg.

Wenn man zu einem angemessenen Urteil kommen will, muss man auf diesen I. Weltkrieg zurückgehen. Wir müssen uns erinnern, was durch diesen I. Weltkrieg epochenmachendes bewirkt wurde und geschehen ist. In diesem I. Weltkrieg haben Millionen auf den Schlachtfeldern die reale Erfahrung gemacht, dass in sinnlosen Materialschlachten Hekatomben von Menschen geopfert wurden und die bürgerliche Kultur, ihr Begriff von Humanität, ihre Vorstellung von der Einheit zivilisierter Völker widerlegt wurde und zusammengebrochen ist. Von heute aus gesehen war es ein unvorstellbares sinnloses Sichhinschlachten der führenden europäischen Völker, damals noch Kulturvölker genannt.

Und damit hängt eng die nach wie vor diskutierte Frage, ob die Deutschen wie den II. auch den I. Weltkrieg verursacht hätten, zusammen. Sind die Deutschen auch schuld am I. Weltkrieg gewesen? Die Historiker mögen sich weiter darüber streiten, aber was ich erkennen kann ist, dass Deutschland nur insofern beteiligt war, als es den Österreichern sozusagen freie Hand für Serbien gegeben hat. Aufs Ganze gesehen ist Europa aber eher bewusstlos, ohne Erkenntnis dessen, was sich da vollzog, in diesen Krieg hineingeschlittert. Und dieses Hineinschlittern in diesen Selbstmord Europas, mit all den Folgen, die sich daraus ergeben haben, warf die Frage auf, wie dieser Krieg überhaupt begründet und gerechtfertigt werden konnte.

Dafür muss man noch einen Schritt vor den I. Weltkrieg zurückgehen. Die Begründung, die damals die Westmächte dafür gaben, den I. Weltkrieg zu führen, war, es sei ein Krieg im Namen der Zivilisation gegen die Barbarei. Die Deutschen waren und wurden zu einem barbarischen Volk, zu einer Art Hunnenhorde ernannt. Heute noch kann man in der englischen Boulevardpresse als Namen für die Deutschen "the huns", die Hunnen, lesen. Auf diese Rechtfertigung, eines an sich sinnlosen völkermordenden Krieges mussten die Deutschen mit einer eigenen Rechtfertigungstheorie antworten. Diese Rechtfertigungsversuche fanden ihren glanzvollsten literarischen Ausdruck und Niederschlag in dem Buch von Thomas Mann: "Betrachtungen eines Unpolitischen". Denn die Deutschen haben, nachdem sie aus dem Kreis der zivilisierten Völker verbannt und ausgestoßen wurden, sich selbst zum Volk der Verteidigung der Kultur gegen die Zivilisation ernannt. Der Westen ist Zivilisation und die Deutschen sind Kultur. Seitdem haben wir den, für die ganze deutsche Geschichte und die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts so prägenden Antagonismus von Kultur und Zivilisation.

Das ist eine der Ausgangskonstellationen und die wurde auch befestigt und nahm damit konkrete politische geschichtsprägende Form an in dem, was wir den Versailler Vertrag nennen. Ohne den Versailler Vertrag, der sicher ein Diktat war, denn die deutschen Delegierten hatten ja nichts zu verhandeln und mitzureden, sondern nur gehorsam entgegenzunehmen, was man ihnen mitzuteilen hatte, ohne den wäre das furchtbare Geschehen in den 30- und 40iger Jahren in Deutschland nicht denkbar gewesen. Der Westen hat sich nicht zu einem konsequenten Diktat entschließen können, entweder Deutschland so zu schwächen, dass es keine Chance gehabt hätte für die nächsten 100 Jahre wieder emporzukommen, oder einen wirklichen Friedensvertrag zu schließen und Deutschland, nachdem der Krieg beendet und Sieger und Verlierer festgestellt waren, wieder als voll geachtetes integriertes Glied der Völkergemeinschaft aufzunehmen, wie das zum europäischen Kriegs- und Völkerrecht gehört. Aber das Diktat von Versailles hat beides nicht gemacht, sondern Deutschland mit der Abtrennung von Schlesien und Saarland usw. und vor allem mit Reparationen belegt, die, wenn sie hätten voll bezahlt werden müssen, bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts gelaufen wären. Aber dies ist nicht entscheidend, obwohl das ein Tatbestand ist, auf den oft hingewiesen wird, aber entscheidend für unser Problem und seine Genese ist etwas ganz anderes gewesen, nämlich der Paragraph des Versailler Vertrages, der die Deutschen dazu verurteilte, die moralische Schuld an diesem I. Weltkrieg auf sich zu nehmen. D.h. das Diktat wurde begründet mit dem Schuldiggewordensein. Ohne diesen Paragraphen hätte es die exorbitante Entwicklung in der Weimarer Republik bis zum Nationalismus überhaupt nicht gegeben.

Wie wichtig das ist, kann man an der Konstellation von Weimar sehen. Ernst Nolte hat jetzt in einem sehr interessanten Buch, wie ich glaube, mit sehr guten Gründen, die These vertreten, dass das Schicksalsjahr der Weimarer Republik das Jahr 1923 gewesen ist. Da war ja nicht nur der Marsch auf die Feldherrnhalle, da war auch der Versuch der Abspaltung Bayerns vom Reich, die Errichtung der ersten Volksfrontregierung in Sachsen und der Einmarsch ins Ruhrgebiet mit den ungeheueren ökonomischen Folgen.

Aber dieses Jahr 1923 zeigt zum ersten Mal wie ein Fanal, was in dieser Republik von Weimar angelegt war, nämlich das Auseinanderfallen und Auseinanderbrechen, denn während der Weimarer Republik war dieses Volk politisch und ideologisch in vier Fraktionen gespalten: die sozialistisch-kommunistische, die nationalistisch-nazistische, die Monarchie und die Republikaner. Die vierfache Teilung dieser Republik ist ein ihre ganze Geschichte begleitendes Phänomen gewesen.

Aber man muss auch etwas zur Ehre der Weimarer Republik sagen. Was in Weimar zwischen 1923 und 1929, also bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise erreicht wurde, ist im Grunde genommen eine unglaubliche Erfolgsgeschichte gewesen. Vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise war Deutschland damals nach den Vereinigten Staaten die zweitgrößte Handels- und Industriemacht der Welt. Die Einkommen hatten längst wieder das Niveau des Jahres 1913 erreicht und der preußische Kultusminister Becker hatte eine großartige Bildungs- und Universitätsreform durchgeführt. Was heute Universitäts- und Bildungsreform genannt wird, mit dieser großartigen Leistung von Becker, die weit über Europa hinaus vorbildlich war, zu vergleichen, würde eine Satire ergeben.

Und dann kam in der Tat die Weltwirtschaftskrise, deren Phänomene bekannt sind. Einige Fakten sind aber entscheidend gewesen, wie die Enteignung des deutschen Mittelstandes. Bereits bei Aristoteles steht, dass eine Demokratie nur funktionieren kann, wenn es eine starke Mitte gibt. Starke Mitte heißt bei Aristoteles, dass Reichtum und Armut relativ gleich verteilt sind. Die Zerstörung der Mitte ist die gefährlichste Voraussetzung für die Zerstörung einer Demokratie, wir werden später noch darauf zurückkommen.

Dazu kam dann noch die bürgerkriegsähnliche Situation, die sich nicht nur latent, sondern sinnfällig herausgebildet hatte. Links marschierten die Kommunisten, rechts die Nazis und in der Mitte der Staat, vertreten durch die Polizei, die nur noch die Aufgabe hatte, die beiden auseinander zu halten, damit die nicht aufeinander losgingen. Zertrümmerung der Mitte, tödliche Umklammerung von Rechts und Links und die Weltwirtschaftskrise. Eine Verelendung von Millionen Menschen, die nicht vergleichbar ist mit dem, was heute Hartz-IV-Empfänger erleben. Familien mussten damals zum Teil mit 17 Mark eine ganze Woche leben und das in einer Demokratie, die nicht mehr imstande war, eine regierungsfähige Mehrheit zu bilden. In den 14 Jahren gab es 21 Regierungswechsel, d.h. das Parlament konnte keine handlungsfähige, regierungsfähige Mehrheit mehr zustande bringen.

Wenn man sich allein diese wenigen Punkte vor Augen führt, dann kann man doch nur feststellen, dass die Deutschen damals von der Demokratie nicht frohlockend und jubelnd Abschied genommen haben, sondern es war doch die nackte Verzweiflung darüber, dass diese Demokratie nicht imstande war, die elementaren und vitalen Lebens- und Überlebensprobleme des Volkes zu lösen. Verzweiflung war es! Was sollten sie denn wählen? Wenn der Mittelstand die Kommunisten gewählt hätte, dann hätte er das Schicksal vor sich gehabt, das die Sowjetunion diesem Mittelstand bis zu den Bauern bereitet hat, die Liquidation. Ernst Nolte hat daraus geschlossen, vielleicht etwas übertrieben, dass der ganze Nationalsozialismus eine Antwort auf die kommunistische Terrorherrschaft dargestellt hat, aber das war doch die reale Perspektive, die damals der deutsche Mittelstand, die Handwerker und die Bauern zu erwarten hatten.

In Stalins Russland sind doch über 14 Millionen so genannte "Kulaken" umgebracht worden. Der gesamte Mittelstand ist doch liquidiert worden. Wie könnte man von diesem Teil des Volkes dann noch erwarten kommunistisch zu werden? Es blieb ihnen ja, solange sie überhaupt noch wählen konnten, gar nichts anderes übrig, als den Teil zu wählen, den sie für eine Gegenkraft hielten und von dem sie glauben konnten, dass er sie vor dem Schicksal, das in Russland der Mittelstand und die Bürger erlitten hatten, verschonte. Und die einzige Kraft, die da überhaupt in Frage kam, waren die Nationalsozialisten.

Und nun muss man ein Zwischenkapitel einschieben, weil man in diesem Zusammenhang doch sehr genau unterscheiden muss. Die heute ständig gemachte Unterstellung ist, dass die, die sich 1933 für Hitler entschieden haben, sich damit auch bewusst für den imperialistisch-expansiven Krieg, für die Judenvernichtung und für alles das, was heute in der resultatorientierten Betrachtung als die Essenz des Nationalsozialismus dargestellt wird, entschieden hätten. Wenn man aber die Reden Hitlers liest, und dieses Phänomen allein aufgrund einer gründlichen Lektüre versucht verständlich zu machen, dann kommt man zu erstaunlichen Ergebnissen. Da kommt ein Mann aus der Vorstadt Wiens nach Deutschland und hat als einzige Waffe nur das Wort zur Verfügung. Da jagt dieser Mann in dem alten Maybach, manchmal auch in einem klapprigen Flugzeug, jahrelang von Stadt zu Stadt und Dorf zu Dorf und redet und redet, das Bild des Trommlers, und schafft sich damit die Zustimmung und die Macht.

Und wenn man so eine Rede von vor 1933 liest, dann stellt man fest, der Mann hat nicht wie ein normaler Politiker in einer Demokratie geredet. Der hat nicht von Steuern geredet, nicht von Renten oder von irgendeiner sozialtechnischen Maßnahme, sondern dieser Mann hat in seinen Reden einen Mythos geschaffen.

Der erste und entscheidende Satz war immer: "Als ich als Soldat im I. Weltkrieg ..." Das war der Mythos, da steht aus den Gräbern des Krieges der einfache Soldat auf, um die aufgrund der Dolchstoßlegende gedemütigte, ihrer Ehre beraubte deutsche Armee zu rehabilitieren. Das ging schon vorher los, denn er kam immer eine Stunde zu spät, ganz raffiniert, die Spannung wuchs immer mehr, immer wieder ging einer vor die Tür "ist er schon da" nein, er kommt gleich - aber dann nach der Stunde kam er. Und dann der Badenweiler Marsch und als die Erregung und die Spannung auf dem Höhepunkt war, hörten sie mit sonorer Stimme: "Als ich als Soldat des I. Weltkrieges..." Das ist ein Mythos! Er hat etwas Unglaubliches gemacht. Er hat diesen gedrückten, verzweifelten, gedemütigten Deutschen einen Glauben eingehaucht. Er hat ihnen einen neuen Glauben und damit den Willen zur Selbstbehauptung zurückgegeben. Wenn man sich die Reden so ansieht, dann waren das quasi-religiöse Erweckungsreden, die an die Emotionen, an die Herzen rührten, von einem Mann, der bereit war, die Menschen aus dem Dunkel ihres Alltags und ihrer Verzweiflung in einen helleren und lichteren Tag zu führen.

Und nach 1933, wovon hat er denn da geredet? Nicht von der Judenvernichtung, nicht vom Eroberungskrieg gegen Russland, nicht von Weltherrschaftsaspirationen, die er nachher tatsächlich hatte, sondern was er den Deutschen verkündet hat war, dass er dieses Volk wieder als ein geachtetes Glied in den Kreis der Nationen zurückführen will. Er hat eine sittliche Erneuerung versprochen.

Der berühmte katholische Systematiker Michael Schmaus hat damals die Katholiken aufgefordert, sich an dieser Bewegung der sittlichen Erneuerung Deutschlands zu beteiligen, von den Protestanten ganz zu schweigen. Von Treue, von Familie, von der Lösung aller Not hat Hitler gesprochen und dann legte er los. In den ersten Jahren schien er alle Probleme, an denen die Weimarer Republik gescheitert war, zu lösen. Und dann 1936 die Olympiade. Die Welt kam und feierte Hitler und sein Reich. Churchill erklärte: Gottes Segen dem Volk, dem in einer solchen Situation wie den Deutschen ein Retter wie Hitler gesandt wird.

Kann man denn das verschweigen? Kann man so tun als ob das alles nicht gewesen ist?

Es gab zwar einen jungen amerikanischen Schriftsteller, der zur selben Zeit in Berlin war, der die ganze inszenierte Natur und die Doppelbödigkeit erkannt hat. Aber die Welt feierte Hitler und was er verkündete: den Frieden!

Ein durchgehendes Motiv war, er wolle den Frieden bringen. Es ist nicht zu leugnen, die Deutschen haben nicht den antisemitischen, rassistischen Hitlerismus gewählt, sondern sie haben eine national-konservative Revolution gewählt. Wenn man sich die Frage stellt, warum die Konservativen sich dann relativ bald und schnell mit Hitler arrangieren konnten, dann hängt es damit zusammen, dass er alles das vertrat, was Konservative damals auch vertreten haben. Sie haben sich in ihm wiedererkannt. Aber die, die eigentlich die Natur dieser Bewegung und dieses Mannes hätten erkennen müssen, haben es nicht getan. Herr von Papen glaubte, er könne einen Hitler einbinden, ihn sozusagen als Trommler benutzen, der die Massen hinter die Politik bringt, die Herr von Papen machen wollte. Aber wie ist das tatsächliche Verhältnis des Nationalsozialismus zum Konservativismus gewesen? In seinem bedeutenden frühen Buch über Gesellschaft und Demokratie in Deutschland untersucht Dahrendorf dieses Phänomen und kommt zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass das, was dieses Reich, genauer dieser Führer nach dem Ritterschlag durch Hindenburg tatsächlich gemacht hat, war, mit allen Konsequenzen den Konservativismus zu bekämpfen und auszuschalten. Denn die Voraussetzung für die Organisation eines totalitären Staates ist, dass der Mensch aus allen Strukturen, Bindungen, Loyalitäten und Treueverhältnissen herausgelöst wird, also das, was Nietzsche eine atomistische Revolution genannt hat. Die Voraussetzung des totalitären Zugriffs war die Atomisierung, d.h. die radikale Vereinzelung des Menschen, der in seiner Vereinzelung haltlos und voller Angst reif war für das, was man den "Zugriff" nannte. Und das hat er ja fantastisch organisiert. In einem ganzen Netz von Organisationen wurde vom 4. bis zum 60. Lebensjahr jeder Deutsche erfasst. Was heißt denn erfasst? Er wurde in den Griff genommen und in diese totalitäre Volkseinheit und -gemeinschaft, wie sie Hitler vorschwebte, eingebunden und integriert.

Als dann tatsächlich die ganze Kraft und alle Ressourcen in den Dienst der Vorbereitung und der Mobilisierung des Krieges gestellt wurden, war es zu spät. Das Ziel, das Hitler wirklich verfolgt und gemeint hat und die Überzeugungen, mit denen er das deutsche Volk für sich gewonnen hat, sind zwei verschiedene Stiefel. Die national-völkische Revolution ist eine Sache, aber das, was man den Hitlerismus nennen kann, was heute als die ideologische Essenz des Nationalsozialismus bezeichnet wird, ist ein authentisches Eigenprodukt von Hitler gewesen. Es ist eigentlich Hitlerismus und die Rassenlehre, hinter der sich nichts anderes verbirgt, als das, was er praktizierte, eine Art Sozialdarwinismus. Ein Teil seiner Rassenlehre war der Antisemitismus. Der rassistische Antisemitismus von Hitler hat mit dem Antijudaismus in der christlichen Geschichte nur wenig zu tun und es wäre ein eigenes Thema, den Unterschied zwischen dem christlichen Antijudaismus und dem rassistisch begründeten Antisemitismus von Hitler herauszuarbeiten.

Die Konzeption und Planung des Expansions- und Eroberungskrieges ging von der These "Volk ohne Raum" aus, siehe dazu auch das Buch von Hans Grimm "Volk ohne Raum". Alle waren überzeugt, dass uns elementare Ressourcen zum Überleben fehlten. Dies alles ist Hitlerismus und wurde zur Überzeugung einer Reihe von spezifischen Organisationen, an der Spitze die SS. Durch seinen rassistisch begründeten Antisemitismus war Hitler der Meinung, dass die Geschichte ein ewig währender Kampf ist, in dem die Starken die Schwachen besiegen, und dass sich in diesem ewigen Kampf nur starke Völker behaupten können und starke Völker seien möglichst reinrassige Völker. Das Überleben der Menschheit, so seine Wahnvorstellung, hängt dann von dem Grad der Reinrassigkeit der Völker ab und der Zerstörer dieser Reinrassigkeit und damit der Zerstörer der Menschheit, der wie ein Krebsgeschwür die Völker und Kulturen zerstört, war für ihn der Jude. So wie in "Mein Kampf" der ungeheuerliche Satz steht: "Ihn zu bekämpfen ist ein Auftrag, wer das tut, vollzieht ein Werk des Herrn." Ein ungeheuerlicher Satz, der von dem, was das Volk meinte und glaubte, so weit entfernt war wie nur irgendetwas. Für uns heute ist es unbegreiflich, dass dieser Mann sich angemaßt hat, Millionen Menschen zu einem industriell fabrizierten Tod zu verurteilen. Mit den Kategorien der abendländischen politischen Kultur, der politischen Philosophie und der Rechtskultur betrachtet, ist es ein unverstellbares Verbrechen. Wenn man aber die Dinge so sieht, wie Hitler sie offenbar gesehen hat, war dieser Mann der Meinung, mit der Ausrottung des Judentums ein Werk des Herrn und etwas Gutes zu tun. D.h. in unserer heutigen Sprache, er hatte eben andere Werte, und der Wert, dem er folgte, schrieb ihm eben diese Handlung vor. Er hat es guten Gewissens und wir müssen annehmen auch guten Glaubens getan. Wenn wir aber das ins Auge fassen, dann müssen wir sagen, dass der Nationalsozialismus, genauer der Hitlerismus, in seiner Tiefendimension nicht nur ein revolutionäres Ereignis in der deutschen Geschichte, oder der modernen Demokratie ist, sondern dass er die gesamte abendländische antike biblische aufgeklärte Kultur in ihren tiefsten Grundlagen und ihrem Kern zerstören wollte. Und dieser Mann hatte Erfolg, man fasst es nicht, aber wann war Europa jemals so geeinigt wie unter diesem Mann, der von Sizilien bis zum Nordkap herrschte. Wenn ich recht sehe, hat das vor ihm keiner in der europäischen Geschichte zustande gebracht.

Obwohl ich versucht habe, diese Komponente in wenigen Worten zu umreißen, muss ich, gefragt wie das möglich war, offen gestehen, dass es mir letztlich unbegreiflich bleibt. Wir haben das, was da in diesem Willen der Zerstörung aller sittlichen, rechtlichen, moralischen, religiösen und christlichen Grundlagen an fanatisiertem Zerstörungswillen so erfolgreich frei gesetzt wurde, bis heute nicht verstanden und ich glaube, dass in Deutschland keiner auf die Frage, wie das möglich sein konnte, eine Antwort hat. Wir haben es hier offenbar mit einer Dimension zu tun, die die Kategorien, die dem Historiker, dem Politologen, dem Soziologen und Psychologen zur Verfügung stehen, überschreitet, aber ich vermute, dass die tiefste Dimension eine quasi-religiöse gewesen ist. So wie ja auch die Wahrheit verlangt zu sagen, dass die Deutschen Hitler geglaubt haben und viele ihm gefolgt sind, wie einem Retter, wie einer Figur, die Romano Guardini einen Heilsbringer genannt hat. Aber was war die tiefste Dimension dessen, was der Mann zustande gebracht hat? Er hat den aus der Entchristlichung Deutschlands seit Mitte des 19. Jahrhunderts freigesetzten anonymen, vagen und schweifenden religiösen Energien, von denen dieses Volk wie vielleicht nur noch das russische erfasst ist, zum Ausdruck verholfen und sie in dem quasi-rituellen Geschehen der Parteitage, u.a. in Nürnberg, zu einer Gestalt gebracht. Dieses Phänomen ist ein Ritus, der Zehntausende wie ein Mann total eingeschmolzen hat in dieses große Kollektiv, und das, was sich abspielte, war die "Liturgeia" dieser Art von Kollektiv. So wie auch die tiefste Wurzel dieses unbegreiflichen Hasses gegen das Judentum, wenn man es überhaupt verstehen will, nur heilsgeschichtlich so verstehen kann, dass er wollte, dass die Deutschen das auserwählte Volk seien, das sie aber nicht sein konnten, solange es noch ein anderes gab. Also haben wir es im Nationalsozialismus letztlich mit dem ersten großen nachmodernen postchristlichen Phänomen, einer neuen heidnischen Religion, oder Pseudoreligion zu tun, die zu erfassen und zu beschreiben uns im Grunde genommen bis heute die Kategorien fehlen.

So könnte man fortfahren, und es würde immer aufregender, je mehr man sich darauf einlässt. Eine moralische Auseinandersetzung und Verurteilung ist mit allem Vorbehalt, ob man mit moralischen Kategorien überhaupt etwas erfassen kann, unfähig zu erklären, dass das geschehen konnte, was ich immer als eine Tragödie empfunden habe - als die Tragödie Deutschlands. Aber man hätte sich keiner moralischen Kategorien bedienen müssen, denn das, was bei diesem Unternehmen Hitlers herausgekommen ist, ist in fast allen Punkten das Gegenteil dessen, was er gewollt hat. Er hat nicht die Deutschen zur Herrschaft gebracht, sondern er hat das Reich zertrümmert und in Elend und Verzweiflung zurückgelassen. Er wollte den Bolschewismus eindämmen und zurückdrängen und hat ihn mitten nach Europa gebracht. So könnte man fortfahren. In jedem Punkt hat ihn die Geschichte widerlegt. D.h. es ist keine Frage von Moral, es ist eine Frage der nüchternen Wahrnehmung dessen, was sich in diesem Umschlag des Gewollten in sein Gegenteil in der Realität vollzogen hat.

Danach haben wir die Republik im Rückgriff auf die Werte und die Ideologien des 19. Jahrhunderts wieder aufgebaut. Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland hat die Verfassung der Weimarer Republik wesentlich korrigiert. Dieses Grundgesetz ist in seinem Selbstverständnis im Unterschied zu der Weimarer Verfassung auf Werte gegründet. Es gibt die 5 Prozent Klausel und das Bundesverfassungsgericht, das die Gesetze des Parlaments auf Verfassungskonformität überprüft. Aber im Kern ist es eine Wiederbelebung der besten deutschen liberalen Traditionen des 19. Jahrhunderts, also restaurativ. Lange Jahre schien dies zu dem großen Erfolg der Bundesrepublik Deutschland beizutragen, denn die Deutschen haben selten in ihrer Geschichte eine so friedliche, so glückliche, so durch Wohlstand, Sicherheit und emanzipatorische Freiheitsmöglichkeiten bestimmte Geschichtsepoche gehabt, wie unter diesem Grundgesetz. In diesem Prozess haben sich nun, ohne auf Einzelheiten eingehen zu können, die tragenden Ideologien durch die geschichtliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte bis in die Gegenwart im Grunde genommen verflüchtigt. Was heute an die Stelle tritt, sind Ideologiegemische. Man mischt alles durcheinander. D.h. ein ideologisch oder geistig identifizierbares Profil hat niemand mehr und damit haben sich die Ideologien erledigt.

Aber damit stellt sich auch die Frage, was ist denn nun der geistige, Marxisten würden sagen Unterbau dieser Republik gewesen, so wie er sich jetzt in der Verflüchtigung der profilstarken Ideologien herausgestellt hat. Da muss man feststellen, dass die letzte Ideologie, die übrig geblieben ist, der Antifaschismus ist. Parteiübergreifend, kirchenübergreifend sind sich alle Herrschenden und Etablierten im Antifaschismus einig. So wie Joschka Fischer, als er von einem französischen Philosophen gefragt wurde, was das geistige Fundament dieser Republik ist, als Antwort gab: Der Holocaust. Aus der Täterkultur wurde eine Sühnekultur, der Holocaust soll das Fundament sein. Es ist ein zweiter Vortrag, die Frage zu stellen, was daraus wird, aber das Thema dieses Vortrages ist die Untersuchung der weltgeschichtlichen Bedeutung des Phänomens, das am 9. November 1923 sein Haupt erhob und auffällig wurde.

Das Neueste, und da kann man nur staunend vor der Ironie der Geschichte stehen, ist, dass diese Konstellation, die zum Nationalsozialismus geführt hat, heute in einem weltweiten Maßstab wiederkehrt. Die Renaissance des Islam wiederholt die Kriegserklärung an den Westen, in anderer Tonart, aber in der Spitze des Angriffs genauso wie Hitler. Der führende Theoretiker des Selbstmordattentätertums, ein Ägypter, wurde zu dem, was er wurde, in Amerika. Und die Theorie des radikalen, extremen politisierten Flügels des Islam entwickelte er unter dem Eindruck der Dekadenz in Amerika. Was ihm angesichts der Dekadenz dieses Liberalismus aufging, erfüllte ihn mit einem solchen Schrecken und Ekel - in Deutschland hätte er davon auch genug feststellen können - dass er zum Theoretiker dieses radikalen Flügels des Islam wurde. Es kehrt alles wieder, der Rassismus gegen die weiße Rasse, der Antisemitismus, der Antiimperialismus und der Kampf gegen den Dollarimperialismus - alles wie gehabt. Manche sagen, das seien ja nur die wenigen Radikalen. Man erinnere sich, Hitler war das 7. Mitglied nach dem I. Weltkrieg in der NSDAP und Mao trat als 11. Mitglied der Partei in Shanghai bei. In solchen Bewegungen mit unendlich vielen Nuancen und Schattierungen setzt sich erfahrungsgemäß immer der radikalste und konsequenteste Flügel durch.

Heute wird der Westen in einer vergleichbaren Weise fast mit den gleichen Inhalten herausgefordert wie damals durch den Nationalsozialismus. Die entscheidende Frage ist, ob die Moderne dieser Herausforderung auf längere Sicht standhalten kann, denn was war seinem eigenen Begriff nach der Nationalsozialismus? Er war das Paradoxon einer modernen und archaischen Bewegung zugleich. Archaisch, weil er auf vorgeschichtliche Zustände mit dem Willen, Naturgesetze zu vollziehen, zurückgegangen ist, und modern, weil er sich aller neuen technischen Mittel der Moderne bediente. Er war modern und antimodern zugleich. Aber seine Zielrichtung war der Kampf um die Überwindung der Moderne mit ihrem Kern von Aufklärungsphilosophie, auf deren Basis wir heute stehen. In großen Teilen der islamischen Welt wird Hitler ganz anders gesehen und beurteilt, als wir das tun. Es würde mich nicht wundern, wenn in einigen Jahrzehnten auch Monumente zu seinem Gedenken errichtet würden. Wir müssen endlich zur Kenntnis nehmen, dass die islamische Welt unsere eingewöhnten herrschenden Zeitgeistdogmen in keiner Weise teilt. Die Kernfrage aber ist, ob wir aus der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus gelernt haben, was wir hätten lernen können, dass nämlich die Moderne aus sich selbst die Kräfte entbindet und produziert, die sich mit dem Willen zur Destruktion gegen sie wenden. Und was sich in diesen, die Moderne destruieren wollenden Kräften meldet, ist das, was die Moderne den sozialen, religiösen und sittlichen Traditionen der Völker antut. Je universaler der Anspruch der Moderne auf Exklusivität und absolute Geltung in der ganzen Welt erhoben wird, um so mehr Gegenkräfte werden gezeugt und genährt, die sich zerstörerisch gegen sie wenden.

Das erste Mal, und da liegt die weltgeschichtliche Bedeutung des Nationalsozialismus, wurde der Konflikt zwischen partikularen Kulturen und universaler Weltgesellschaft, also zwischen Universalität und Partikularität, ausgetragen. Es ist der Urkonflikt zwischen Moderne und Tradition, zwischen Herkunft und Zukunft, wie wir das auch immer bestimmen mögen. Die philosophische Herausforderung ist, nach einer Möglichkeit zu suchen, beides zu versöhnen oder wenigstens zu erreichen, dass beides koexistenzfähig wird und sich nicht wechselseitig zerstört. Das bedeutet für die islamische Welt, dass sie den Weg in die Moderne antreten muss, ohne ihre Traditionen, ihre Herkunftsreligion und alles was daranhängt, zu verlieren. Für den Westen, und exponiert Deutschland, hängt alles davon ab, ob es uns gelingt, eine existenzermöglichende Formel des Ausgleichs zwischen Tradition, Geschichte und technisch-wissenschaftlicher Ökonomie, zwischen Kultur und Ökonomie, zwischen dem Partikularen und dem Universalen zu finden. Wenn das nicht gelingt, dann wird sich der Prozess immer mehr dem angleichen, was wir Deutsche in dieser Weise als einziges Volk im 20. Jahrhundert durchgemacht haben.

Die Koexistenzformel heute heißt Dialog. Wir sind der Meinung, dass wir alle diese Probleme durch Dialog lösen können. Aber man muss auch fähig sein, einen Dialog zu führen. Es genügt nicht der Wille zum Dialog, man muss eine Position und begründete Überzeugungen haben, um sich mit anderen Überzeugungen überhaupt auseinander setzen zu können. Wenn man selbst keine hat, und an Stelle von gegründeten verbindlichen Überzeugungen nur Toleranz, Toleranz sagt, sagt man gar nichts.

Ganz konkret: Was könnte denn ein durch die emanzipatorisch entwickelte Schule hindurchgegangener junger Deutscher einem jungen Türken zu sagen haben, der tief verankert ist in seinem islamischen Glauben und voller Stolz auf die Größe der eigenen Nation, der weiß, was man tut und was man lässt, und welche Folgen das eine und das andere hat. Was für eine Art Dialog käme da wohl zu Stande?

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